E-Book, Deutsch, Band 15, 140 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken
Shepherd Rosenkuss und Dornenkrone
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7394-8277-4
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, Band 15, 140 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken
ISBN: 978-3-7394-8277-4
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren. 2019 gewann Maya Shepherd mit den Grimm-Chroniken den Skoutz-Award in der Kategorie "Fantasy".
Autoren/Hrsg.
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Rosenkuss
Die frühesten Erinnerungen eines Kindes sind nicht konkret, sondern eher von Sinneseindrücken bestimmt: die sanfte Stimme der Mutter, das kitzelnde Gefühl eines Lachens, der süße Plätzchenduft und die Geborgenheit von Armen, die einen in den Schlaf wiegen. Die Tage der Kindheit sollten erfüllt sein von Wärme und Licht.
Rosalies waren tiefschwarz.
Wenn sie an ihre ersten Monate auf dieser Welt zurückdachte, verspürte sie keine Zufriedenheit in ihrem Herzen, sondern hatte einen salzigen Geschmack im Mund.
Tränen sind die einzige Möglichkeit von Babys, um den Menschen in ihrem Umfeld ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Sie weinen nicht nur, wenn sie Hunger haben, sondern auch wenn sie sich nach Nähe sehnen.
Rosalie machte von Anfang an die Erfahrung, dass Tränen unerwünscht waren und nur zu Einsamkeit führten. Immer wenn sie weinte, sperrte man sie in eine dunkle Kiste, die erst geöffnet wurde, wenn sie wieder still war.
Ihre erste Zeit verbrachte sie fast ausschließlich in der Dunkelheit, bis sie in der Lage war, zu begreifen, was von ihr erwartet wurde. Danach weinte sie nie mehr.
Für ein Kind gibt es zu Beginn keinen größeren Helden als Mutter oder Vater. Sie bilden die Achse des Universums und alles scheint sich um sie zu drehen. Jede Handlung ist mit einer Erwartung auf eine Reaktion verknüpft. Sei es, um den Eltern zu gefallen oder die eigenen Grenzen auszutesten. Dabei ist es völlig gleichgültig, wie die Eltern sich verhalten, die uneingeschränkte Liebe ihres Kindes ist ihnen gewiss. Kinder urteilen nicht, denn sie können noch nicht zwischen Richtig und Falsch unterscheiden.
Rosalie hatte weder eine Mutter noch einen Vater. Ihr Universum bestand aus Männern mit bleicher Haut und schwarzer Kleidung, die ihr Essen und Trinken brachten, sie wuschen und anzogen, aber sie niemals in den Arm nahmen oder mit ihr spielten. Sie konnte die Männer nicht auseinanderhalten, sodass sie für eine Weile gar nicht merkte, dass es verschiedene waren. Für sie war es immer derselbe Mann, der nur jeden Tag ein anderes Gesicht trug.
Die meisten Kinder lernen das Sprechen, indem ihre Eltern sich mit ihnen unterhalten, ihnen Geschichten erzählen oder etwas vorsingen.
Rosalie war in Engelland im Jahr 1796 geboren worden. Sobald Vlad Dracul sie als Neugeborenes jedoch mit sich nach Transsilvanien nahm, lag eine Zeitspanne von zweihundert Jahren zwischen ihrer Herkunft und ihrer neuen Heimat.
Zweihundert Jahre, die nicht mehr als ein paar Tage auf einem Schiff bedeuteten, jedoch den Fortschritt der modernen Technik mit sich brachten. Das ermöglichte, dass ihre Sprachentwicklung weitestgehend von einem Fernsehapparat übernommen wurde, der an der Wand angebracht war und mehrere Stunden täglich lief. Zuerst faszinierten die bunten Bilder das Mädchen, die wie ein Fenster in eine andere Welt wirkten. Doch sie verlor das Interesse an ihnen, sobald sie erkannte, dass sie keinen Einfluss auf die Figuren und Menschen hatte, die sie in dem kleinen Kasten zu sehen bekam. Sie redeten nicht mit ihr, sondern waren immer nur mit sich selbst beschäftigt, als wäre Rosalie unsichtbar. Das Flackern des Bildschirms wurde zu einem brummenden Hintergrundgeräusch.
Einmal in der Woche überprüften die dunklen Männer ihren sprachlichen Fortschritt, indem sie ihr Fragen stellten. Wenn sie keine Antwort oder die falsche gab, wurde sie bestraft. Dies erwies sich jedoch als schwierig, da das dreijährige Mädchen sich weder vor der Dunkelheit noch vor der Einsamkeit fürchtete, selbst das Ausschalten des Fernsehers war ihm gleichgültig. Sie sollte körperlich nicht geschwächt werden, deshalb kam auch ein Nahrungs- oder Wasserentzug nicht infrage.
Die dunklen Männer änderten ihre Taktik und begannen, sie mit kleinen Geschenken zu belohnen. Mal brachten sie ihr ein Kuscheltier, ein anderes Mal ein Bilderbuch. Der einzige Sinn in diesen Dingen bestand darin, sie ihr wieder wegnehmen zu können, wenn Rosalie ihr Missfallen erregte.
Für eine gewisse Zeit funktionierte diese Methode, doch sie verstand schnell, dass, wenn sie sich nicht für etwas begeisterte, sie es auch nicht verlieren konnte. Nach ein paar Monaten ließ sie deshalb die Spielsachen, die man ihr brachte, unangerührt in einer Zimmerecke liegen. Lieber zog sie sich in ihre eigene Fantasie zurück, denn diese gehörte ihr allein und niemand konnte sie ihr nehmen.
In ihren ersten Jahren wusste sie nicht, dass ihre Welt aus mehr als einem einzigen Raum bestand. Seitdem sie denken konnte, lebte sie umschlossen von diesen vier Wänden. Es gab darin keine Möbel, nicht einmal eine Bettdecke, nur eine Glühbirne und den Fernseher, dessen Bilder jedoch keine Verbindung zu ihrem eigenen Dasein zu haben schienen.
Manchmal hatte sie sich schon gefragt, wo die dunklen Männer hingingen, wenn sie den Raum verließen, aber sie hatte nicht erwartet, dass sie darauf jemals eine Antwort bekommen würde.
Es war ihr vierter Geburtstag, als sie zum ersten Mal ihrem Großvater begegnete, ohne zu wissen, wer er war. Doch sobald er ihr Zimmer betrat, erkannte sie, dass er nicht wie die anderen Männer war, obwohl seine Haut genauso blass und seine Kleidung genauso dunkel wie die der anderen war.
Es war seine Ausstrahlung. Er trug sein Kinn etwas höher, ging etwas aufrechter und seine Schritte waren etwas lauter. In seinen Augen stand Furchtlosigkeit. Rosalie war sich sicher, dass dieser Mann sich von niemandem etwas wegnehmen lassen würde.
»Hallo, Kind«, begrüßte er sie mit ausdrucksloser Miene.
So nannten sie auch die anderen Männer: Kind.
Aus dem Fernsehen wusste sie, dass Kinder dort Namen trugen, aber es war ein ferner, unerreichbarer Ort für sie. In ihrer Welt existierten nur die dunklen Männer und sie. Diese waren groß und stark, während sie klein und schwach war. Deshalb musste sie tun, was diese ihr sagten. Es war ein Gesetz, das sie bis dahin nicht infrage gestellt hatte.
Doch das Erscheinen dieses fremden Mannes irritierte sie und sorgte dafür, dass sie sich hilflos fühlte, weil sie nicht sagen konnte, was von ihr erwartet wurde.
Sie musste ihren Kopf in den Nacken legen, um zu ihm aufschauen zu können.
»Hallo, Mann«, antwortete sie ihm, da man ihr beigebracht hatte, dass sie nicht schweigen durfte.
»Nenn mich Vlad«, entgegnete er ihr und öffnete die Tür so weit, dass sie zum ersten Mal den Gang sehen konnte, der sich dahinter erstreckte. »Komm!«
Obwohl sie Angst vor dem Ungewissen hatte, zögerte sie nicht, seiner Anweisung zu folgen. Die Befehle der Männer mussten befolgt werden.
Hinter ihm verließ sie den Raum, der ihre Welt gewesen war, und lief mit großen Augen durch den Korridor, der von dem grellen Licht von Leuchtstoffröhren erhellt wurde. Es war ein bedrückender Ort mit vielen verschlossenen Türen.
Vlad bewegte sich schnell, sodass ihr kaum Zeit blieb, ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen. Sie hastete hinter ihm her, wobei sie auch an einigen der dunklen Männer vorbeikamen, die beiseitetraten, um ihnen Platz zu machen.
Dieses Verhalten war für Rosalie völlig neu. Plötzlich wirkten sie nicht mehr ganz so groß und stark auf sie, denn nun gab es jemanden, dem sie auswichen. Manche der Männer überragten Vlad sogar und trotzdem neigten sie den Kopf vor ihm. Es war etwas, das Rosalie noch nicht verstehen konnte, aber sie faszinierte.
Der Gang führte zu einer Steintreppe, die vor einer weiteren Tür endete. Ohne Vorwarnung stieß Vlad diese auf und blendendes Licht schlug dem Mädchen entgegen. Erschrocken kniff sie die Augen vor der ungewohnten Helligkeit zusammen und taumelte sogar einen Schritt zurück.
Vlad gewährte ihr keinen Moment, um sich an diese Veränderung zu gewöhnen, sondern verlangte, dass sie weitergehen solle. Als sie blinzelnd in sein Gesicht blickte, erkannte sie, dass ihre Reaktion ihn verärgert hatte. Missbilligend schaute er mit zusammengekniffenen Lippen auf sie herab. Sie befürchtete, dass er ihr die Tür vor der Nase zuschlagen würde, und holte eilig zu ihm auf.
Das Herz in ihrer Brust schlug so schnell wie nie zuvor, als sie aus dem Gemäuer trat und sich vor ihr eine ungeahnte Welt erstreckte. Dort gab es so viel zu sehen, dass sie gar nicht wusste, wohin sie als Erstes schauen sollte. Sie kannte bisher nur den grauen Stein der Wände, aber dort draußen wurde sie von einer wahren Farbenpracht überwältigt, die selbst die bunten Bilder des Fernsehens bei Weitem übertraf. Grüne Wiese zog sich über die Erde, aus der sich meterhohe Bäume erhoben. Dazwischen wuchsen Sträucher, die rosafarbene Blüten trugen. Niemand hatte ihr je gesagt, wie überwältigend die Vielzahl an Gerüchen war. Ihr fehlten die Worte, um sie zu beschreiben. Es waren so viele und sie stürmten von allen Seiten auf sie ein. Sie waren wie eine Explosion sämtlicher Sinne.
Zwischen der Wiese zog sich ein Pfad aus winzigen beigefarbenen Kieseln entlang. Staunend folgte sie diesem und bewunderte mit großen Augen den Springbrunnen, der unerlässlich Wasser in die Luft spritzte. Wenn sie nah genug herantrat, konnte sie winzige Tropfen auf ihrer Haut spüren. Die Sonnenstrahlen verfingen sich in dem Wasserdunst und erzeugten ein farbenprächtiges Schauspiel.
Links und rechts von dem Brunnen erhoben sich zwei gewaltige goldene Statuen, die Drachen mit weit ausgebreiteten Flügeln darstellten. Hinter ihnen befand sich das Gebäude, aus dem sie gekommen sein musste. Es war größer als alles, was sie sich vorstellen konnte – ein Schloss aus blutrotem Stein. Türme ragten in den Himmel empor und wenn jedes der...