E-Book, Deutsch, Band 22, 120 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken
Shepherd Der Märchenschreiber
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7521-3188-8
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, Band 22, 120 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken
ISBN: 978-3-7521-3188-8
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Als Jacob auf dem Spiegelball von der bösen Königin in ihren Spiegel gerissen wird, ahnt er nicht, dass dies der Beginn einer ganz besonderen Reise ist. Wundersame Orte offenbaren sich ihm in den Sieben Weltmeeren, einer fantastischer als der andere. Dort begegnet er nicht nur Meerjungfrauen, Feen, Piraten und sprechenden Tieren, sondern auch sich selbst. Nur wenn er sich den Entscheidungen seiner Vergangenheit stellt, kann er deren Folgen in der Zukunft erkennen. Um die Gegenwart zu verändern, muss er sich seine Fehler eingestehen. Wie weit würde er gehen, um jene zu retten, die er liebt?
Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren. 2019 gewann Maya Shepherd mit den Grimm-Chroniken den Skoutz-Award in der Kategorie "Fantasy".
Autoren/Hrsg.
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Spiegelverkehrt
Sonntag, 28. Oktober 2012 0.45 Uhr Bonn, Schlosskommende Ramersdorf, Ballsaal Jacob wusste nicht, was er erwartet hatte. Es war für gewöhnliche Menschen unvorstellbar, einen Spiegel durchschreiten zu können, aber da er nicht gewöhnlich war, schloss er das Unmögliche nicht aus. Dennoch überraschte ihn, was er auf der anderen Seite des Spiegels vorfand: nicht etwa ein bodenloses Loch, in das er fiel, oder ein schwarzes Nichts, sondern denselben Ballsaal, den er verlassen hatte. Der Schritt durch den Spiegel glich eher einem Stolpern als einem Sturz. Verwirrt ließ er seinen Blick über die wandhohen Vorhänge, die funkelnden Kronleuchter und die Rosengestecke an den Wänden gleiten. Aber nicht nur die Einrichtung war identisch, sondern auch die Personen, die sich darin aufhielten. Auf der Tanzfläche waren die blutigen Fußspuren zu erkennen, welche von dem wilden Tanz stammten, den die Geister der toten Mädchen mit Elisabeth geführt hatten. Sie verharrten dort noch immer mit ihren durchscheinenden Körpern und hatten in ihrer Mitte die längst verstorbene Hexe Baba Zima gefangen. Auch Maggy, die ihn mit großen, ungläubigen Augen anstarrte, war anwesend. Ebenso wie der Teufel mit seinem blauen Bart, der sich als Einziger nicht über Jacobs rasche Rückkehr zu wundern schien. Seinen Mund umspielte ein wissendes, allzeit amüsiertes Grinsen. Beim nächsten Atemzug löste Elisabeth ihre Hand von Jacobs Unterarm. Blutige Striemen blieben dort zurück, wo sich ihre Nägel in seine Haut gegraben hatten. Er konnte nicht sehen, ob sie von der Situation genauso überrascht war wie er, weil sie sogleich die Flucht ergriff. Mit ihren zertanzten Schuhen taumelte sie das Podest hinab, auf dem sich der unvollendete Spiegel befand, und humpelte durch den Saal auf den Ausgang zu. Ehe sie diesen jedoch erreichen konnte, schlug ein gewaltiger Windstoß die Türen zu und schloss sie in dem Saal ein. Schockiert fuhr Elisabeth herum und starrte Maggy an, die ihre Hände erhoben hatte. Ihre Finger zuckten noch leicht von dem gewirkten Zauber. »Du entkommst mir nicht«, zischte Maggy und ließ einen Dornenregen auf die falsche Königin niederprasseln. Diese riss kreischend ihre Arme über den Kopf und schaffte es erst, einen Schutzschild zu beschwören, nachdem die ersten Dornen bereits ihre Haut aufgerissen hatten. Blut tropfte auf den Boden, das ihre Magie verstärken würde. Aber seltsamerweise holte sie nicht zum Gegenangriff aus, sondern duckte sich nur verängstigt. Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte Jacob bestürzt. Er konnte es nicht benennen, aber alles fühlte sich falsch an – wie vertauscht. Elisabeth, die sich krümmte, und Maggy, die austeilte. Er löste sich aus seiner Starre und stieg das Podest hinab, als Elisabeth den Raum mit ihrer Blutmagie erbeben ließ. Mit den Händen fing er seinen Sturz ab. Auch Maggy war gezwungen, ihren Dornenzauber einzustellen. Während der Boden unter ihren Füßen schwankte, bemerkte sie Jacob und ein ungewohntes Funkeln erhellte ihre braunen Augen. Sie riss ihren Arm hoch und ballte die Hand zur Faust. Im selben Augenblick bekam Jacob keine Luft mehr und sackte keuchend zusammen. Was geht hier vor sich?, schoss es ihm verzweifelt durch den Kopf, als sich alles um ihn herum zu drehen begann. Das Beben hörte sofort auf. »Tu ihm nichts«, bat eine Stimme, die Jacob unter die Haut ging. Mary. Zwar beherrschte Elisabeth ihren Körper und somit auch ihre Stimme, dennoch war es dieser nie gelungen, Marys Mitgefühl und ihre Herzenswärme nachzuahmen. Doch nun war beides unverkennbar, dazu gesellten sich Angst und Sorge. Wie war das möglich? »Verrate mir, wo die letzten drei Splitter sind, und niemandem wird etwas geschehen«, entgegnete Maggy derart berechnend und kalt, dass Jacob sie kaum wiedererkannte. Auch der magische Griff um seinen Hals lockerte sich nicht, sondern schien sich immer fester darum zu schließen. Röchelnd rang er nach Atem, seine Sicht verschwamm und das Blut rauschte in seinen Ohren. Er konnte kaum noch klar denken. Warum griff Maggy ihn an und was wollte sie mit den Spiegelsplittern? Gemeinsam hatten sie doch alles versucht, um zu verhindern, dass es Elisabeth gelang, den zweiten schwarzen Spiegel zu vollenden. In was für einer verrückten Version der Realität war er hier nur gelandet? Ein paar quälende Atemzüge verstrichen, ehe Elisabeth, die wie Mary klang, resignierte. »Ich sage es dir«, gab sie sich geschlagen. Plötzlich strömte wieder Luft in Jacobs Lungen. So viel, dass er husten musste. Seine Kehle brannte und nur langsam ließ das Schwindelgefühl nach. Als er sich auf die Seite rollte, schien sich immer noch der Boden unter ihm zu bewegen. »Warum …«, krächzte er und verschluckte sich dabei prustend. »Warum tust du das?«, wollte er verständnislos von Maggy wissen. Diese schien seine Frage zu erstaunen, denn sie musterte ihn argwöhnisch und ohne jede Spur von Mitleid. »Wir brauchen den Spiegel, um die wahre Königin zu befreien.« Wir? Die wahre Königin? Ihre Worte ergaben für Jacob keinen Sinn. Es war doch Elisabeth, die den zweiten Spiegel unbedingt erschaffen wollte! Er wusste zwar nicht genau, was sie damit vorhatte, aber er war sich gewiss, dass es schlimme Folgen für sie alle haben würde. Maggy und er hatten ihre Leben riskiert, um das zu verhindern. Wie konnte es dann sein, dass sie nun nach den Splittern suchte? »Mary?«, stammelte er ahnungslos. »Natürlich«, bestätigte Maggy ihm und sorgte dadurch für noch mehr Kopfschmerzen bei Jacob. Wenn Mary sich immer noch in einem Spiegel befand, musste es Elisabeth sein, die sich gerade um ihn gesorgt hatte. Warum sollte sie das tun? Zittrig setzte er sich auf und blickte zu der einzigen Königin, die anwesend war. Blonde Strähnen hingen ihr zerzaust in das hübsche Gesicht. Entsetzen zeichnete ihre Miene, aber ihre Augen waren erfüllt von Zuneigung. Das war nicht Elisabeth! Ausgeschlossen! »Es tut mir leid, Jacob«, sprach diese ihn nun an und klang dabei völlig ungewohnt. Es war lediglich eine feine Nuance, die nur für jemanden zu hören war, der Mary gut und lange kannte, aber sie machte den Unterschied. Maggy hatte recht: Das war nicht Mary. Aber sie klang auch nicht wie die böse Königin. Vielleicht lag es daran, dass sie in diesem Augenblick nicht böse war. »Ich kann nicht zulassen, dass sie dir etwas antut. Du bist mein einziger Freund.« Zum ersten Mal wirkte Elisabeth aufrichtig – aufrichtig besorgt. »NEIN«, kreischte auf einmal Baba Zima, die sich in der Gewalt der rot gekleideten Tänzerinnen befand. »Mary darf den Spiegel nicht verlassen!« Furcht schwang in ihrer krächzenden Stimme mit. Nun verstand Jacob gar nichts mehr. Er wusste nur eins: Dies war nicht die Realität, die er kannte. Es war nur eine verdrehte Version davon, in der alles spiegelverkehrt zu sein schien. Die Bösen waren plötzlich gut und demnach mussten die Guten wohl böse sein, sofern sich das eine überhaupt klar vom anderen trennen ließ. Wie sagte der Teufel immer so schön? Das Böse ist Ansichtssache. Sein Blick glitt zu ebenjenem, der sich erstaunlich ruhig verhielt, beinahe wie ein teilnahmsloser Zuschauer. War auch er ein anderer? Zumindest schien er der Einzige zu sein, der verstand, was vor sich ging. »Auf welcher Seite stehst du?«, fuhr Jacob ihn an. Auch wenn er es nicht gern zugab, musste er sich eingestehen, dass der Teufel ihm in der Vergangenheit schon öfter zu Hilfe geeilt war. Er hatte Wilhelm ein Herz geschenkt, wohl gemerkt, nachdem er es ihm zu einer anderen Zeit gestohlen hatte. Ihm verdankten sie alle, dass die Geschichte eine Chance auf ein neues Ende erhalten hatte, auch wenn Jacob dafür mit seinem Verstand einen hohen Preis hatte zahlen müssen. Der Teufel war es auch gewesen, der die toten Mädchen auf den Ball geführt hatte. Ohne sie wäre es Elisabeth vermutlich gelungen, sowohl Maggy als auch Jacob zu töten. Ein gewisses Bündnis ließ sich in diesen Handlungen erkennen, wenn es auch nur darauf beruhte, dass sie in Elisabeth einen gemeinsamen Feind hatten. Galt das auch für diese Realität? Das Grinsen des Teufels wurde breiter. »Endlich begreifst du«, verkündete er, als habe er nur darauf gewartet. »Du musst verstehen, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließen. Jede Entscheidung, die wir treffen, hat Folgen. Wenn wir nur einen anderen Weg gewählt hätten, könnte die Geschichte eine ganz andere sein.« Er sah ihn scharf an. »DU könntest jemand anderes sein.« Jacob schüttelte verärgert den Kopf. Wie üblich sprach der Teufel in Rätseln, anstatt sich klar auszudrücken. »Was soll ich tun? Wie komme ich zurück?« »Die Vergangenheit ist vergangen. Wir können sie nicht ändern, sondern nur aus ihr für die Zukunft lernen«, erwiderte dieser scheinheilig in dem Wissen, dass auch diese Antwort Jacob nicht helfen, sondern nur verwirren würde. Ehe Jacob genauer nachhaken konnte, ging Maggy dazwischen. »Ich habe keine Ahnung, worüber ihr da redet, aber es interessiert mich auch nicht.« Sie fixierte Elisabeth mit ungeduldigem Blick. »Verrate mir den ersten Namen oder Jacob wird erfahren, was es bedeutet, auf der falschen Seite zu stehen.« ...