E-Book, Deutsch, Band 20, 212 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken
Shepherd Der Spiegelball
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7521-0423-3
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, Band 20, 212 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken
ISBN: 978-3-7521-0423-3
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Die Türme von Schloss Drachenburg ragten in den sternenlosen Himmel. Rein äußerlich mochte es dasselbe prachtvolle Gebäude wie in Engelland sein, aber die Präsenz des Bösen war mit jeder Faser zu spüren. Es war ein düsterer Ort, getränkt mit Tränen und Blut, erfüllt von qualvollen Schreien und pulsierend vor Schmerz. War es die Drachenburg, die das Böse anzog, oder war sie es, welche die Menschen erst böse machte? Nach der Nacht des Spiegelballs würde nichts mehr sein wie zuvor, denn manchmal entschieden nur Sekunden über Leben und Tod.
Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren. 2019 gewann Maya Shepherd mit den Grimm-Chroniken den Skoutz-Award in der Kategorie "Fantasy".
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Die Ewigkeit
Samstag, 27. Oktober 2012 7.00 Uhr Königswinter, Finsterwald, Friedhof des versunkenen Mondes Der Wind fuhr durch die gefrorenen Blätter der Trauerweide und ließ sie winterlich knistern. Es war kalt geworden in dieser Nacht. Raureif bedeckte die Wiesen und Nebel war heraufgezogen, nachdem der Regen aufgehört hatte. Ein einsamer Schwan zog seine Bahnen über den See, von dessen Ufer Lavena ihn betrachtete. Sein weißes Gefieder erstrahlte in ihrem Glanz und leuchtete wie ein Stern, der vom Himmel gefallen war. Sie hatte die Arme um ihren Körper geschlungen, obwohl sie weder Kälte noch Wärme empfand. Es war mehr das Bedürfnis, sich selbst zusammenzuhalten, weil sie fürchtete, sonst wie Glas zu zerspringen – hin- und hergerissen zwischen dem, was sie wollte, und dem, was sie tun musste. Seit Minuten, vielleicht waren es auch Stunden, blickte sie auf das trübe Wasser und versuchte sich dazu zu bringen, hineinzusteigen. Sie stellte sich vor, wie ihre Schultern bedeckt wurden und sie untertauchte, ohne ein letztes Mal Luft zu holen. Immer tiefer würde sie hinabsinken, bis sie den Grund des Sees erreichte. Dort unten gäbe es keine Geräusche mehr, weder das Wispern der Bäume noch den Ruf des Uhus. In vollkommener Stille wäre sie allein mit ihren Gedanken und könnte in einen tiefen Traum gleiten. Über ihr würden sich die Seerosenblätter schließen und sie vor der Welt verbergen. Das Schicksal würde seinen Lauf nehmen, ohne dass sie länger ein Teil davon wäre. Der Frieden, welcher sie erwartete, war verlockend. Schon einmal hatte sie für eine sehr lange Zeit geschlafen und war frei von Sorgen gewesen. Damals hatte sie keine Wahl gehabt. Aber wenn sie nun ging, dann geschah es in dem Wissen, dass sie den Menschen, den sie am meisten auf der Welt liebte, in der Finsternis zurücklassen musste. Arian stand gegen die Sicherheit von unzähligen Menschen, deren Leben von den Toten bedroht wurde, solange Lavenas Licht die Unterwelt erhellte. Obwohl seine Seele verloren war, konnte sie den Gedanken nicht ertragen, ihn aufzugeben. Es ging nicht einmal nur um die Menschen dieser Welt, sondern auch um die Bewohner Engellands, die sie als Mond am Himmel brauchten, um aus ihrem zweihundertjährigen Schlaf erwachen zu können. Lavena kannte jeden Einzelnen von ihnen. Sie hatte gesehen, wie Kinder ihren ersten Atemzug nahmen, wusste, welche Lieder ihre Mütter ihnen zum Einschlafen vorsangen, und konnte sich an die Ängste der Männer erinnern, von denen sonst niemand erfahren durfte. Sie waren ihr alle ans Herz gewachsen und sie fühlte sich verantwortlich für sie. Umso schwerer wog die Last in ihrer Brust. Längst hätte sie dem Spuk ein Ende bereiten können, stattdessen harrte sie am Ufer aus und ließ die Zeit verstreichen, ohne etwas zu unternehmen. Sobald die Sonne ihre ersten goldenen Strahlen den Horizont emporschickte, wusste Lavena, dass es zu spät war. Tiefe Schuld und großes Bedauern quälten sie, als sie sich von einem auf den anderen Augenblick in der Unterwelt wiederfand. Sie hatte versagt und nur ihretwegen waren die Toten nun munterer denn je. Während sie zuvor noch träge und ziellos durch die Weiten geirrt waren, hatte die Nacht ihre Lebensgeister geweckt. Ihr Gang war nun aufrecht, geradezu strotzend vor Kraft. Die wenigen Stunden hatten ausgereicht, um ihnen zu demonstrieren, über welche Macht sie jetzt verfügten. Als umherwandelnde Tote konnte sie nichts und niemand mehr verletzen, dafür besaßen sie aber die Energie, um Einfluss auf die Lebenden zu nehmen. Sie waren ihnen in jeder Hinsicht überlegen und mit diesem Wissen würden sie Entsetzliches anrichten. Lavena war die Einzige, die sie aufhalten konnte. Noch etwas hatte sich verändert: Die Toten scharten sich um das Licht des Mondmädchens wie Motten. Von allen Seiten drängten sie darauf zu. Jeder wollte in seiner Nähe sein, um nicht wieder in der Dunkelheit zu versinken. Manche streckten sogar die Hände nach ihm aus. Lavena bekam es mit der Angst zu tun und suchte hilflos in der Menge der Gesichter nach einem einzigen. Arian fiel es nicht schwer, sie zu finden. Er zwängte sich grob zwischen den vielen Leibern hindurch, die immer mehr zu werden schienen. Schließlich gelang es ihm, Lavena an sich zu ziehen und ihr Licht mit seinem Körper abzuschirmen, als er die Arme um sie schloss. Das löste Unwillen bei den anderen aus, die lautstark protestierten und ebenfalls versuchten, Lavena anzufassen. Sie glaubten, dass sie ein Anrecht auf das Wunder hätten, welches sie alle erweckt hatte. Mit seinen Ellbogen, Fäusten und Tritten kämpfte Arian ihnen einen Weg aus der Masse. Dabei riss er einer Fremden den Umhang von den Schultern und warf ihn Lavena über, sodass ihr silberner Schein unter dem Stoff verborgen wurde. Sogleich fiel es den Toten schwerer, sie unter den vielen zu erkennen. Arian und sie hielten sich an den Händen und flüchteten in die graue Wüste. Asche wirbelte unter ihren nackten Füßen auf und sie mussten aufpassen, dass sie nicht über die Risse im Boden stolperten, durch die das lodernde Feuer der Hölle zu erkennen war. Einige der anderen hasteten ihnen nach, aber schon bald verloren sie sich in der Trostlosigkeit, die ihnen von allen Seiten begegnete. Es gab keinen Ort, an dem Lavena und Arian sich hätten verstecken können, deshalb liefen sie so lange, bis weit und breit kein anderer mehr zu sehen war. Erst dann wagten sie, anzuhalten, und fielen einander vor Erleichterung in die Arme. Arian schloss seine Hände um Lavenas Gesicht, welches seit jeher für ihn am hellsten strahlte, und legte seine Lippen auf ihre. Obwohl sie den Kuss erwiderte, fühlte er ihren Kummer. Es war ein bittersüßer Geschmack auf seiner Zunge, der ihre Liebe trübte. Besorgt löste er sich von ihr, jedoch nur gerade weit genug, um in ihre silbernen Augen blicken zu können. »Ich lasse nicht zu, dass die anderen dir noch einmal zu nahe kommen«, versprach er ihr, da er glaubte, dass dies der Grund für ihre Trauer war. Er ahnte nicht, welche Sorgen sie wirklich belasteten. Lavena brachte es nicht über sich, ihm die Wahrheit zu sagen, weil sie gerade erst wieder vereint waren. Außerdem sprach er von den Toten, als würde er nicht zu ihnen gehören. Ihr tat das Herz weh, wenn sie daran dachte, dass er schon bald für immer zwischen ihnen ruhen musste. »Es war eine lange Nacht ohne dich«, sagte sie stattdessen und schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »Bist du in den Raum der Wahrheit zurückgekehrt?« Alle Toten erwachten dort wieder zum Leben, wo sie gestorben waren. Bei Lavena war es die Insel Nonnenwerth gewesen. Dort hatte die Sonne sie verbrannt. Bevor sie zum Friedhof des versunkenen Mondes aufgebrochen war, hatte sie Margery und ihre Verbündeten in der Villa am Rheinufer aufgesucht, um sie vor den Geschehnissen in der Unterwelt zu warnen. Alle hatten sie herzlich empfangen, aber zugleich hatte Lavena auch den Riss in ihrer Mitte gespürt. Etwas begann sich zwischen ihnen zu verändern und sie gehörte nicht länger dazu. Vielleicht war sie nie wirklich ein Teil von ihnen gewesen, trotz des Splitters in ihrer Brust. Nun, wo sie diesen verloren hatte, fühlte sie sich nicht leichter, sondern als wäre ihr ein Stück ihres eigenen Herzens entrissen worden. »Ja«, antwortete Arian bedrückt. Auch seine Nacht schien nicht so verlaufen zu sein, wie er es erhofft hatte. »Aber dieser Ort war nicht länger ein Gefängnis für mich. Es war ein schreckliches Gefühl, ihn nun ganz einfach durch eine Tür, die ich zuvor nicht sehen konnte, zu verlassen. Sogar mein toter Körper lag noch auf dem Marmor, wo meine Seele ihm entstiegen ist.« Lavena umschloss seine Hände tröstend mit ihren Fingern. »Was ist danach geschehen?« Arian senkte beschämt den Kopf. »Ich war fest entschlossen, die Königin zu töten. Sie sollte für alles büßen. Das war meine Chance, denn ich wusste, dass sie mir nichts mehr anhaben konnte. Ich war so kurz davor, dass ich ihren Hals bereits zwischen meinen Händen hielt. Wenn ich nur ein bisschen mehr zugedrückt hätte, wäre sie nun genauso tot wie wir.« Obwohl der Plan der Vergessenen Sieben ein anderer gewesen war, nickte Lavena verständnisvoll. Arians Wunsch nach Rache war nachvollziehbar. »Was hat dich davon abgehalten?« »Simonja«, brach es voller Erstaunen aus Arian hervor, als könne er es selbst kaum glauben. »Sie und die anderen haben sich in die Schlosskommende gewagt, um nach mir zu suchen.« Lavena hatte bereits befürchtet, dass Simonja sich in Gefahr begeben würde. Umso deutlicher hatte sie ihr zu erklären versucht, dass es für Arian keine Rettung gab. Er war tot und niemand konnte etwas daran ändern. Aber Simonja hatte es nicht einsehen wollen, vermutlich hatte sie es nicht gekonnt. Auch sie liebte Arian. »Haben sie dich gefunden?« »Ja, sie hatten meinen Körper bei sich.« Sein Blick verschwamm und seine Gedanken glitten zurück in die vergangene Nacht. »In meiner Brust schlägt noch ein Herz.« Diese Neuigkeit schockierte Lavena. »Aber wie ist das möglich? Wie kannst du leben und zugleich hier sein?« »Ich habe den Wolf in mir getötet«, gestand er und fokussierte seine Sicht wieder auf ihr Gesicht. Es klang beinahe wie eine Entschuldigung. »Bedeutet das, dass du als Mensch weiterleben könntest?«, hakte sie nach, um ganz sicher zu sein, dass sie ihn richtig verstand. Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit. Arian teilte ihre Euphorie jedoch nicht. »Selbst wenn, ein Leben ohne dich wäre für mich bedeutungslos«, sagte er in aller Härte und presste voller Verzweiflung seine Stirn gegen ihre. Er liebte sie gegen jede Vernunft....