E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Simenon Der Bericht des Polizisten
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-455-01674-1
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-455-01674-1
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Mann wird am Rand einer Landstraße vom Auto erfasst, liegt schwer verletzt im Graben, der Fahrer flüchtet. Wer sich um ihn kümmert, ist Étienne, der seiner Ehefrau Joséphine auch von dem Fund des Geldkoffers berichtet, den der Unbekannte bei sich trug. Die Polizei bittet die Familie, den Verletzten zunächst bei sich unterzubringen, seine Überlebenschancen stehen schlecht. Doch ein Zettel, den man bei dem Mann entdeckt, weist darauf hin, dass dieser ohnehin ihr Gehöft zum Ziel hatte. Wer ist der vermeintlich Unbekannte? Was hat es mit dem vielen Geld auf sich? Und warum wollte Joséphine den Zettel vergeblich verschwinden lassen? Die Familie hüllt sich gegenüber der Polizei in Schweigen.
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Titelseite
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Biographie
Impressum
1
Die beiden Frauen waren gerade auf dem vorderen Dachboden beschäftigt, demjenigen mit dem Rundfenster zur Straße, der als Obstlager genutzt wurde. Die Mutter, Joséphine Roy, saß auf einem niedrigen Stuhl, nahm Äpfel aus einem Korb und rieb sie mit einem rot karierten Tuch ab; die wurmstichigen legte sie beiseite, die guten reichte sie Lucile weiter. Lucile legte die Früchte fein säuberlich nebeneinander auf den Gitterregalen längs der Wände aus. Für die oberen Reihen musste sie auf einen Schemel steigen. Sie hatten damit gleich nach dem Geschirrspülen begonnen, und nun war es schon vier Uhr vorbei. Man hätte anhand ihrer Bewegungen das Vergehen der Zeit messen können, so regelmäßig waren diese, und um sie herum herrschte eine solche Stille, dass man den Eindruck hatte, das eintönige Leben in ihrem Innern zu hören, so wie man, wenn man in die Küche kam, das Ticken im Innern der Wanduhr hörte. Sogar der Regen draußen fiel leise, sachte, ruhig, wie ein Flor, der sich gleichzeitig mit dem Abend auf das Gehöft senkte. All das sollte Stunden später nochmals Erwähnung finden, nämlich in dem trockenen Bericht eines Wachtmeisters der Gendarmerie. Seit Stunden schon rieb Joséphine Roy Äpfel ab, sonderte sie aus; und seit Stunden legte Lucile, ihre Tochter, sie nach Sorten geordnet auf die Regale des Obstlagers. Immer wenn sie an der kleinen Fensterluke vorbeikam, immer oder jedenfalls fast immer – solche Dinge lassen sich hinterher nicht mehr mit letzter Sicherheit sagen –, warf sie gedankenlos einen Blick auf das Stück nass glänzender Straße vor dem Haus, auf die grüne Böschung, die daran anschloss, und dann sah sie den fahlen aufgerissenen Stamm des Nussbaums, der in der Nacht umgestürzt war, und das dramatische Gewirr seiner gekrümmten Äste. Der Herbststurm hatte sich erst im Morgengrauen ganz gelegt, und danach hatte dieser Nieselregen eingesetzt, der immer noch anhielt. Vater und Sohn Roy waren hinausgegangen, um sich den Baum anzusehen, der seit vielleicht zweihundert Jahren hier gestanden und dem Hof seinen Namen – Gros-Noyer – gegeben hatte und der nun vom Sturm gefällt worden war. Um die Straße wieder freizulegen, hatten sie einige Äste absägen müssen. Der Alte war nun mit dem Vieh beschäftigt, im Kuhstall oder auch bei den Pferden. Étienne Roy war wie jeden Samstag in Fontenay-le-Comte. In einer Viertelstunde, allerhöchstens einer halben, würde es zu dunkel sein, um Äpfel zu verlesen, und die beiden Frauen würden hinuntergehen. Es würde die Sache des Wachtmeisters sein, im Rückblick den genauen zeitlichen Ablauf zu bestimmen, und erstaunlicherweise sollte ihm das auch gelingen, indem er wieder und wieder die Leute ausfragte und ihre Aussagen miteinander verglich. Der Erste, der die Straße entlangkam, war Serre, der Pferdehändler aus La Rochelle; er fuhr mit seinem Auto und dem mit einem gelben Dreieck markierten Anhänger vorbei. Lucile blickte zum Wagen hinunter, ohne Serre am Lenkrad zu sehen, aber sie sah das Pferd, ganz durchnässt, das sich auf dem schwankenden Anhänger mühsam im Gleichgewicht hielt. Sie bemerkte auch, dass das Gefährt etwas langsamer wurde, vermutlich weil der Fahrer einen Blick auf den umgestürzten Baum werfen wollte. Es war halb fünf. Das ließ sich leicht feststellen, denn Serre hatte das Café du Marronnier in Maillezais um Viertel nach vier verlassen, und für die fünf Kilometer brauchte er erfahrungsgemäß nicht länger als eine Viertelstunde. Noch eine Reihe Äpfel, je Reihe dreißig Stück … Wie viel war das, in Sekunden gerechnet? … Das Dachfenster lag gleich neben dem Ende des Regals … Lucile sah nochmals hinaus, kniff die Augen zusammen, denn nun lag dort, neben dem umgestürzten Nussbaum, eine menschliche Gestalt. Sie sagte nichts. Sie redete nicht viel mit ihrer Mutter. »Ich dachte, es sei ein Betrunkener …«, sagte sie später aus. »Es kommt oft vor, dass die Männer samstags, wenn sie vom Markt zurückkommen, ein wenig angesäuselt sind …« Und doch war es für sie wie ein Schock. Sie geht einen Korb Äpfel holen, kommt zurück, blickt nochmals hin und sieht, dass neben dem Mann ein Fahrrad liegt. Sie hatte gleich ein ungutes Gefühl und musste an die Katze denken. Eine alte Geschichte, die schon zehn Jahre zurücklag. Sie war damals zwölf. Sie kam von der Schule nach Hause. Sie machte in der Küche ihre Aufgaben. Ihre Mutter war am Gemüseputzen, und es wurde Abend, genau wie heute. Die fuchsrote Katze, die seit Tagen um das Gehöft herumschlich und der die Männer vergeblich mit Mistgabeln nachgesetzt hatten, stand plötzlich, nachdem sie einen entsetzlichen Schrei von sich gegeben hatte, auf dem Fenstersims. Ganz nah hinter der Scheibe sah man sie, und auch sie starrte entsetzt die Gesichter an, die sich ihr zugewandt hatten. Sie musste in eine Falle geraten sein und hatte sich nur wieder befreien können, indem sie ihre Haut halb zerfetzt hatte. An die offenen Wunden hatte sich schon Ungeziefer gemacht. Grüngoldene Fliegen saßen darauf. »Geh, mach deine Aufgaben, Lucile …« Die Mutter war hinausgegangen und hatte versucht, das Tier zu verscheuchen, aber es hatte sich umso dichter ans Fenster gepresst. Der alte Roy war nach Sainte-Odile seinen Schoppen trinken gegangen. Sein Sohn war auf dem Viehmarkt. Fast eine Stunde mussten sie auf ihn warten. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Vor der Schwärze des Fensters leuchteten die Katzenaugen. Endlich hörte man den Karren heranrattern. »Étienne! Die Katze ist hier …« Schritte, dumpfe Schläge, haarsträubendes Miauen, und endlich war der Vater hereingekommen. »Wasch dir die Hände …« Wie oft schon hat sie an die Katze gedacht und immer versucht, die Erinnerung zu verscheuchen, jenes Bild, das sie mehrmals am Einschlafen gehindert hatte? Sie hat genau drei Reihen Äpfel gelegt. Ein Auto fährt vorbei, mit brennenden Scheinwerfern, obwohl es noch nicht ganz dunkel ist. Lucile kennt das Fahrzeug, es ist der Lieferwagen von Ligier, dem Geflügelhändler aus Sainte-Odile. Er hat angehalten. Ligier steckt den Kopf zur Wagentür heraus. Man könnte meinen, er rede mit jemandem, aber man hört nichts, denn der laufende Motor übertönt alle Geräusche. Dann fährt er wieder los, in Richtung Sainte-Odile. Tatsächlich saßen, Lucile wird sich später daran erinnern, zwei Männer vorn in dem Lieferwagen. Es war der junge Ligier, der sich vorgebeugt hatte. Die Gestalt, die man auf der andern Seite erkennen konnte, war vermutlich der alte Ligier gewesen, der seinen Sohn samstags gewöhnlich begleitet. Der Unbekannte liegt nicht mehr dort, wo er vorher gelegen hat. Er liegt jetzt direkt auf der Straße, etwas weiter rechts, kaum einen Schritt von den Ästen des umgestürzten Nussbaums entfernt. Lucile öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Aber was? Sie weiß nicht, was sie sagen soll, und so schweigt sie. Joséphine Roy erhebt sich, schüttelt ihre Schürze aus. Es ist zu dunkel, um weiterzuarbeiten, und es ist Zeit, die Suppe aufs Feuer zu setzen. »Was ist denn das?«, murmelt sie und bleibt vor der Fensterluke stehen. »Ich weiß nicht … Ligier hat mit ihm gesprochen …« Sie gehen hinunter. Vom ersten Stock an ist die Treppe gebohnert. In der geräumigen Küche wird Licht gemacht. Es ist nicht kalt genug, um den Ofen anzufeuern, und Joséphine Roy bückt sich vor dem Herd; das Streichholz flammt blau auf, mit einem leichten Schwefelgeruch, dann wird die Flamme hell, die feinsten Ästchen des Reisigs fangen Feuer und beginnen zu knacken. Lucile macht das Hühnerfutter bereit. Auf dem Hof Gros-Noyer weiß jeder, was er zu tun hat. Lucile denkt immer noch an den Mann, der auf der Straße liegt. Die Wanduhr schlägt fünf. Wenn sie einmal nachgeht, dann höchstens fünf Minuten. Man hört, wie ein Pferd angetrabt kommt. »Ist das Gatter offen?«, fragt Joséphine Roy. Lucile schiebt die Gardinen beiseite, um in den Hof zu sehen. »Ja …« Die Stute bleibt stehen. Étienne Roy steigt vom Karren und schüttelt sich wie ein nasser Hund. Die Mutter öffnet die Küchentür. Draußen ist es dunkel. »Hast du nichts gesehen auf der Straße?« »Wo denn?« »Gleich beim Nussbaum …« Die Schritte entfernen sich. Roy hat noch die Peitsche in der Hand. Seine Frau wartet unter der Tür und blickt zum Gatter, dessen Sprossen sich schwarz wie Tuschstriche vor dem dunkelgrauen Himmel abzeichnen. Dann kommt Roy zurück. Auf dem Weg bis zur Tür sagt er nichts. Sein Atem riecht leicht nach Alkohol, wie immer am Samstag, betrunken ist er allerdings nie. In seinem rötlichen Schnurrbart hängen Wassertröpfchen, und sein Blick ist unstet. Er schaut sich suchend in der Küche um und sagt: »Man sollte ihn wohl besser hereinholen … Ich glaube, er ist …« Und er starrt auf seine rotverschmierte Hand, das Blut ist vom Regen schon wieder halb aufgelöst. Der Ort, Sainte-Odile, liegt bloß dreihundert Meter vom Hof Gros-Noyer entfernt. Man sieht ihn nur nicht, weil die Straße eine Kurve beschreibt und der niedrige Kirchturm hinter Eschen verborgen bleibt. Während der alte Roy abschirrt, hat sich Étienne mit dem Fahrrad auf den Weg zur Post gemacht. Er beugt sich über den Schalter vor. Seine Schnurrbarthaare zittern. »Wollen nicht lieber Sie reden?«, sagt er zur Schalterbeamtin, Mademoiselle Picot. »Hallo! … Doktor Naulet in Maillezais? … Ist dort Maillezais? … Ich habe die...