E-Book, Deutsch, Band 4, 71 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken
Shepherd Der Gesang der Sirenen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7394-3012-6
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, Band 4, 71 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken
ISBN: 978-3-7394-3012-6
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Dort zwischen der Gischt entdeckte ich ein bleiches weibliches Gesicht. Die Sirene hatte leuchtende Augen, so grün wie Algen. Ihr Haar war rot wie Blut. Es floss in sanften Wellen über ihren Körper, der nackt war, soweit ich es erkennen konnte. Sie war eine Schönheit und es fiel mir leicht, zu verstehen, warum Männer ihr und ihrem Gesang verfielen. Doch wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass sie spitze Zähne in ihrem Mund trug. Zähne, die zum Töten gemacht waren. An ihrem Hals hatte sie Kiemen wie ein Fisch. Sicher war ihr Körper kalt wie der Tod. Die Sirenen waren seelenlos, deshalb vermochten sie nicht mehr, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Sie hatten geliebt und waren so bitter enttäuscht worden. Das Leben hatte für sie nur Leid übrig gehabt und nun waren sie in ewiger Rachsucht gefangen. »Stürze dich in die Fluten und schenke der Meerhexe deine Seele. Sie wird dir im Gegenzug die Gunst des ewigen Lebens erweisen.«
Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Tochter und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Der Gesang der Sirenen
Irgendwo in den Sieben Weltmeeren, Dezember 1593
Die Wellen knallten gegen den Rumpf des Schiffes. Die Gischt schlug beinahe so hoch, dass ich sie abbekommen hätte. Seitdem wir Hamburg verlassen hatten, herrschte starker Wellengang. Gleich, ob in der Nacht oder am Tag, schaukelte die Fahrender Tod übers Meer. Das Zwischendeck, in welches wir uns zum Schlafen zurückzogen, war nicht einmal einen Meter fünfzig hoch, sodass wir uns nur gebückt fortbewegen konnten. Wenn das Schiff jedoch hin und her geworfen wurde, war es ein Ding der Unmöglichkeit, sich dabei nicht den Kopf zu stoßen. Deshalb war ich dazu übergegangen, auf meinen Händen und Knien zu krabbeln – zur Belustigung der Seemänner. Sie beäugten mich nach wie vor voller Skepsis, jedoch sprach keiner von ihnen mit mir. Ich nahm an, dass Kapitän Blaubart es ihnen verboten hatte. Er ließ sich nur selten blicken. Die meiste Zeit verbrachte er in seiner Kajüte, die in zwei Räume unterteilt war. Zum einen gab es dort das Speisezimmer, in dem Dorian und ich jeden Abend mit dem Kapitän speisten, zum anderen seinen privaten Raum, in dem er ein richtiges Bett stehen hatte. An unserem ersten Abend hatte er mir großzügigerweise angeboten, es mit mir zu teilen. Als er meinen entsetzten Gesichtsausdruck gesehen hatte, war er in Gelächter ausgebrochen. »Was für eine Unschuld«, hatte er gehöhnt und sich gar nicht mehr einkriegen können. Dorian ging auch tagsüber häufig zum Kapitän. Ich wusste nicht, was sie miteinander besprachen, aber es schien wichtig zu sein. Wenn er nicht dort war, half er auf dem Schiff aus. Seine übermenschliche Stärke ermöglichte es ihm, die härtesten Arbeiten mühelos auszuführen. Die meiste Zeit verbrachte ich allein. Das Schiff, welches mich zu Beginn durch seine immense Größe beeindruckt hatte, erschien mir mehr und mehr wie ein Käfig. Ich lief über das Oberdeck, von der einen zur anderen Seite – tagein, tagaus. Rund um uns herum befand sich nichts als der blaue Ozean. Es war nirgendwo ein Stückchen Land zu sehen, geschweige denn ein Turm, der bis in den Himmel reichte. Die weißen Segel blähten sich im Wind und trieben uns vorwärts, jedoch ohne dass ich hätte erkennen können, dass wir unserem Ziel auch nur ein Stückchen näher gekommen wären. Wie sollte man auch etwas finden, wenn man nicht wusste, wo man danach suchen musste? Unser Unterfangen erschien mir immer sinnloser. Einen Turm mitten in den Sieben Weltmeeren zu suchen, war schwieriger, als eine Nadel in einem Heuhaufen zu finden. Wenn nicht gar unmöglich. Maria Harms hatte gesagt, dass die Erdenmutter all jenen helfe, die ihre Hilfe verdienten. Was, wenn Dorian und ich ihrer nicht würdig waren? Was, wenn das Böse bereits in meiner Seele wohnte und sich langsam immer mehr ausbreitete? Was, wenn wir etwas getan hatten, das den Lauf des Schicksals beeinflusste? Vielleicht hätten wir mit dem gestohlenen Pferd bis nach Hamburg reiten müssen, um so früher den Hafen zu erreichen und ein anderes Schiff als die Fahrender Tod besteigen zu können. Ich hatte alles richtig machen wollen und am Ende hatte ich vielleicht gerade damit alles ruiniert. Ich begegnete der Welt mit Güte und sie strafte mich mit einem Hindernis nach dem nächsten.
In der siebten Nacht unserer Reise hörte ich zum ersten Mal die Melodie, die ich nicht nachahmen könnte und trotzdem niemals vergessen würde. Es war ein Klagelied – schwer und voller Trauer. Das Lied bahnte sich einen Weg von meinen Ohren direkt zu meinem Herzen. Ich hatte keine Ahnung, wo es herkam. Mitten in der Nacht schreckte ich davon aus dem Schlaf. Nicht nur ich, auch Dorian neben mir riss die Augen auf. Aber anders als mich schien ihn diese Melodie unerträglich zu quälen. Er presste sich die Hände auf die Ohren und begann, sich zu winden, als hätte er die schlimmsten Schmerzen. Besorgt versuchte ich, ihn an mich zu ziehen. »Was hast du, mein Liebling?« Doch er stieß mich von sich. »Geh weg von mir«, brüllte er panisch. Ich sah die Angst in seinen geweiteten Augen und wusste nicht, was ich tun sollte. Da hörte ich, dass auch die Seemänner zu wimmern begonnen hatten. Vielleicht konnte mir einer von ihnen erklären, was hier los war. Schnell verließ ich die winzige Kammer, die Dorian und ich uns teilten, um wenigstens etwas Privatsphäre zu haben, und kroch auf allen vieren in den Hauptraum des Zwischendecks, wo die Seemänner für gewöhnlich in ihren Hängematten schliefen. Sie liefen aufgeregt durcheinander, als würden sie nach etwas suchen. »Was ist hier los?«, rief ich ängstlich, ohne Beachtung zu finden. Die seltsame Melodie war immer noch zu hören, doch ich konnte nicht verstehen, warum die Männer so eigenartig auf sie reagierten. Es war doch nur ein Lied. Schließlich fanden die Seeleute, wonach sie gesucht hatten, und reichten eine Kiste herum, aus der sich jeder etwas herausnahm und dann in beide Ohren stopfte. Erst jetzt nahmen sie Notiz von mir. Einer von ihnen kam mit der Kiste in den Händen auf mich zu. Darin befanden sich Wachskugeln. Er sah mir eindringlich in die Augen und sprach sehr laut, da er seine eigene Stimme mit dem Wachs in den Ohren nicht mehr hören konnte. »Bring deinem Mann zwei davon! Der Gesang der Sirenen macht ihn sonst wahnsinnig!« Sirenen? Ich hatte bisher nur in meinen Büchern von diesen Fabelwesen gelesen. Man sagte, es seien Frauen mit Fischschwänzen, die vorbeifahrende Schiffer mit ihrem betörenden Gesang in den Tod lockten. Eilig nahm ich mir zwei der Wachskugeln und rannte damit zu Dorian, der mittlerweile kniete und sich wie im Wahn vor und zurück wiegte. »Dorian«, rief ich laut seinen Namen, woraufhin sein Kopf nach oben schnellte und er mich anstarrte. Seine Augen waren nicht mehr dunkelbraun, sondern rot wie Feuer. Ich erschrak im ersten Moment und taumelte ein paar Schritte rückwärts. Dann erinnerte ich mich daran, dass dies der Mann war, den ich liebte. Es gab keinen Grund, sich vor ihm zu fürchten. Ich ging auf ihn zu und hielt meinen Arm ausgestreckt in seine Richtung. Die beiden Wachskugeln lagen auf meiner Handfläche. »Steck dir das Wachs in die Ohren«, sagte ich laut und deutlich, um den Gesang zu übertönen. »Dann hörst du die Sirenen nicht mehr!« Hastig griff Dorian nach den Kugeln und steckte sie sich in die Ohren, wie es zuvor die Seemänner getan hatten. Bei ihnen hatte sich unmittelbar danach Linderung eingestellt, doch Dorian verkrampfte sich noch genauso wie zuvor. Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Mein vampirisches Gehör ist besser als das der Menschen«, erwiderte er mit gepeinigtem Gesichtsausdruck. »Du darfst nicht bei mir sein! Geh und schließ mich in der Kammer ein.« Ich zögerte, weil ich ihn nicht allein lassen wollte, doch seine glutroten Augen waren ein deutliches Signal dafür, dass er dabei war, die Kontrolle über sich zu verlieren. Ich hatte ihn so noch nie erlebt. Selbst als er von meinem Blut getrunken hatte, damit er stark genug war, um die Männer seines Vaters zu töten, hatte sich lediglich ein roter Ring um seine Pupille gebildet. Nun war die gesamte Iris rot. Es tat mir im Herzen weh, die Tür zuzuziehen und den Schlüssel im Schloss umzudrehen, aber es musste sein. Da ich nicht wusste, wo ich nun hingehen sollte, kletterte ich durch den Aufstieg auf das Oberdeck. Ein eisiger Wind schlug mir entgegen, der die Haare in alle Himmelsrichtungen riss. Ich schlang die Arme um den Körper, um mich vor der Kälte zu schützen. Wie nicht anders zu erwarten, lag der obere Teil des Schiffes verlassen da. Normalerweise hielten immer einige Männer Wache, doch der Gesang der Sirenen zwang sie alle unter Deck. In der Kajüte des Kapitäns brannte das flackernde Licht einer Öllampe. Vermutlich hatte er sich schon Wachs in seine Ohren gesteckt und war deshalb nun genauso taub wie der Rest seiner Männer. Die Fahrender Tod schwankte, als ich mich zu der Reling vortastete. Wenn ich schon als Frau immun gegen den Zauber der Melodie war, wollte ich wenigstens einen Blick auf diese weiblichen Sagengestalten werfen. Das Meer sah bei Nacht fast schwarz aus. Am Horizont war kaum zu erkennen, wo das Wasser endete und der Himmel begann. Obwohl es beinahe den ganzen Tag geregnet und gestürmt hatte, war es eine sternenklare Nacht. Der starke Wind musste die Wolken vertrieben haben, gleichzeitig trug er den Gesang der Sirenen über viele Kilometer mit sich. Am Firmament thronte ein beinahe voller Mond und schickte seinen weißen Schein über den Ozean. Ich ließ meinen Blick über die Wellen wandern und versuchte, irgendwo in der Dunkelheit einen Felsen auszumachen, auf dem sich die Sirenen befinden könnten. Meine Augen suchten nach einem Geschöpf, das den Kopf zwischen den Wellen hervorstreckte. »Mary«, hörte ich plötzlich jemanden meinen Namen rufen. Instinktiv fuhr ich herum, da ich dachte, dass es einer der Seemänner gewesen sein musste. Doch das Deck war so verlassen, wie ich es betreten hatte. Zudem hatte sich die Stimme nicht männlich angehört und sie war aus der anderen Richtung gekommen – aus dem Meer. »Mary, hier unten«, rief es erneut. Langsam drehte ich mich wieder zur Reling um und sah hinab zum Rumpf des Schiffes. Dort, zwischen der Gischt, entdeckte ich ein bleiches weibliches Gesicht. Die Sirene hatte leuchtende Augen, so grün wie Algen. Ihr Haar war rot wie Blut. Es floss in sanften Wellen über ihren Körper, der nackt war,...