E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Sijie Balzac und die kleine chinesische Schneiderin
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-492-95048-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-492-95048-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Die Prinzessin des Phönix-des-Himmels trug ein Paar blaß rosafarbene Schühchen aus glänzendem, aber solidem Stoff, unter dem sich ihre Zehen abzeichneten, wenn sie mit dem Fuß den Tritt ihrer Nähmaschine bediente. Es waren gewöhnliche, billige Schuhe, in jener Berggegend jedoch, wo fast alle barfuß gingen, fielen sie auf. Sie wirkten raffiniert und teuer und ungeheuer elegant. Ihre Fesseln waren schmal und die Füße in den weißen Nylonsöckchen zierlich geformt. Ihr Haar war zu einem langen, dicken Zopf geflochten mit einem leuchtendroten eingeflochtenen Satinband, das zu einer prächtigen, in ihrem Rücken baumelnden Schleife gebunden war. Sie beugte sich über die Nähmaschine, deren glattes Tischblatt den Kragen ihrer weißen Bluse, ihr ovales Gesicht, den Glanz ihrer Augen widerspiegelte, der schönsten Augen des Bezirks Yong Jing, wenn nicht der ganzen Provinz. Ein breites Tal trennte ihr Dorf von unserem Dorf. Ihr Vater, der einzige Schneider weit und breit, war nicht oft im geräumigen alten Haus anzutreffen, das Werkstatt und Wohnung zugleich war. Wenn eine Familie neue Kleider nähen lassen wollte, ging man zuerst nach Yong Jing Stoff kaufen, dann suchte man den alten Schneider in seiner Werkstatt auf, um über den Schnitt zu beraten, über den Preis zu verhandeln und den ihm für die Anfertigung genehmen Termin festzulegen. Am vereinbarten Tag holten ihn die Kunden respektvoll ab, von ein paar muskulösen Männern begleitet, die abwechselnd die Nähmaschine auf dem Rücken trugen. Er besaß zwei Nähmaschinen. Die eine – die, die er von Dorf zu Dorf mitnahm – war ein altes Modell, auf dem weder die Marke noch der Name des Herstellers identifizierbar waren. Die andere, Made in Shanghai, war neu. Die ließ er für seine Tochter, die Kleine Schneiderin, zu Hause. Er nahm seine Tochter nie mit zu den Kunden, und dieser weise und unumstößliche Entschluß war für die zahlreichen jungen Bauern eine bittere Enttäuschung. Er führte ein Mandarin-Leben. Wenn er in ein Dorf kam, herrschte Aufregung und Gedränge wie an einem Volksfest. Das vom Surren seiner Nähmaschine widerhallende Haus wurde zum Mittelpunkt des Dorfes und war für die jeweiligen Gastgeber die Gelegenheit, ihren Reichtum vorzuzeigen. Die köstlichsten Gerichte wurden für ihn gekocht, und wenn sein Besuch in die Zeit der Vorbereitungen für das Neujahrsfest fiel, schlachtete man sogar das Schwein. Er logierte reihum bei seinen verschiedenen Kunden und verbrachte oft ein oder zwei Wochen im gleichen Dorf. Eines Tages wollten Luo und ich den Brillenschang besuchen, einen Jungen aus unserer Stadt, der in einem anderen Dorf umerzogen wurde. Es regnete; der steile, glitschige Weg war in milchigen Nebel gehüllt. Wir kamen nur langsam vorwärts und landeten immer wieder auf allen vieren im Schlamm. Als wir um eine Wegkrümmung bogen, kam uns unvermittelt eine Prozession mit einer schaukelnden Sänfte in ihrer Mitte entgegen. Hinter der vornehmen Tragchaise trottete ein Mann mit einer Nähmaschine auf dem Rücken. Der Besitzer der Nähmaschine beugte sich zu den Trägern hinunter, wahrscheinlich um sich zu erkundigen, wer wir waren. Der Mann war klein, dürr, runzelig, aber trotz seines Alters offenbar noch sehr busper und voller Unternehmungslust. Seine Chaise, eine Art rudimentärer Palankin, war auf zwei lange, dicke Bambusstangen gebunden, die ausbalanciert auf den Schultern der zwei Träger lagen. Man hörte die Sänfte knarren und die Stangen knacken. Als die Sänfte an uns vorbeikam, bückte sich der alte Schneider tief zu mir herunter, so daß ich seinen Atem an meinem Ohr spürte. »Wai-o-lin!« rief er plötzlich laut. Ich zuckte erschrocken zusammen. Er lehnte sich schallend lachend in seinem Tragstuhl zurück wie ein exzentrischer kaiserlicher Hofbeamter auf Reisen. »Wißt ihr, daß unser Schneider der am weitesten gereiste Mann in der Gegend ist?« fragte uns einer der Träger. »In meinen jungen Jahren bin ich sogar bis nach Yan’an gekommen, zweihundert Kilometer von Yong Jing entfernt«, erklärte der große Marco Polo. Er zeigte auf meinen Geigenkasten: »Mein Meister hatte ein solches Ding an der Wand hängen, um seinen Kunden zu imponieren.« Dann zog die kleine Prozession im Gänsemarsch weiter. Bevor er hinter der Wegkehre verschwand, wandte sich der Alte nochmals um. »Wai-o-lin!« rief er uns schalkhaft zu. Die Träger und die zehn Bauern in seinem Geleit warfen feierlich den Kopf in den Nacken und stießen einen langgezogenen Schrei aus, der eher wie ein schmerzlicher Seufzer denn wie ein englisches Wort klang: »Waiii-ooo-liiin!« Dann brachen sie in lausbübisches Gelächter aus, beugten sich nach vorn und setzten ihren Weg fort. Kurz darauf war der Zug im Nebel verschwunden. Ein paar Wochen später suchten wir das Haus des Schneiders auf. Im Hof lief uns ein großer schwarzer Hund entgegen; er ließ uns nicht aus den Augen, bellte aber nicht. Wir betraten die Werkstatt. Der alte Schneider war wieder einmal unterwegs, und wir machten die Bekanntschaft seiner Tochter, der Kleinen Schneiderin. Wir fragten sie, ob sie Luos Hose um fünf Zentimeter verlängern könne, denn er war trotz der mangelhaften Ernährung, trotz der Schlaflosigkeit und seiner Zukunftsängste in die Höhe geschossen. Er stellte sich der Kleinen Schneiderin vor und erzählte ihr von unserer Begegnung mit ihrem Vater, der unversehens aus dem Nebel aufgetaucht war – und konnte es sich natürlich nicht verkneifen, den englischen Akzent des Alten übertrieben nachzuahmen. Die Kleine Schneiderin lachte herzlich. Bei Luo war die Nachahmungsgabe vererbt. Wenn sie lachte, blitzte in ihren Augen etwas Ursprüngliches auf, was mich an die scheuen Mädchen in unserem Dorf erinnerte. Ihr Blick hatte den Glanz von ungeschliffenen Edelsteinen, von unpoliertem Metall, ein Leuchten, das durch ihre langen Wimpern und die mandelförmigen Augen verstärkt wurde. »Seid ihm nicht böse«, meinte sie, »er ist trotz seines Alters ein Junge geblieben.« Plötzlich zog ein Schatten über ihr Gesicht. Sie rieb mit der Fingerspitze auf dem Nähmaschinentisch herum. »Mama ist zu früh gestorben«, fügte sie hinzu, »seither macht Bàbà nur noch das, was ihm Spaß macht.« Das Oval ihres bronzen schimmernden Gesichts war vollkommen, fast edel. Sie war von sinnlicher, bezaubernder Schönheit. Wir konnten nicht anders: wir mußten einfach dort bleiben und ihr zuschauen, wie sie mit ihrem kleinen, zierlichen Fuß den Tritt ihrer Nähmaschine Made in Shanghai betätigte. Die Werkstatt diente gleichzeitig als Laden und Eßzimmer; der Bretterboden war schmutzig und mit Spuckeklecksern übersät, was darauf schließen ließ, daß nicht jeden Tag aufgewischt wurde. Die fertigen Kleider hingen auf Bügeln an einem in der Mitte des Raums von Wand zu Wand gespannten Seil. In einer Ecke stapelten sich Stoffballen und zusammengelegte Kleidungsstücke, die von einer Armee Ameisen belagert wurden. Im Raum herrschten Unordnung und absolute Unbekümmertheit. Auf dem Tisch lag ein Buch, ein höchst ungewöhnlicher Gegenstand in dieser von Analphabeten bevölkerten Gegend. Ich hatte seit Ewigkeiten keine Buchseite mehr angerührt. Ich griff neugierig danach: Was für eine Enttäuschung! Es handelte sich um den Musterkatalog einer Stoffarbenfabrik. »Liest du?« fragte ich die Kleine Schneiderin. »Selten«, antwortete sie unbefangen. »Oh, ihr müßt nicht glauben, ich sei eine dumme Gans. Ich unterhalte mich sehr gern mit gebildeten Menschen. Mit Studenten aus der Stadt zum Beispiel. Ist euch nichts aufgefallen? Daß mein Hund nicht gebellt hat, als ihr hereingekommen seid? Er erkennt nämlich Menschen, die ich mag.« Sie freute sich ganz offensichtlich über unseren Besuch. Sie stand von ihrem Hocker auf, machte im eisernen Herd in der Mitte des Zimmers Feuer, füllte einen Topf mit Wasser und stellte ihn auf den Herd. Luo, der den Blick nicht von ihr wenden konnte, fragte: »Was bietest du uns an? Tee oder kochendes Wasser?« »Eher letzteres«, entgegnete sie verschmitzt. Das war das unmißverständliche Zeichen, daß sie uns mochte. Wenn einen in jener Gegend jemand auffordert, Wasser zu trinken, bedeutet dies, daß man Eier ins kochende Wasser schlägt, Zucker hinzufügt und eine Suppe kocht. »Weißt du, Kleine Schneiderin«, fragte Luo sie, »daß wir etwas gemeinsam haben, du und ich?« »Wir zwei?« »Ja. Wetten?« »Was wetten wir?« »Was du willst. Ich bin nämlich sicher, daß wir etwas gemeinsam haben.« Sie überlegte kurz. »Wenn ich verliere, verlängere ich...