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E-Book, Deutsch, 219 Seiten

Sina TransAtlantik

Hans Magnus Enzensberger, Gaston Salvatore und ihre Zeitschrift für das westliche Deutschland

E-Book, Deutsch, 219 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4958-2
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Das Zeitschriftenprojekt 'TransAtlantik' und die Ideengeschichte der Bundesrepublik.

Ein gleichermaßen anspruchsvolles wie liberales, ironisches wie kosmopolitisches Magazin – dies stand Hans Magnus Enzensberger und seinem Freund Gaston Salvatore im Sinn, als sie Ende der siebziger Jahre ihr Konzept einer neuen Zeitschrift entwarfen. Ihr Vorbild war der 'New Yorker', das Leitorgan des intellektuellen Amerika. Der Titel des im Oktober 1980 erstmals erschienenen Magazins bringt seine programmatische Westbindung auf den Punkt: 'TransAtlantik'. Autorinnen und Autoren waren u. a. Rainald Goetz, Irene Dische, Martin Mosebach und Christoph Ransmayr. Kai Sina porträtiert eine der ideengeschichtlich aufschlussreichsten publizistischen Unternehmungen der alten Bundesrepublik. Nach den revolutionären Kämpfen und ideologisch verbissenen Debatten der sechziger und siebziger Jahre sollte 'TransAtlantik' ein Medium der offenen Gesellschaft sein. Geprägt war dieses Vorhaben durch den spielerischen Selbstentwurf einer mündigen Leserschaft, die – nach einem Zeitalter der Kritik und der Negation – versuchsweise 'Ja' zur westlichen Moderne sagt.
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1. Ein New Yorker für Deutschland: Planungen
Am ausführlichsten und detailliertesten schildern Hans Magnus Enzensberger und Gaston Salvatore ihren Plan für die neu zu gründende Zeitschrift TransAtlantik in einem 29 Seiten umfassenden, engzeilig getippten Konzeptpapier vom Juni 1979, das sich heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befindet. Es handelt sich um eine höchst aufschlussreiche Quelle, die überdies von großer Lust am Projektieren zeugt. Sie enthält weitreichende Beobachtungen über die Mentalität der Westdeutschen an der Schwelle zum neuen Jahrzehnt, die gegenwärtige kulturelle, im engeren Sinne publizistische Gesamtsituation – und liest sich streckenweise eher wie ein pointierter, mitunter auch polemischer Essay denn als ein streng sachbezogenes, nüchternes Exposé. Vor dem Hintergrund ihrer allgemeinen Kulturdiagnose wiederum legen die Verfasser konkret und äußerst kleinteilig die Zielsetzung und die Anforderungen, die Blickwinkel und Schreibweisen, die Gestaltung und Vermarktung des von ihnen geplanten Magazins dar, wobei eigentlich jede Zeile von dem Anspruch durchdrungen ist, die Sache groß zu denken: »Oben ist immer noch Platz« – dies sei der »Wahlspruch« gewesen, erinnert sich Rainald Goetz aus der rückwärtigen Perspektive des Jahres 1999, unter dem TransAtlantik dereinst angetreten sei.[25] Zumindest Enzensberger konnte bei der Erarbeitung des Konzeptpapiers bereits auf beträchtliche Erfahrungen und einiges Vorwissen zurückgreifen. Nicht nur hatte er 1965 die Zeitschrift Kursbuch gegründet (gemeinsam mit Karl Markus Michel, der ebenfalls der Redaktion von TransAtlantik angehören sollte) und über zehn Jahre herausgegeben.[26] Darüber hinaus war er als minutiöser Beobachter der bundesdeutschen Medienlandschaft und zudem als Medientheoretiker bekannt. Bereits in den Fünfziger- und Sechzigerjahren hatte er unter anderem den Spiegel und die Frankfurter Allgemeine Zeitung kritischen Analysen unterzogen,[27] während er 1970 der Öffentlichkeit einen an Bertolt Brecht anknüpfenden »Baukasten zu einer Theorie der Medien« präsentierte. Ohne je einer schlichten »Manipulationstheorie«[28] das Wort zu reden, waren diese Arbeiten geprägt von Impulsen der Kritischen Theorie – was sich mit dem neuen Projekt, für viele provozierend, fundamental ändern sollte.[29] Für das westliche Deutschland
»TRANSATLANTIK. Projekt einer Zeitschrift für das westliche Deutschland«: Schon der Titel des Papiers ist in seiner konkreten Wortwahl bedenkenswert. Das ›westliche Deutschland‹ ist schließlich nicht gleichzusetzen mit der politischen Einheit ›Westdeutschland‹. Gerade im Zusammenhang mit dem in Großbuchstaben getippten Obertitel wird ersichtlich: Das Adjektiv ›westlich‹ wird hier im Sinne einer politisch-kulturellen Grundorientierung verstanden, ja konkreter noch als Ausrichtung an einer US-amerikanischen Ausdrucksform und Denkweise. Dass die Verfasser des Papiers eine solche in Deutschland zumindest in Ansätzen bereits realisiert sehen, deutet sich im Untertitel, in der Zueignung »für das westliche Deutschland«, bereits an. Der auf diese Weise gleichzeitig erhobene Anspruch auf Repräsentativität wird gestützt durch die assoziative Nähe der Formulierung zu einem der bundesrepublikanischen Leitmedien schlechthin, nämlich der Frankfurter Allgemeinen, deren Selbstverständnis in ihrem Untertitel unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wird: Zeitung für Deutschland. Was im Titel TransAtlantik anklingt, macht die Präambel des Papiers explizit. »Eine Zeitschrift, die fehlt«, gelte es nun ins Leben zu rufen, dies stellt gleich der erste Satz fest, und zwar auf der Grundlage »einer Analyse der gesellschaftlichen und kulturellen Situation der Bundesrepublik«. Nicht, was aus Deutschland werden solle, sondern was es bereits sei, bildet demnach die Ausgangsbasis der Zeitschriftenplaner. Auf ein »exaktes, statistisches Kalkül« könne man sich dabei zwar nicht berufen, das wäre nichts anderes als »Hochstapelei«. Man verlasse sich vielmehr auf die eigenen »Beobachtungen und Vermutungen«, denn, so folgert man im eher alltagspraktischen Sinn, »Wünsche werden nicht errechnet, sondern (mit einigem Glück) erraten«.[30]   Die journalistische Lage überblickend:
Gaston Salvatore und Hans Magnus Enzensberger
auf einer Fotografie von Isolde Ohlbaum   Hervorgehoben durch Unterstreichungen der Kernwörter folgen auf die Eingangspassage einige Charaktermerkmale, die Enzensberger und Salvatore den ›westlichen Deutschen‹ zuschreiben. So betonen sie an erster Stelle die gehobene Anspruchshaltung der Bewohnerinnen und Bewohner der BRD, und zwar nicht nur im Blick auf ihre »Konsum- und Reisegewohnheiten« und andere Aspekte des Ökonomischen. Aufgrund eines nunmehr »über dreißigjährigen Friedens«, »enorm gewachsenen gesellschaftlichen Reichtums« und »eines zunehmenden Selbstbewußtseins« suche die »Nation von Aufsteigern« nach einer »kulturellen Identität«.[31] Dies zeige sich darin, dass der Neureiche – man spricht distinguiert vom nouveau riche – aufgehört habe neu zu sein und nunmehr höhere Bedürfnisse in sich entdecke. Der zwar wohlhabende und selbstbewusste, aber noch kultur- und identitätslose Westdeutsche wolle den Kleinbürger der Nachkriegszeit in sich überwinden, die »innere Unsicherheit«, die »Lächerlichkeit«, die »Banalität«, den »kleinkarierten Zuschnitt« seines Daseins.[32] Es folgen einige milieuspezifische Beobachtungen: Vor allem in der »upper middle class« (eine genuine »upper class« habe es in Deutschland nie gegeben) sei man, trotz einer gewissen »inneren Unsicherheit« eifrig darum bemüht, »ein bißchen mehr Weltkenntnis und Lebensart zu erwerben«. Der deutsche Stiernacken sei nunmehr ein Relikt der Vergangenheit, ja vollkommen »out«.[33] Der Befund ist ideenhistorisch signifikant: Die Formlosigkeit, die Provinzialität und der Stilmangel der Bundesrepublik, die Intellektuelle wie Karl Heinz Bohrer noch Mitte der Achtzigerjahre wortreich beklagen,[34] sehen Enzensberger und Salvatore im Jahr 1979 bereits nahezu überwunden. Man gebe sich in Westdeutschland »urbaner, ironischer, zivilisierter denn je zuvor«, was sich auch in einem sich zunehmend steigernden Interesse an der Kultur spiegele – einer Kultur, die erfreulicherweise gar nichts mehr habe von bildungsbürgerlicher Verstockt- und Verstaubtheit, die weit über die öde Trias »Staatsoper?/?Beethoven?/?Bundespresseball« hinausreiche. Eine Zeitschrift allerdings, die genau diesen neuen Ansprüchen und Bedürfnissen gerecht werde, die sie »aufgreifen« und – darauf kommt es besonders an – »entwickeln« könne, gebe es in Deutschland bisher nicht.[35] Die Lücke, die TransAtlantik publizistisch füllen will, wird von den Verfassern des Papiers sodann genau umrissen, ohne dabei allerdings zu versäumen, die publizistische Gesamtsituation scharf abzuwerten. Magazine wie Madame oder Der Herr seien lediglich »dilettantische Kopien eines nicht vorhandenen Originals«, sie imitierten nur das, was sie für einen internationalen Stil, für weltläufige Eleganz hielten. Tatsächlich atmeten die genannten Zeitschriften aber »die Bonner Kleinstadtluft«, es seien Geburten aus dem Geist eines »verschwitzten Strebertums« und »kulturellen Kretinismus«. Unterhalten könnten sie nur »heruntergekommene Herrenreiter« – in die Jahre gekommene Nazis, so lässt sich assoziieren – und ihre »hilflosen Gattinnen«. Jeder intellektuelle Anspruch sei ihnen fremd, und ein individueller Ton gehe ihnen völlig ab.[36] Eher schon entsprächen dem konstatierten Gesellschaftszustand Druckerzeugnisse wie Geo, Essen und Trinken, Schöner Wohnen oder sogenannte Männermagazine wie Lui oder Playboy. Aber es gelinge ihnen nur durch »Spezialisierung« die jeweilige Leerstelle im Zeitschriftensegment zu füllen: »Die Suche nach der Marktlücke führt zur Sektorialisierung der Kultur; vorhandene Zielgruppen sollen möglichst risikolos dingfest gemacht und bedient werden.« Was dabei aus dem Blick gerate, seien »neue, noch nicht definierte Bedürfnisse« – also gerade das, so darf man schließen, was TransAtlantik bei seinem Publikum zwar ebenfalls ›aufgreifen‹, aber zugleich auch ›weiterentwickeln‹ möchte. Aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus vermieden es die Spezialjournale für Kunstliebhaber, Theaterbesucher, Bücherfreunde und so weiter, mutig ins Offene zu gehen.[37] Was aber ist mit den großen Publikumszeitschriften, den überregionalen Tages- und Wochenzeitungen? Sie werden im Konzeptpapier ebenfalls berücksichtigt. Zwar sei auch in ihnen momentan ein Ausbau der Kulturberichterstattung zu bemerken (genannt werden die expandierenden Kulturteile des Stern, des Spiegel, der F. A. Z. und der Zeit), dieser sei aber vornehmlich aufs Quantitative beschränkt. Verantwortlich dafür sei ein beschränkter, zu enger und vor allem zu traditioneller Kulturbegriff, der sich in einem »Übergewicht der Rezensionen« und einer gewissen »Betriebsblindheit von Berufskritikern« niederschlage. Der »neuen Lage« der bundesdeutschen Mentalität könne man so ebenfalls nicht gerecht werden, man laufe den »Zielgruppen« lediglich...


Sina, Kai
Kai Sina, geb. 1981, studierte Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft, Sprachwissenschaft und Mediävistik sowie Philosophie in Kiel. Er ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Komparatistik an der Universität Münster. Ausgezeichnet mit dem Preis der Fritz Behrens Stiftung 2016.
Veröffentlichungen u. a.: Kollektivpoetik. Zu einer Literatur der offenen Gesellschaft in der Moderne (2019); Susan Sontag und Thomas Mann (2017).

Kai Sina, geb. 1981, studierte Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft, Sprachwissenschaft und Mediävistik sowie Philosophie in Kiel. Er ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Komparatistik an der Universität Münster. Ausgezeichnet mit dem Preis der Fritz Behrens Stiftung 2016. Veröffentlichungen u. a.: Kollektivpoetik. Zu einer Literatur der offenen Gesellschaft in der Moderne (2019); Susan Sontag und Thomas Mann (2017).


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