E-Book, Deutsch, 512 Seiten
Simons Land der Freiheit
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-13891-2
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-641-13891-2
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Paullina Simons, geboren 1963 in Leningrad, emigrierte Anfang der siebziger Jahre mit ihrer Familie in die USA. Sie arbeitete in Rom und Dallas und war vier Jahre als Wirtschaftsjournalistin in London tätig, bevor sie sich als Fernsehproduzentin in New York niederließ. Mit den Romanen »Die Liebenden von Leningrad«, »Tatiana und Alexander« und »Land der Lupinen« sowie »Land der Freiheit« gelangen ihr internationale Bestseller. Paullina Simons lebt mit ihrer Familie in Brooklyn, New York.
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Erstes Kapitel – Tochter der Revolution
Ein Jahr bevor Gina, ihre Mutter und ihr Bruder 1899 in Amerika von Bord gingen, hatte es auf Ellis Island gebrannt, und so legten sie nicht in New York an, sondern segelten bis in den Hafen von Boston.
Salvo hatte sein Mädchen zurücklassen müssen, da die Angebetete nicht bereit gewesen war, ihre Familie zu verlassen. Entsprechend schlecht war seine Laune gewesen, seit sie in Neapel die Taue gelöst hatten. Er war verbittert über die eigene Familie. Zwar hatte er nicht vor, mit dem Mädchen, das er liebte, zurückzubleiben, verübelte aber gleichzeitig seiner Familie die eigene Entscheidung. »Als ob Mimoo und Gina allein nach Amerika gehen könnten«, sagte er spöttisch.
»Wir müssen ja nicht gehen, Salvo«, sagte seine Mutter ganz ehrlich.
»Mimoo!«, schrie Gina. »Was würde Papa dazu sagen?«
»Papa, Papa. Wo bitte ist er denn, wenn er so furchtbar clever ist?«
Es war Sommer, und Gina hoffte auf einen klaren, wolkenlosen Tag. Sie stand auf Zehenspitzen an Backbord, starrte in den Himmel und sehnte sich nach dem Anblick, für den sie nun Wochen auf diesem Segelschiff zugebracht hatten: die Silhouette einer Stadt, die sich die weit geschwungene Bucht entlangzog und die ihnen eine erste Ahnung von jenem Leben gewährte, das sie in ihren Straßen erwartete. So streckte Gina sich, blinzelte in den Julinebel und schirmte mit ihrer Hand die Augen ab, um das erträumte großstädtische Panorama zu erspähen. Geschäftiges Treiben in einer riesigen Metropole, rauchende Schornsteine, ein- und auslaufende Schiffe, Zivilisation. Aber es gab nichts zu sehen. Nichts als dichten, schiefergrauen Nebel und eine bedrückend schwermütige Stimmung. »Ahoi, Salvo!«, rief sie trotz der Enttäuschung. »Schau dir das an!«
Salvo kam nicht, um es sich anzusehen. Wie ein Sandsack saß er hinter ihr auf dem Hauptdeck und rauchte, den Arm um seine ganz in Schwarz gekleidete Mutter gelegt. Gina und Salvo hatten erst kürzlich ihren Vater verloren. Sieben Jahre lang hatten sie Pläne geschmiedet, zu fünft nach Amerika zu gehen. Aber Ginas ältester Bruder war vor sechs Monaten bei einer Messerstecherei getötet worden. Eine betrunkene Menschenmenge hatte Krawall angefangen, Antonio war mitten hineingeraten, es hatte Auseinandersetzungen mit der Polizei gegeben, Menschen waren von Pferden niedergetrampelt worden. Seine tödlichen Verletzungen hatte er nicht von einer Polizeiwaffe erlitten, sondern von einem Jagdmesser. Als würde das eine Rolle spielen – Antonio war trotzdem tot.
Und keine drei Monate später hörte Papas Herz auf zu schlagen.
Papa hatte eigentlich nach Amerika gehen wollen, als die Kinder noch klein waren, aber Mimoo hatte sich geweigert. Sie wollte den Sprung nicht mittellos wagen. Unvorstellbar! Auszuwandern und ohne Geld ein neues Leben anzufangen. Assurdo!
Sie würde doch nicht als bettelarmer Habenichts nach Amerika gehen. Aber wir sind doch bettelarme Habenichtse, Mimoo, hatte der famose Alessandro erwidert. Weiter herumgestritten hatte er nicht, es wäre sinnlos gewesen. Sie würde nur stolz und aufrecht amerikanischen Boden betreten, nicht mit ausgestreckter Hand auf den Knien rutschend, hatte Ginas Mutter erklärt. Papa hatte ihr zugestimmt, aber dann war er gestorben.
Ein Teil des Geldes, das die Attavianos gespart hatten, war für Alessandros Begräbnis draufgegangen. Doch Mimoo hatte ihrem Mann versprochen, sie würde auf jeden Fall nach Amerika auswandern, und so hatten sich die drei verbliebenen Attavianos einen Monat nach seiner Beerdigung gerade genug Geld für drei Zwischendeckbetten geliehen. Mit »geliehen« meinte Gina genau genommen »gestohlen«, denn die ältere Schwester ihrer Mutter hatte das Geld aus der verschlossenen Küchenkassette ihres eigenen, blinden Vaters genommen und dafür auf einem Zettel, den er nicht lesen konnte, vermerkt, dass die »Schulden« beglichen würden, sobald Mimoo und ihre Kinder in dem neuen Land Fuß gefasst hatten.
Salvo, der Zweitälteste, hatte Gina, dem Küken, erzählt, dass die Massachusetts Bay, die in den Bostoner Hafen führte, fast so riesig sei wie das Meer, aus dem sie gespeist wurde. Eine gewaltige Fläche, deren Wasser aus drei Ecken des Erdballs stammte und die besprenkelt war mit flachen, grünen, felsigen Inseln. Leuchttürme reckten sich von den Felsen empor, und genau diese Leuchttürme und diese Inseln wollte Gina jetzt unbedingt sehen. »Und genau da liegt das Problem, Gina«, sagte Salvo. »Es sind keine Inseln zu sehen. Du meinst, Leuchttürme sollen dir mit ihrem Feuer den Weg zeigen? Bloß kannst du in diesem Nebel auch die nicht sehen. Und so ist das immer. Du siehst nichts, bis die Felsen, auf die du zusteuerst, bereits vor deiner Nase aufragen. Genau wie im wahren Leben.«
Gina wandte sich mit einem missbilligenden Blick von ihrem Bruder ab, was dieser zufrieden zur Kenntnis nahm, als hätte er damit exakt die erwünschte Reaktion erreicht. Sie sah aufs Meer hinaus und überlegte, mit welchen Instrumenten sich ein Schiff wohl navigieren ließe, wenn man in drei Metern Entfernung schon nichts mehr erkennen konnte. Sofern es solche Instrumente überhaupt gab. Bitte, lass uns nicht gegen einen dieser Felsen rammen, wenn wir doch schon fast da sind. Wie groß war die Gefahr?
»Wenn du nicht sehen kannst, wohin du fährst? Ich würde sagen, überaus groß.« Salvo grinste. Er konnte meisterhaft grinsen. Seine elastischen Gesichtszüge waren ideal zum Fratzenschneiden und für spöttische Grimassen. Seine herablassende Art war ja so nervig.
Gina ging vom Heck zur Brücke, um mit dem zweiten Offizier zu sprechen, der bewegungslos wie ein Denkmal am Bug stand und durch ein Fernrohr blickte. Welch ungeheure Konzentration. Sie erzählte ihm, was ihr Bruder gesagt hatte, und bat ihn, es zu korrigieren.
»Er hat recht.«
»Und warum fährt das Schiff dann nicht gegen einen Felsen?«
Der Adjutant zeigte es ihr. Auf den blauen Flächen der Karte waren schwarze ovalförmige Eintragungen mit roten Kreisen markiert. »Denen versuchen wir auszuweichen.«
»Und wie?«
»Indem wir von den Gefahrenstellen wegnavigieren. Dafür haben wir das hier.« Er tippte ungeduldig auf die Karte.
Gina wandte sich von ihm ab und ging davon. »Was ist, wenn Sie nicht wissen, wo es gefährlich ist?«, rief sie ihm zu. »Wenn Sie keine Karte haben?«
»Na, wer nicht einmal weiß, wohin er fahren will, wird wohl kaum so eine Reise antreten, oder?«, rief der junge Mann altklug zurück.
Das Schiff schien weiter schnurgeradeaus zu fahren, aber wissen ließ sich das nicht. Das Wasser der Bucht sah genauso aus wie der Himmel darüber, grau wie Granit. Es blies ein scharfer, böiger Wind, und die See war stark bewegt.
Ginas Mutter musste sich erneut übergeben. Abgesehen von dem ständigen Erbrechen war die Überfahrt ziemlich ereignislos verlaufen. Mimoos Magen hielt einfach nicht aus, was Salvo und Gina ohne Schwierigkeiten ertrugen. Alt zu sein ist ganz schön hart, dachte Gina und brachte ihrer Mutter ein frisches Handtuch und eine neue Papiertüte. Dennoch war es außerordentlich mutig von Mimoo, mit fast fünfundvierzig in der Ferne nach Möglichkeiten zu suchen, von denen noch keiner wusste, ob es sie überhaupt gab.
»Lass das, es gehört sich nicht, so aufgeregt herumzuspringen«, sagte Salvo zu Gina, die über das Batteriedeck hüpfte und die Meeresluft förmlich einsaugte.
»Es gehört sich nicht, so wie du nicht aufgeregt zu sein«, erwiderte sie. »Die Segel sind gesetzt und blähen sich im Wind, Salvo! Wenn man dich so sieht, fragt man sich doch, warum wir überhaupt losgefahren sind.«
»Ja, warum eigentlich«, murmelte Salvo.
»Weil Papa es wollte. Möchtest du dich etwa gegen den Willen deines Vaters stellen?«
»So hatten wir es nicht geplant«, erwiderte ihr Bruder.
Gina wollte dem griesgrämigen Salvo gegenüber nicht zugeben, wie stark ihre eigene Begeisterung schwand, wenn sie nicht sehen konnte, wohin sie fuhr. Sie hatte sich das alles anders vorgestellt – reichlich Sonnenschein, glitzernde Lichter, vielleicht die hinter der Skyline untergehende Sonne, hohe Gebäude, die sie begrüßten, eine aufregende Einladung in das neue Leben, eine mühselige Reise, die ihr Ende in einer farbenprächtigen Landschaft fand. Mit grauem Nebel hatte sie nicht gerechnet.
Sie blieb an der Reling stehen und suchte nach einem Zeichen, hoffte auf ein Zeichen.
Genau wie in Papas Traum würden seine verbliebenen Kinder sich ein völlig anderes Leben in diesem unvorstellbar großen Land aufbauen. Während Mimoo gespart hatte, wo nur irgend möglich, hatte Papa seine Kinder Lesen gelehrt, damit sie keine Analphabeten sein würden. Und dann brachte er ihnen Englisch bei. Wenn Papa doch nur nicht gestorben wäre. Ach was! Gina konnte lesen, und sie konnte ein wenig Englisch sprechen. Der Wind, der ihr hier auf der Luvseite über das offene Meer entgegenblies, zerzauste ihr welliges Haar. Mimoo hatte sie zwar ermahnt, es zusammenzubinden, aber es lag etwas unwiderstehlich Faszinierendes in diesem Bild von sich selbst, wie sie dort in dem hellblauen Kleid wie ein Schilfrohr stand, die langen, gebräunten Arme wie Halme auf dem Handlauf, während ihr espressofarbenes Haar vor dem stahlgrauen Hintergrund in der Gischt und dem Dunst herumflatterte. Wenn doch nur ein Maler in einem Bild festhalten könnte, wie sie so nach Amerika Ausschau hielt, die Haare wild im Wind. Es gefiel ihr, sich dieses Bild in ihrem Kopf vorzustellen. Sicher, wir könnten an einem Felsen zerschellen, wie Salvo es vorhergesagt hat, aber genau so werde ich in meinen letzten Minuten hier stehen,...




