E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Simons Vor Mitternacht
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-17519-1
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-641-17519-1
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
der letzten Jahre
Ida Simons überlebte die Nazis, musste eine Karriere als Konzertpianistin wegen der Folgen ihrer KZ-Haft abbrechen und schrieb einen Roman, der ganz Holland bewegte. Nach dem frühen Tod der Autorin im Jahr 1960 fiel der Roman über fünfzig Jahre in Vergessenheit, bevor er 2014 wiederentdeckt wurde - mit riesengroßem Erfolg.
Antwerpen, in den 1920er Jahren: Als die zwölfjährige Gittel nach dem Besuch der Synagoge zu der Bankiersfamilie Mardell eingeladen wird, weiß sie noch nicht, dass dies der Anfang vom Ende ihrer Kindheit ist. Sie, die leidenschaftlich gern Klavier spielt, darf endlich auf einem Steinway-Flügel spielen. Immer häufiger verbringt sie ihre Vormittage in dem vornehmen Haus auf der anderen Seite der Allee. Genießt die ernsthaften Gespräche über Kunst und Musik, die Eleganz des großbürgerlichen Lebens, nur um danach wieder in die umtriebige Welt ihrer eigenen Großfamilie zurückzukehren. Mit Lucie, der einzigen Tochter der Mardells, die fast dreißig und immer noch unverheiratet ist, verbindet sie rasch eine Freundschaft. Die soll jedoch schon bald auf den Prüfstand gestellt werden.
Mit großer Sprachkraft, Sensibilität und feinem Humor schildert Ida Simons die berührende Geschichte eines jüdischen Mädchens, das sich die Frage stellen muss, wem man noch vertrauen kann. Und hält dabei ein lebendiges Bild jüdischen Lebens in der Zeit zwischen den Kriegen fest.
IDA SIMONS (geb. Rosenheimer), 1911 in Antwerpen geboren, war Schriftstellerin und Konzertpianistin. Nach dem Einmarsch der Deutschen wurde sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn über das Durchgangslager Westerbork ins KZ Theresienstadt deportiert. In beiden Lagern gab sie Konzerte. Nach dem Krieg musste sie ihre Karriere als Pianistin aufgeben, da ihre angegriffene Gesundheit den Strapazen eines Solistenlebens nicht mehr gewachsen war. 1959 erschien der Roman 'Vor Mitternacht', dessen Erfolg Ida Simons nicht mehr voll miterleben durfte. Sie starb im Jahr darauf im Alter von nur 49 Jahren.
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II
Niemand wartete auf dem Bahnsteig, um uns abzuholen, und meine Mutter sagte, dass sie von vornherein gewusst habe, dass es ein Nein-Tag würde. An einem Nein-Tag ging alles schief, und Ja-Tage waren ganz selten.
Wir schleppten unsere Koffer zum Ausgang, und im Takt unserer Schritte begann meine Mutter in düsterem Ton zu deklamieren:
Hark! Hark!
The dogs do bark!
The beggars are coming to town …
some in rags,
and some in jags
and one in a silken gown.
Sie wusste, dass ich den Kinderreim nicht ausstehen konnte, aber sie hätte mich nicht so oft damit geärgert, wenn sie die verschneite Straße gesehen hätte, mit den hohen gelben Häusern rechts und links, deren Spitzdächer in eine tief hängende Wolkendecke pieksten, die von der untergehenden Sonne rot und lila gefärbt wurde.
Jedes Haus hatte einen Vorgarten, ein Kiesquadrat und mittendrin eine strenge Rabatte mit rosaroten Geranien.
Man hatte die Bewohner gewarnt, dass die Bettler kämen, und sie hatten vor allen Fenstern die Rollläden heruntergelassen, aber ihre Angst sickerte durch die Ritzen in die Vorgärten, wo die Hunde Wache hielten. Bouviers und Hirtenhunde, und diese großen weißen Doggen, die aussehen, als hätte eine böse Riesenhand sie mit Tinte bespritzt. Ab und zu heulte einer der Hunde, die schon von Weitem die Bettler herannahen hörten, lange, bevor ihr wütendes Geschrei und das Schlurfen wundgelaufener Füße die Straßen füllten. Es waren Hunderte: Einige hinkten auf Krücken oder zogen ein Holzbein nach, andere hatten einen schwarzen Fetzen vor der leeren Augenhöhle. Sie schrien, dass sie Hunger hätten, und schüttelten drohend die Fäuste zu den gelben Häusern hin, doch wenn sich einer auf den Gehweg wagte, knurrten und kläfften die Hunde. Sie rissen ihre geifernden Fänge auf und zeigten die Zähne. Machtlos gefangen in Hunger und Lumpen, mussten die Bettler weitertrotten, sie johlten und grölten, doch gegen die Hunde konnten sie nichts ausrichten.
Dann kam mit einem Mal der Bettler mit dem seidenen Gewand vorbei. Aus aprikosenfarbener Seide war es, genauso zerrissen und ramponiert wie die grauen Fetzen der anderen, und weniger wärmend … aber es schimmerte im Abglanz der sinkenden Sonne, und dieses Schimmern konnten die, die am nächsten neben dem in dem seidenen Gewand schlurften, nicht ertragen, neben ihm wirkten ihre eigenen Lumpen noch schäbiger und schmutziger.
Haarige Klauen schlitzten zuerst die Risse in der morschen Seide weiter auf und krallten danach in die bleiche Haut darunter. Als der mit dem seidenen Gewand nackt und still im Schnee lag, setzten die anderen ruhig und fast glücklich ihren Weg fort. Die letzten, die am schlechtesten zu Fuß waren, hatten ihre Freude daran, mit ihren Krücken nach der reglosen Gestalt zu schlagen.
Als es wieder still ist in der Straße, wagen sich auch die Hunde hinter den Zäunen hervor …
Meine Mutter und ich sagten zueinander, dass vielleicht draußen vor dem Bahnhof jemand auf uns wartete, obwohl wir es besser wussten. Meine Großmutter konnte uns nur auf eine einzige Art signalisieren, dass sie von unserem Besuch gar nicht erbaut war, nämlich, uns nicht abholen zu lassen. Dass sie uns das nicht ins Gesicht sagen konnte, war ihre eigene Schuld.
Bis auf meine Onkel Charlie und Fredie waren all ihre Kinder verheiratet, und es wäre viel vernünftiger und preiswerter für sie, in eine kleinere Wohnung umzuziehen, aber sie liebte das große Haus, das an einer der breitesten Alleen der Stadt lag, und sie wehrte sich mit Händen und Füßen gegen einen Umzug. »Ich bleibe nur in diesem unbequemen Kasten wohnen, damit all meine Kinder und Enkelkinder nach Hause kommen können, wenn sie Lust dazu haben«, sagte sie, und an diese Aussage war sie nun einmal gebunden. Kündigte meine Mutter unseren Besuch an, musste uns Großmutter willkommen heißen, auch wenn es nicht von Herzen kam. Dass das große Haus mit seinen vielen steilen Treppen und der Küche im Souterrain für eine alte Dame nicht gerade ideal war, störte sie nicht, dafür hatte sie Rosalba.
Wir mussten ein Taxi nehmen, denn wir hatten viel mehr Gepäck als sonst dabei, weil wir ja dieses Mal sechs Monate bleiben wollten.
Als der Chauffeur vor dem Haus anhielt, entfuhr es meiner Mutter: »Auch das noch!« Vor dem Haus stand Rosalba und unterhielt sich mit Oma Hofer. Der Chauffeur lud unsere Koffer aus, und zu unserer Erleichterung kramte Rosalba in ihrer Schürzentasche und bezahlte das Taxi. Neben Oma Hofer wirkte sie noch kleiner und schmächtiger als sonst. Letztere war eine imposante Frau, die in Statur und Kleidung viel von einem wohlbestallten Leichenkutscher hatte und von der in unserer Familie behauptet wurde, ihre Zunge sei aus Schmirgelpapier.
Rosalba küsste uns, und Oma Hofer sagte: »So, so, da sind die zwei ja schon wieder, ich dachte, ihr wärt gerade erst nach Hause.« Meine Mutter fragte lammfromm, wie es den Familien ihrer beider Schwestern ginge, beide Schwiegertöchter von Oma Hofer. »Zum Glück viel Geschrei«, antwortete diese, »also sind alle gesund.«
Sie packte mich am Kinn, drehte mein Gesicht ins Licht und erklärte, ich sähe meinem Vater zum Verwechseln ähnlich. Rosalba sagte, dass ich dann einem sehr guten Menschen ähnlich sehe.
»Ach was, ein guter Mensch«, höhnte Oma Hofer. »Isst kein Glas. Trinkt keine Tinte und wirft die Straßenbahn nicht um. Armut ist keine Schande, aber eine Ehre ist sie auch nicht.«
Darauf gab sie Rosalba einen so festen Klaps auf den Rücken, dass diese fast umfiel, und marschierte, ohne uns eines Grußes zu würdigen, wie ein Grenadier die Straße hinunter.
Wie und wo Rosalba in die wilde Familie meiner Mutter hineingeraten war, ist nicht bekannt. Zeit ihres Lebens nahm jeder von uns ihre bescheidene Anwesenheit und ihr treues Sorgen als selbstverständlich hin. Sie gehörte zweifellos zum Inventar. Sie war Protestantin und kam aus England und lernte keine andere Sprache dazu. Wie es ihr gelungen ist, sich in den fernen Ländern zu verständigen, in die sie meiner Großmutter folgte, um deren Haushalt zu führen, ist eines der vielen Rätsel, die ihre kleine Gestalt umgaben. Über ihren Glauben schwieg sie sich aus, und in ihre Kirche ging sie nicht mehr. Aber sie wachte streng über unser Seelenheil. In keiner Küche, in der je eine Jüdin regierte, werden die Speisevorschriften gewissenhafter eingehalten worden sein als in der, wo Rosalba so vorzüglich und absolut koscher kochte.
Jeden Tag wurde eine Komödie aufgeführt, um Rosalba glauben zu machen, wir wüssten nicht, dass sie Analphabetin war. Immer wieder erfand Großmutter mit einem heftigen Zwinkern zu allen Anwesenden eine neue Entschuldigung, um ihr die Zeitung vorlesen zu können, und wenn an Weihnachten ein Brief ihres einzigen Bruders aus England kam, wurde er von einem von uns beantwortet, weil Rosalba zufällig gerade ihre Brille zerbrochen hatte.
Sie war nicht dumm, aber keiner von uns hat je versucht, ihr die Kunst des Lesens beizubringen, wir fühlten, dass meine Großmutter das nicht gern gesehen hätte.
Während wir das Haus betraten, erzählte Rosalba, Großmutter und Oma Hofer stünden wieder einmal auf Kriegsfuß. Die beiden Frauen führten einen erbitterten Kampf um den ersten Platz in den kleinen Herzen des halben Dutzends Enkelkinder, an dem sie jeweils gleiche Anteile hatten. Großmutter saß mit einer Handarbeit in ihrem Lehnstuhl am Fenster. Sie war klein und untersetzt und trug immer Kleider aus schwerer schwarzer Seide, geschmückt mit blütenweißen Spitzenjabots, wie sie die selige Königin Victoria zu tragen pflegte. Sie fand, dass ihr Leben in vielerlei Hinsicht dem der Monarchin glich. Sie sprach gern von sich als der Schwiegermutter Europas und war ebenfalls jung Witwe geworden. Ihren Witwenstand trug sie voller Mut – um nicht zu sagen, frohgemut. Sie hatte stechende dunkle Augen, und die Haut ihres runden Gesichtchens war faltenlos und flaumweich wie die eines jungen Mädchens; eine Tatsache, auf die sie stolz war und gern aufmerksam machte.
Rosalba brachte Kaffee und Kuchen herein und meine Mutter wusste mit so viel Geschick kein gutes Haar an Oma Hofer zu lassen, dass unsere Gastgeberin unwillkürlich ihre Verstimmung über unseren Besuch vergaß.
Rosalbas fein inszeniertes Ablenkungsmanöver hatte wunderbar geklappt.
»Ach, wie nett, dass ihr wieder da seid«, sagte Großmutter, und danach wurde der letzte Familienklatsch umständlich abgehandelt.
»Wie geht es denn jetzt mit Isi und Sonja?«, fragte meine Mutter lächelnd.
»Geh du mal im Garten spielen«, wies mich Rosalba an; das musste ich immer, wenn über das schwarze Schaf der Familie, den Mann meiner jüngsten Tante, gesprochen wurde. Er nahm es mit der ehelichen Treue nicht allzu genau, und wenn man ihm deshalb Vorwürfe machte, antwortete er stets: »Selbst wenn ein Mensch den schönsten Rembrandt der Welt besitzt, möchte er doch ab und zu ein anderes Gemälde betrachten.« Oder: »Wenn ein Mann eine Frau liebt, muss er doch nicht alle anderen Frauen hassen.« Dagegen konnte der unbequemste Besserwisser nur wenig einwenden.
Ergeben stieg ich die Stufen zum Souterrain hinab und ging durch den dunklen Flur, der zum Garten führte, einem dreieckigen Fleckchen Erde, rundum von hohen Mauern umgeben. Nicht der kleinste Sonnenstrahl konnte dorthin gelangen, und alles, was angepflanzt wurde, ging sofort...