Shafak Der Architekt des Sultans
1. Auflage, neue Ausgabe 2015
ISBN: 978-3-0369-9301-0
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 656 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-0369-9301-0
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Elif Shafak, in Straßburg geboren, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihre Werke wurden in über fünfzig Sprachen übersetzt. Die preisgekrönte Autorin von siebzehn Büchern, darunter 'Die vierzig Geheimnisse der Liebe' (2013), 'Ehre' (2014) und 'Der Geruch des Paradieses' (2016), schreibt auf Türkisch und Englisch. Mit ihren Artikeln und Auftritten wurde sie zum viel beachteten Sprachrohr für Gleichberechtigung und freiheitliche Werte zunächst in der Türkei, später in ganz Europa. Elif Shafak lebt in London. www.elifshafak.com
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Vor dem Meister
Der Prophet Jakob hatte zwölf Söhne, der Prophet Jesus zwölf Apostel. Der Prophet Joseph, dessen Geschichte in der zwölften Sure des Korans erzählt wird, war das Lieblingskind seines Vaters. Zwölf Laibe legten die Juden auf den Schaubrottisch. Zwölf goldene Löwen bewachten Salomons Thron. Sechs Stufen führten zu diesem Thron, und da jeder Aufstieg auch einen Abstieg bedeutete, waren es zugleich sechs nach unten führende Stufen, zwölf insgesamt. Zwölf Religionen gab es im Land Hindustan. Gemäß der Schia folgten zwölf Imame auf den Propheten Mohammed. Zwölf Sterne zierten Marias Krone. Und ein Junge namens Jahan hatte kaum sein zwölftes Lebensjahr vollendet, als er zum ersten Mal Istanbul sah.
Er war dünn, braungebrannt, rastlos wie ein Fisch in der Strömung und eher klein für sein Alter. Als versuchte er, die mangelnde Körpergröße auszugleichen, wuchs seine schwarze Mähne senkrecht in die Höhe und saß ihm auf dem Kopf wie ein Wesen mit eigenem Leben. Wer ihn erblickte, sah zuerst seine Haare. Dann die Ohren, jedes groß wie eine Männerfaust. Doch seine Mutter sagte immer, eines Tages würden sich die Mädchen verzaubern lassen von seinem strahlenden Lächeln und dem Grübchen in seiner linken Wange, das der Delle glich, die der Daumen des Bäckers im weichen Teig hinterließ. Das hatte sie gesagt, und das glaubte er.
Rosarote Lippen, seidig schimmerndes Haar, die Taille schmaler als ein Weidenast. Flink wie eine Gazelle, stark wie ein Ochse, gesegnet mit der Stimme einer Nachtigall. Mit dieser Stimme würde sie ihren Kindern Schlaflieder vorsingen, sie würde sie jedoch niemals für leeres Geschwätz benutzen oder um sich gegen ihren Mann aufzulehnen. Eine solche Braut hätte seine Mutter für ihn gewollt, wäre sie noch am Leben gewesen. Doch sie war tot – gestorben an der Schwermut, hatten die Ärzte gesagt. Jahan aber wusste, dass es die Schläge gewesen waren, die ihr sein brutaler Stiefvater, der zufälligerweise auch sein Onkel war, täglich versetzt hatte. Bei ihrem Begräbnis hatte sich der Mann die Seele aus dem Leib geweint, als wäre ein anderer an ihrem frühen Tod schuld gewesen. Seither hatte Jahan ihn aus tiefstem Herzen gehasst. Als er an Bord des Schiffs gegangen war, tat es ihm leid, die Heimat zu verlassen, ohne die Mutter gerächt zu haben. Doch ihm war klar gewesen, dass, wäre er geblieben, entweder er seinen Onkel oder sein Onkel ihn getötet hätte. Wahrscheinlich Letzteres, denn er war noch sehr jung und nicht stark genug. Wenn die Zeit gekommen war, würde er zurückkehren und Vergeltung üben. Und seine Liebste finden. Vierzig Tage und vierzig Nächte lang würden sie Hochzeit feiern, sich mit Zuckerwerk vollstopfen und immer nur lachen. Ihrer ersten Tochter würde er den Namen seiner Mutter geben. Von diesem Traum erzählte er keinem.
Als sich die Karavelle dem Hafen näherte, erspähte der Junge zahlreiche Vögel aller Arten: Möwen, Flussuferläufer, Brachvögel, Sperlinge, Häher und Elstern – eine mit einem billigen funkelnden Schmuckstück im Schnabel. Einige besonders mutige oder besonders dumme ließen sich auf den Segeln nieder, viel zu nah bei den Menschen. Die Luft roch anders als zu Hause, fremd und faulig.
Nach der wochenlangen Fahrt auf dem offenen Meer wirkte sich der Anblick der Stadt seltsam auf Jahans Vorstellungskraft aus, besonders an einem so dunstigen Tag. Er starrte auf den grauen Streifen vor sich, wo das Wasser an die Küste schwappte, und nahm nicht mehr wahr, ob das Schiff auf Istanbul zusegelte oder sich entfernte. Je länger er starrte, umso mehr erschien ihm das Land wie eine Fortsetzung des Meers, wie eine zerfließende, schwankende, schwindelerregende, sich ständig verändernde Stadt hoch oben auf den Wellenkämmen. Das war im Großen und Ganzen sein erster Eindruck von Istanbul, ein Eindruck, der sich, was er nicht wissen konnte, auch nach einem ganzen dort verbrachten Leben nicht ändern sollte.
Langsam ging der Junge über das Deck. Die Matrosen waren beschäftigt und nahmen es kaum zur Kenntnis, wenn er ihnen im Weg stand. Schließlich gelangte er zum ersten Mal auf seiner Reise an die Spitze des Bugs. Er ignorierte den Wind in seinem Gesicht und starrte blinzelnd in das Herz von Istanbul, konnte es aber noch nicht richtig sehen. Doch dann löste sich der Dunst nach und nach auf, als hätte jemand einen Vorhang zurückgezogen, und strahlend hell und mit scharfen Umrissen öffnete sich die Stadt seinem Blick – Licht und Schatten, Kuppen und Abhänge. Auf und ab erstreckte sie sich über die stellenweise mit Zypressenwäldchen bewachsenen Hügel wie ein einziger wuchernder Widerspruch, verleugnete sich mit jedem Schritt, wechselte mit jedem Viertel den Charakter, liebevoll und gleichzeitig herzlos. Istanbul verteilte großzügig und widerrief sein Geschenk im selben Atemzug. Eine Stadt, so groß, dass sie sich nicht nur nach rechts und links ausdehnte, sondern auch nach oben hin, zum Firmament, als wäre ihr Hunger nicht zu stillen. Und doch war sie bezaubernd. Obwohl er ihre Sitten und Gebräuche nicht kannte, spürte der Junge, dass man ihrem Zauber verfallen konnte.
Er lief in den Laderaum. Der Elefant hockte aufgedunsen und apathisch in seinem Holzverschlag.
»Du hast es geschafft. Jetzt bist du da!« Beim letzten Wort zitterte Jahans Stimme ein wenig, weil er nicht wusste, was für ein Ort das war, dieses »da«. Aber das machte nichts. Was immer das Tier in diesem neuen Reich erwartete, konnte nicht schlimmer sein als die eben durchlittene Reise.
Chota saß so reglos da, dass der Junge einen Moment lang befürchtete, das Herz des Tiers hätte aufgehört zu schlagen. Als er näher heranging und leisen, flatternden Atem vernahm, war er ein wenig erleichtert. Aber die Augen des Elefanten hatten ihren Glanz verloren, seine Haut den Schimmer. Seit einem Tag hatte er nicht gefressen und nicht geschlafen. In seinem Maul war eine furchterregende Beule zu sehen, und der Rüssel war deutlich geschwollen. Jahan goss dem Tier Wasser über den Kopf, fühlte sich aber nicht wohl dabei. Wieder war es nur Meerwasser, das auf Chotas Haut Salzflecken hinterließ, die bestimmt schrecklich brannten.
»Im Palast wasche ich dich mit Süßwasser«, versprach er.
Sanft und sehr sorgfältig rieb er die Schwellungen mit Kurkuma ein. Chota war abgemagert. Die letzten Etappen der Reise waren besonders hart für ihn gewesen.
»Die Sultanin wird ganz vernarrt in dich sein. Chota, der Liebling der Konkubinen!«, sagte Jahan. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. »Und wenn sie nicht gut zu dir sind, kannst du ja weglaufen, und ich komme mit.«
Er hätte weiter so auf das Tier eingeredet, wären nicht plötzlich auf der Treppe Schritte ertönt. Ein Matrose stürmte in den Laderaum und brüllte: »He, du sollst zum Kapitän kommen, und zwar sofort!«
Kurz darauf stand Jahan vor der Tür des Kapitäns, hinter der lautes Husten und Spucken zu hören war. Er hatte Angst vor dem Mann, versuchte sie aber zu verbergen. Captain Gareth wurde von allen Gavur Garret, der ungläubige Garreth, genannt oder auch Delibash Reis, Kapitän Wirrkopf. Er konnte mit einem Matrosen scherzen und lachen und im nächsten Augenblick sein Schwert ziehen und den Mann in tausend Stücke hacken. Jahan hatte es selbst erlebt.
Dieser Seebär, der aus einer englischen Küstenstadt stammte und nichts mehr liebte als ein großes Stück geschmorten Schweinebauch und einen ordentlichen Schluck Ale, hatte aus Gründen, die keiner genau kannte, seine Landsleute verraten und war mit wertvollem Geheimwissen zur osmanischen Flotte übergelaufen. Seine Furchtlosigkeit hatte ihm hohes Ansehen im Palast und ein eigenes Geschwader eingebracht. Dass er christliche Schiffe mit einer Grausamkeit angriff und plünderte, die kein osmanischer Seefahrer je an den Tag gelegt hatte, war von Sultan Süleyman mit größter Erheiterung aufgenommen worden. Der Sultan gewährte ihm Schutz, aber er traute ihm nicht. Ein Mann, der seine eigenen Gefährten hinterrücks erstach, würde keinem je ein wahrer Freund sein. Das Tier, das die Hand gebissen hatte, von der es jahrelang gefüttert worden war, und das jetzt vor der Tür stand, würde sich auch ins Fleisch dessen verbeißen, der es hereinließ.
Als der Junge eintrat, saß der Kapitän an seinem Schreibtisch. Er sah weniger zottelig aus als sonst. Sein Bart – gewaschen, gekämmt und mit Öl eingerieben – war anders als in den Wochen zuvor nicht mehr dunkelbraun, sondern heller, fast gelblich. Vom linken Ohr bis zum Mundwinkel verlief eine Narbe, die den Mund wie eine Verlängerung der Wunde aussehen ließ. Sein erdbraunes Alltagshemd hatte er ausgezogen und ein weites, helles übergestreift; dazu trug er einen kamelhaarfarbenen Schalwar. Um den Hals hing ihm eine Schnur mit türkisblauen Perlen gegen den bösen Blick. Auf dem Schreibtisch befanden sich eine heruntergebrannte Kerze und ein Buch, in das er die unterwegs gemachte Beute eintrug. Er bedeckte die Seite, was aber völlig unnötig war, denn Jahan konnte nicht lesen. Die Buchstaben waren nicht seine Freunde; Formen und Bilder dagegen schon. Schlamm, Lehm, Ziegen- und Kalbshaut, alles, worauf sich zeichnen ließ. Die ganze Fahrt über hatte er Skizzen vom Schiff und von den Matrosen gemacht.
»Siehst du, ich halte mein Wort. Ich habe dich heil hierhergebracht«, sagte Captain Gareth und spuckte kraftvoll aus.
»Der Elefant ist krank«, erwiderte der Junge und lugte zu dem Napf hin, in dem der Auswurf gelandet war. »Ich durfte ihn ja nicht aus dem Verschlag holen.«
»Wenn er erst wieder festen Boden unter den Beinen hat, wird er im Nu...