E-Book, Deutsch, 64 Seiten
Shepherd Kind der Legion
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7546-0528-8
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 64 Seiten
ISBN: 978-3-7546-0528-8
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Jahrzehnte sind vergangen, seit die Erde durch den Dritten Weltkrieg radioaktiv verseucht wurde. Die letzten Überlebenden der Menschheit gehören zur Legion und wohnen in einer unterirdischen Sicherheitszone, in der strenge Gesetze gelten. Es gibt weder Namen noch Individualität - alle Menschen sind gleich. Ein Experiment gibt jedoch Grund zur Hoffnung: Forschern ist es gelungen, ein Biotop in der Wüste anzulegen, das den Bewohnern ein Stück Freiheit und Würde zurückgeben soll. Die junge Legionsführerin A350 gehört zu der Gruppe der Freiwilligen, die beweisen sollen, dass ein Leben außerhalb der Sicherheitszone möglich ist.
Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, zwei Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
BEKENNTNIS
Meine korrekte Bezeichnung lautet A350. Ich bin eine Überlebende der dritten Generation. Meine Hände berühren das glatte Glas, aus dem die Legion zu einem großen Teil erbaut ist. Es ist kalt und steht damit im Kontrast zu der flirrenden Hitze, die außerhalb herrscht. So weit das Auge reicht, nur roter Wüstensand. Die Sonne knallt brennend vom Himmel und lässt die Luft flimmern. Nur ein schwacher Windhauch streicht hin und wieder über die Sandkörner und wirbelt sie auf. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sich anfühlen würde, dort draußen zu stehen, ungeschützt vor der Hitze, und die Luft einzuatmen. Würde sie anders schmecken? Seit ich auf der Welt bin, lebe ich in der Legion. Ich wurde in ihr geboren und ich werde in ihr sterben. Es ist die einzige Chance auf Leben, die der Menschheit geblieben ist. Unsere Vorfahren haben die Erde zerstört, indem sie mit Atombomben aufeinander losgingen. Wie Kinder, die mit Steinen werfen, jagten sie einen Sprengsatz nach dem anderen hoch, ohne die Folgen ihrer Taten zu bedenken. Die gesamte Erdoberfläche ist radioaktiv verseucht. Wenn es die Legion nicht gäbe, wäre ich nie geboren worden. Denn nur hier ist ein Überleben möglich. Um diese Sicherheit zu gewährleisten, gibt es strenge Gesetze. »Es muss unglaublich sein, wenn man hingehen kann, wo immer man möchte, und es keine Mauern gibt, die einen daran hindern«, sagt plötzlich eine männliche Stimme neben mir. Ich wende ihm mein Gesicht zu und verspüre ein Ziehen im Herzen, als ich den sehnsuchtsvollen Blick sehe, mit dem er diese trostlose Landschaft betrachtet. Es ist A399. Er sieht aus wie alle anderen: ein kahler Kopf, lichtblaue Augen und eine Haut, die beinahe so hell ist wie sein weißer Anzug, der ihn als Legionsführer kennzeichnet. Stoffe, die unserer Nahrung beigesetzt sind, sorgen dafür, dass wir alle gleich aussehen. Andersartigkeit führt zu Unruhen und solche sind für ein friedliches Zusammenleben unbedingt zu vermeiden. Ich erkenne ihn dennoch. Selbst mit geschlossenen Augen könnte ich sagen, dass er es ist. Es ist nicht nur seine Stimme, die ihn verrät, sondern noch mehr die Art, wie er die Welt sieht. Schon als wir noch ganz klein waren, wollte er immer mehr. Er konnte nie glauben, dass dieses für uns vorherbestimmte Leben wirklich alles ist. Seine Gedanken sind gefährlich. Vielleicht fühle ich mich gerade deshalb magisch von ihnen angezogen. »Die Schritte, die du dort draußen gehen könntest, wären nur von kurzer Dauer«, erinnere ich ihn nachdrücklich. Die Radioaktivität ist nicht mehr stark genug, um uns sofort zu töten, aber der Tod kommt schleichend. Früher oder später würden unsere Organe versagen. Er verzieht missbilligend den Mund. »Was musst du nur immer so ernst sein, Sternchen?«, fragt er mich tadelnd, aber mit einem verzeihenden Lächeln auf den geschwungenen Lippen. Mein Herz macht einen kleinen, freudigen Sprung. Sternchen. So nennt nur er mich. Wir tragen Nummern anstelle von Namen. Das A vor unserer Identifikationsnummer kennzeichnet uns beide als Legionsführer. Es ist die höchste Klassifizierung, die man erreichen kann. Auf uns lastet nun die Verantwortung für das Leben vieler Hunderter Menschen. Die erste Zahl der Nummer gibt die Generation an, in der wir geboren wurden. Wir entstammen beide der dritten Generation Überlebender und sind somit zwanzig Jahre alt. Die erste Generation hingegen erreicht bald ihr sechzigstes Lebensjahr. Das bedeutet für sie den Abschied. Sie werden uns verlassen, um ihren Platz für nachfolgende Generationen frei zu machen. So ist der Kreislauf des Lebens – auch schon auf der alten Erde. Nur dass wir nichts mehr dem Zufall oder dem Schicksal überlassen, sondern Tod und Geburt steuern. Das macht es einfacher. Berechenbarer. »Ich bin deine Vernunft«, erwidere ich sanft. So war es schon immer zwischen uns: Ich hindere ihn daran, Dinge zu tun, die er später bereuen könnte. Er bringt mich im Gegensatz dazu, etwas zu riskieren. Manchmal muss man das, um weiterzukommen. Vermutlich wäre keiner von uns ohne die Hilfe des anderen jemals Legionsführer geworden. Wir sind ein gutes Team. »Komm, bringen wir es hinter uns«, fordert A399 mich seufzend auf und wendet der Glasfront den Rücken zu. Er spricht von der Versammlung, zu der alle Legionsführer einberufen wurden. Wir haben alle verschiedene Aufgabengebiete, für die wir zuständig sind. Doch mindestens einmal in der Woche kommen wir zusammen, um uns zu beratschlagen. Meistens führt das zu stundenlangen Diskussionen. Ich finde es wichtig, sich die Meinung der anderen anzuhören und gemeinsam die beste Lösung zu finden, immerhin sind wir die Vertreter der letzten Überlebenden. Wir entscheiden für sie. Das sollten wir keineswegs leichtfertig tun. A399 ist von den Sitzungen jedoch eher genervt. Nicht weil er sie für unwichtig erachtet, sondern weil sie ihn enttäuschen. Wenn er könnte, würde er so vieles ändern, doch die Legion lässt ihn nicht. Sie tun seine Vorschläge als sinnlos und waghalsig ab. Er kommt nicht gegen sie an. Selbst wenn ich mich in Abstimmungen auf seine Seite stelle, sind wir nur zwei Stimmen gegen achtzehn andere. A399 wollte Legionsführer werden, um etwas zu verändern, aber es bleibt alles beim Alten. »Sei nicht so negativ«, rate ich ihm. »Vielleicht steht diese Woche etwas Interessantes auf der Tagesordnung.« Er wirft mir einen ungläubigen Blick zu, bevor er mir sarkastisch entgegnet: »So wie letzte Woche, als wir eine halbe Stunde lang darüber diskutiert haben, ob die Schlafzeit der D-Klassifizierten um zehn Minuten gekürzt werden sollte?« Er beginnt, sich in Rage zu reden. »Ist die Arbeit von jemandem, der zehn Minuten länger schläft, wohl qualitativ hochwertiger als die von jemandem, der zehn Minuten weniger schläft und dafür zehn Minuten länger arbeiten kann?« Mit jedem Wort drückt er seine Verachtung aus. Nicht nur Geburt und Tod werden in unserer Zeit geregelt, sondern auch der Schlaf der Menschen. Sensoren in unserem Bett sorgen dafür, dass wir zu einer bestimmten Zeit einschlafen und wieder aufwachen. Ebenso wird unsere Fähigkeit, zu träumen, blockiert. Es ist nicht gut, den Menschen ihre Gedanken zu überlassen. Sie könnten dabei auf dumme Ideen kommen. »Pssst«, mache ich warnend und schaue mich besorgt zu allen Seiten um. Das Licht einer Überwachungskamera blinkt bedrohlich über unseren Köpfen. Zum Glück nimmt sie jedoch keinen Ton auf. Auch A399 richtet nun seine Augen zu der Kamera, jedoch nicht ängstlich, sondern herausfordernd. »Wofür sind wir Menschen, wenn unser Leben nur aus Arbeit und Schlaf besteht?« Seine nächsten Worte sind wieder an mich gerichtet. »Die Menschen der alten Erde hatten auch so etwas wie Freizeit.« Nun bin ich es, die verächtlich schnaubt. »Wir können an unserer jetzigen Situation gut sehen, wohin diese Freizeit geführt hat.« A399 mochte im Bildungsunterricht am liebsten die Geschichte der alten Erde. Er konnte nie genug von den Erzählungen über das damalige Leben und dessen Gebräuche bekommen. Sie sollten uns als Abschreckung dienen, aber ihn animierten sie nur zu weiteren törichten Ideen. »Nicht alles an der alten Erde war schlecht«, widerspricht er mir und redet nun zumindest etwas leiser. »Den Menschen etwas Freiheit zu lassen, bedeutet nicht automatisch, einen Krieg hervorzurufen. Davon abgesehen, dass niemand mehr da ist, mit dem wir einen Krieg führen könnten.« »Wir könnten Krieg untereinander führen«, kontere ich. »Oder gegen die anderen Legionen.« Insgesamt gibt es fünf Sicherheitszonen wie unsere. Sie befinden sich in verschiedenen Himmelsrichtungen. In ihrer Mitte ist die Zentrallegion, von der aus wir unsere Vorgaben erhalten. Es ist jedoch unüblich, zwischen den einzelnen Legionen zu reisen, da es mit einem hohen Risikofaktor verbunden wäre. Deshalb halten wir hauptsächlich digital Kontakt. »Oder unser Leben würde sich zum Besseren wenden«, seufzt er resigniert. Selbst wenn er mich überzeugen könnte, würde das nicht für den Rest der Legionsführer gelten. Die Verzweiflung flackert erneut in seinem Blick auf. Der Anblick schmerzt mich. »Unser Leben ist doch gar nicht so schlecht«, flüstere ich tröstend, als wir vor dem Sitzungssaal ankommen. Wenn wir allein wären, würde ich meine Hand nach ihm ausstrecken und sie nur kurz auf seinem Arm ruhen lassen, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. Aber vor den anderen kann ich das nicht. Ich darf es nicht. Wir sind alle gleich und deshalb ist es uns auch verboten, Beziehungen zu anderen Bewohnern zu pflegen. A399 sollte mir nicht mehr bedeuten als jeder andere. Eilig nehmen wir unsere Sitze in dem großen Raum ein. Wir sind beinahe vollzählig. Zuletzt rauscht einer der ältesten Legionsführer in den Saal: A101. Er gehört der ersten Generation an, die in der Legion geboren wurde. Die Türen schließen sich hinter ihm automatisch. Alles, was hier besprochen wird, ist streng vertraulich und darf unter keinen Umständen zu den anderen Bewohnern der Sicherheitszone gelangen. Es gibt Geheimnisse, die gehütet werden müssen, um den Frieden zu wahren. A101 eröffnet die Sitzung mit unserer üblichen Begrüßungsfloskel: »A101 grüßt die Legion.« »Die Legion grüßt A101«, antworten wir im Chor. Er fährt sich unruhig über seinen kahlen Schädel. Abgesehen von den Falten, die sein Gesicht zeichnen, und den Altersflecken auf seinen Händen, unterscheidet er sich rein äußerlich nicht von A399 oder den anderen männlichen Bewohner der...