E-Book, Deutsch, Band 4, 512 Seiten
Reihe: Vollendet
Shusterman Vollendet - Die Wahrheit (Band 4)
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7336-5102-2
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Band 4
E-Book, Deutsch, Band 4, 512 Seiten
Reihe: Vollendet
ISBN: 978-3-7336-5102-2
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Neal Shusterman, geboren 1962 in Brooklyn, ist in den USA ein Superstar unter den Jugendbuchautoren. Er studierte in Kalifornien Psychologie und Theaterwissenschaften. Alle seine Romane sind internationale Bestseller und wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem National Book Award.
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4. Lev
Von Frieden kann bei Lev keine Rede sein.
Wieder ist er in den Wipfeln der Bäume unterwegs, zu nachtschlafender Zeit, auch wenn der Wald hellwach zu sein scheint. Das Blätterdach breitet sich im blauen Flutlicht des Mondes vor ihm aus wie ein aquamarinfarbenes Wolkenmeer.
Er folgt wieder dem Kinkajou, dem Wickelbären, einem affenartigen Wesen mit riesigen Augen. Total süß, aber richtig gefährlich. Lev weiß jetzt, dass er seinem eigenen Tiergeist nachjagt. Der Wickelbär springt vor ihm her über die höchsten Äste des dichten Regenwalds und lockt Lev, etwas zu folgen, das sein Schicksal sein könnte, wenn auch nicht so unabänderlich und unentrinnbar wie das Schicksal. Eher etwas, das er wahr machen .
Er träumt oft von dem Wickelbären und seiner Verfolgungsjagd durch den Wald. Der Wald ist für ihn ein schicksalhafter Schutzraum, der ihn nährt und stärkt. Er ruft ihm in Erinnerung, dass hinter seinem schmerzvollen Tun ein erstrebenswertes Ziel steht.
Die Träume sind erstaunlich lebendig, und er erinnert sich hinterher jedes Mal daran. Das ist an und für sich schon ein Geschenk, für das er dankbar ist. Nicht nur die Leuchtkraft dessen, was er sieht, macht diese Träume so lebendig, dass er sie geradezu mit den Händen greifen kann, sondern auch das Zirpen, Kreischen und Singen der Nachtlebewesen um ihn herum. Der Duft der Bäume und des Bodens tief unter ihm, so erdig und gleichzeitig überirdisch. Die Zweige, die seine Hände, Füße, den Schwanz streifen. Ja, den Schwanz, denn er hat den Wickelbären jetzt eingeholt. Er hat sich in seinen Tiergeist verwandelt und ist dadurch vollständig geworden.
Er weiß schon, was als Nächstes kommt. Der Waldrand, der Weltenrand. Aber diesmal ist etwas anders. Ein Gefühl wallt in ihm auf. Eine Vorahnung, aus seinem Leben allzu vertraut, aber hier bisher unbekannt.
Mit einer Brise weht ein beißender Geruch heran. Brandgeruch. Das beruhigende blaue Licht um ihn herum verfärbt sich erst lavendelfarben, dann kastanienbraun. Als er sich umdreht, sieht er hinter sich in der Ferne einen Waldbrand, der sich zu einer Feuerwand aufbaut. Er ist vielleicht noch eine Meile weit weg, verschlingt aber die Bäume in beängstigender Geschwindigkeit.
Aus den Geräuschen des Lebens werden Warnrufe und Entsetzensschreie. Vögel flattern panisch in den Himmel, gehen aber in Flammen auf, ehe sie entkommen können. Lev kehrt der sich nähernden Feuersbrunst den Rücken zu und springt von Ast zu Ast, um zu entkommen. Vor ihm tauchen genau dort, wo er sie braucht, immer neue Äste auf, und er könnte dem Feuer entfliehen, wenn das Blätterdach endlos wäre. Ist es aber nicht.
Viel zu früh gelangt er an die Stelle, wo der Wald an einer Klippe endet, die in bodenloses Vergessen abfällt, vor ihm der Himmel und, wie es scheint, knapp außer Reichweite der Mond.
Hol ihn runter, Lev.
Er kann es schaffen! Wenn er hoch genug springt, kann er die Krallen hineinschlagen und den Mond vom Himmel ziehen. Und wenn er zur Erde stürzt, wird die Druckwelle den Brand ausblasen wie eine Kerze.
Lev sammelt allen Mut, während er die glühende Hitze bereits im Rücken spürt. Er muss vertrauen, darf nicht versagen. Als er schon selbst brennt, springt er in den Himmel und packt zu seiner eigenen Überraschung den Mond … doch seine Krallen dringen nicht tief genug ein. Lev rutscht ab und fällt, während hinter ihm das Feuer die letzten Reste des Waldes verschlingt. Er stürzt aus dieser Welt in einen unfertigen Winkel des Universums, in den bislang noch nicht einmal Träume gelangt sind.
Levs Zähne klappern unkontrolliert, und er wird von Zuckungen geschüttelt.
»Spielst du heute Nacht wieder die Kastagnetten, kleiner Bruder?«, sagt eine Gestalt, die sich über ihn beugt. Ehe sein Kopf wieder Ordnung in Zeit und Raum bringt, denkt er, es sei eine seiner älteren Schwestern, er sei zu Hause, als viel jüngeres, viel unschuldigeres Kind. Doch das kann nicht stimmen. Seine Schwestern haben ihn wie der Rest der Familie verstoßen. Neben ihm steht seine Arápache-Schwester Una.
»Wenn ich die Klimaanlage ausschalten könnte, würde ich es sofort tun, aber wie alles in diesem miesen iMotel läuft die automatisch, und der Temperaturregler glaubt wohl, wir hätten fünfunddreißig Grad Außentemperatur.«
Lev ist es zu kalt, als dass er etwas sagen könnte. Er presst die Zähne zusammen, damit sie nicht mehr klappern, allerdings nur mit mäßigem Erfolg.
Una hebt die Decke auf, die auf den Boden gefallen ist, deckt ihn damit zu und legt die Tagesdecke obendrüber.
»Danke«, stößt er fiepsend aus.
»Ist das nur die Kälte, oder hast du Fieber?«, fragt sie und legt ihm die Hand auf die Stirn. Seit fast zwei Jahren hat niemand mehr seine Stirn gefühlt, um zu prüfen, ob er Fieber hat. Das spült eine Welle unerwünschter Gefühle in ihm hoch, die er selbst nicht einordnen kann.
»Nein, kein Fieber. Dir ist nur kalt.«
»Danke«, sagt er noch mal. »Es geht mir schon besser.«
Das Zähneklappern wird immer mal wieder unterbrochen und hört schließlich auf, nun, da die Decken seine Körperwärme halten. Er wundert sich, wie weit sein Traum von der echten Welt entfernt war, wie aus der glühenden Hitze der Flammen so schnell die Kälte eines Motels an einer Straße im Nirgendwo werden konnte. Aber sind Hitze und Kälte nicht auch zwei Seiten einer Medaille? Beide Extreme sind tödlich. Lev schließt die Augen und versucht zu schlafen, denn sein Körper sollte in den Tagen, die vor ihm liegen, möglichst ausgeruht sein.
Am nächsten Morgen weckt ihn das Geräusch einer sich schließenden Tür. Er denkt zunächst, dass Una weggegangen ist. Aber nein, sie war weg und kommt schon wieder zurück.
»Guten Morgen«, sagt sie.
Er stöhnt, denn die Kraft reicht noch nicht zum Sprechen. Das Zimmer ist nach wie vor eisig, doch die beiden Decken halten ihn warm.
Una hält in jeder Hand eine McDonald’s-Tüte. »Du kannst es dir aussuchen«, sagt sie, »Herzinfarkt oder Schlaganfall?«
Er gähnt und setzt sich auf. »Erzähl mir nicht, dass die nichts Krebserregendes mehr hatten …«
Una schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, das gibt es erst ab elf Uhr dreißig.«
Er nimmt die Tüte, die sie in der linken Hand hat, und holt einen Eier-McIrgendwas heraus, der so gut schmeckt, dass er eigentlich nur tödlich sein kann. Aber wenn der ihn umbringen will, muss er sich schon hinten anstellen, hinter der Jugendbehörde, den Klatschern und natürlich Nelson.
»Wie lautet der Plan, kleiner Bruder?«, fragt Una.
Lev schlingt den Rest des Frühstücks hinunter.
»Wie lange brauchen wir noch bis Minneapolis?«
»Etwa drei Stunden.«
Lev reckt sich nach seinem Rucksack und zieht die Bilder der beiden Teilepiraten heraus, hinter denen sie her sind. Einem fehlt ein Ohr, der andere ist hässlich wie die Nacht. »Musst du sie dir noch mal ansehen?«
»Ich kenne jeden Quadratzentimeter dieser Visagen auswendig.« Una bemüht sich nicht einmal, ihre Abscheu zu verbergen. »Aber ich glaube immer noch nicht, dass uns das weiterhilft. Minneapolis und St. Paul sind riesige Städte. Es dürfte so gut wie unmöglich sein, zwei Loser zu finden, die nicht gefunden werden wollen.«
Lev schenkt ihr ein schwaches Grinsen. »Wer sagt, dass sie nicht gefunden werden wollen?«
Una sitzt auf dem Bett neben ihm und sieht ihn prüfend an. »Also, wie lautet der Plan, kleiner Bruder?«, wiederholt sie.
Chandler Hennessey und Morton Fretwell. Die beiden überlebenden Teilepiraten, die sich auf Arápache-Gebiet geschlichen und im Wald Lev und ein paar jüngere Kinder eingefangen haben.
Gerettet hat sie Wil Tashi’ne, Unas große Liebe. Er bot sein Leben für das Levs und der anderen an, und die Piraten gingen auf den Handel ein, weil er etwas besaß, das ihnen einen sehr hohen Preis bringen würde: Wil hatte Talent. Talent in den Händen und den entsprechenden Hirnregionen, so dass er die Gitarre beherrschte wie kaum jemand sonst. Sie nahmen ihn mit und überließen es Lev, mit den Folgen fertigzuwerden. Lev hatte Wil nicht daran hindern können, sich zu opfern, und dennoch hatten die Arápache ihm die Schuld gegeben. Lev war ein Außenseiter, genau wie die Teilepiraten. Er war ein Flüchtling aus derselben kaputten Welt. Sogar Unas Gefühle ihm gegenüber waren zwiespältig. »Du bist ein Unglücksbote«, sagte sie. Und sie hatte recht. Egal, wo Lev hingeht, immer folgt ihm das Grauen auf dem Fuß. Doch er träumt davon, dieses Schema zu durchbrechen. Bestimmt ist das einfacher, als den Mond vom Himmel zu holen.
Wil Tashi’nes Umwandlung ließ im Arápache-Volk eine Wunde zurück, die nicht heilen wird, aber vielleicht kann Lev die Schmerzen lindern. Eine Narbe wird immer bleiben, aber wenn Lev gelingt, was er vorhat, werden Una und er die Körperdiebe zurückbringen, damit sie sich...