E-Book, Deutsch, 460 Seiten
Sommer Die Schuld himmelblauer Erdbeeren
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-347-14679-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 460 Seiten
ISBN: 978-3-347-14679-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sabine Sommer, geboren 1972, lebt in Zürich
Autoren/Hrsg.
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Teil zwei
Zwei Jahre später
Alex’ neues Universum
„Unglaublich“, murmelte ich und starrte dem jungen Mann nach, der mir gerade seine hagere, nicht gerade vor Sauberkeit blitzende Hand hingestreckt hatte.
„Hast du mir etwas Geld, um was zu essen zu kaufen?“, hatte er gefragt und ein leidendes: „Ich sterbe fast vor Hunger.“, angefügt.
„Nein.“, hatte ich erwidert, mit demonstrativer Pädagogik in der Stimme, unangenehm berührt von meiner eigenen Härte.
Normalerweise nehme ich ja riesige Umwege auf mich, wenn ich einen Bettler oder auch nur einen Straßenmusikanten sehe, um mir meine Schuldgefühle vom Leib zu halten. Dieses Mal aber hatte es mich kalt erwischt. Dieses Mal hatte ich nicht ausweichen können. Wie aus dem Nichts war der Mann vor mir aufgetaucht und hatte mich gezwungen, zu meiner Unbeugsamkeit zu stehen. Die auch berechtigt ist. Schließlich ist bekannt, dass Menschen auf der Gasse meist Geld vom Staat erhalten und es darum anzunehmen ist, dass Spenden sich nicht in Nahrung, sondern in bewusstseinserweiternde Substanzen verwandeln würden. Nun gut, ich hätte ihm was zu Essen kaufen können, doch soweit hatte ich in meiner Überrumpelung nicht gedacht.
Was mich aber an unserer Begegnung wirklich verblüffte, war, dass mich der Mann nach meiner unwirschen Finanzverweigerung freundlich angelächelt und mir nett einen schönen Tag gewünscht hatte. In einem Tonfall, als hätte ich eben einen Sack glänzender Goldtaler vor ihm ausgeschüttet.
Dieses Phänomen begegnete mir nicht zum ersten Mal. Immer wieder bekam ich auf ein, schweren Herzens ausgesprochenes: „Nein!“, von einem Obdachlosen einen „Schönen Tag!“ gewünscht. Immer wieder wurde meine Abfuhr mit einem Lächeln quittiert.
Wenn man nun bedachte, dass dieser Mann kurz vor dem Verhungern stand oder, wahrscheinlicher, komplett auf Entzug war, schien es mir ein geradezu übermenschlicher Akt, mit einem „Trotzdem danke und einen schönen Tag noch.“, auf meine Abfuhr reagieren zu können, statt mich ein herzloses und egoistisches Luder zu schimpfen. Wie schaffte man ein solches Ausmaß an Höflichkeit, in einem solch desolaten Zustand?
Wurden in der Notschlafstelle seit neustem spirituelle Lehrer beschäftigt, die lehrten, wie die Notschläfer sich für das nächste Leben ein besseres Karma erarbeiten konnten? Oder wurden dort heutzutage nicht nur saubere Spritzen, sondern auch Marketingschulungen angeboten? Kurse, in denen die Bewohner den Ertrag ihrer Betteltouren zu optimieren lernten und übten, durch Freundlichkeit und Anstand eine stabile Kundenbeziehung aufzubauen, die sich beim nächsten Zusammentreffen in Barem auszahlen würde?
Die Schwerkraft dieser Gedanken ließ meinen Blick nach unten sinken und auf zwei kleinen Kinderköpfen landen, die – samt dem Rest ihrer kleinen Körper – schlafend im Kinderwagen ruhten. Was für Anblick! Denn zwei gleichzeitig schlafende Kinder sind die Kür meines Mutterseins. In diesen seltenen Momenten kann ich Studien über das Verhalten pädagogisch wertvoll behandelter Obdachloser machen, ohne dabei gleichzeitig ein Sabermaul abzuwischen und mit der anderen Hand die stillfreudige Brust auszupacken.
Ich befand mich gerade in einem Paradies der Selbstbestimmtheit, unerwartet aufgetaucht vor diesem Einkaufszentrum und es galt, dieses Paradies in vollen Zügen zu genießen, denn man wusste ja nie wann das erste Kind erwachen……
“Mama, mir ist schlecht…!“ Und dann erbrach sich meine Tochter in hohem Bogen über meine Schuhe, meine Handtasche und den Kinderwagen. Erschrocken sprang ich zur Seite, worauf die Erschütterung des Wagens mein dreimonatiges Baby Konrad aaufschrecken und wie am Spieß brüllen ließ. Ich hob meine kotzende Tochter auf den Arm, strich Konrad über den Kopf und begann wie von der Tarantel gestochen, meine Handtasche nach einer Tüte und Feuchttüchern zu durchsuchen, die ich sogar - was selten vorkam, weil meine Tasche ja immer viel zu groß ist - auf Anhieb fand und ich so meiner Tochter die Tüte unter den Mund halten konnte, um für weitere Schwalle des Erbrechens gewappnet zu sein, währenddessen ich mit der andern Hand meine Schuhe mit Feuchtetüchern zu reinigen und meine mittlerweile beide brüllenden Kinder mit bemüht sanften Worten zu beruhigen versuchte. Während ich, mehr hektisch als beruhigend, damit beschäftigt war, alles wieder sauber zu kriegen und Konrad zu versichern, dass er gleich auf meinen zweiten, unbesetzten, Arm dürfe, klingelte mein Telefon.
„Mare ruft an“, blinkte es mir entgegen.
„Mare ruft an“.
Wäre alles wie früher, hätte ich Mares Anruf in solch einem Moment des totalen Chaos, mit Sicherheit nicht entgegengenommen. Ich wäre noch nicht mal auf diese abstruse Idee gekommen, sondern hätte sie zurückgerufen, wenn ich die Situation wieder unter Kontrolle und über Kapazität verfügt hätte.
Doch zwischen Mare und mir war es nicht mehr wie früher.
Mares Lügen, meine Heimlichkeiten mit Michael, ihr Unfall, meine damalige Unmöglichkeit ihr zu verzeihen und die Schuldgefühle, die dem gefolgt waren, hatten ganze Arbeit geleistet. Hatten mich den innerlichen Schwur leisten lassen, nicht mehr so egoistisch zu sein. Und diesem war ich nun grenzenlos treu.
Ich tat alles dafür, Mareike ihr neues Leben erträglich zu machen.
Mare war seit den endlosen Tagen im Koma nur noch äußerlich, wer sie gewesen war.
Es war zwar richtig, was die Ärzte nach ihrem Erwachen gesagt hatten, und außer einem hinkenden Bein waren keine körperlichen Behinderungen an ihr sichtbar.
Aber ihr Kopf und ihre Seele hatten sich verändert. Sehr verändert. Deren festen Strukturen hatten einer hauchdünnen Wabe Platz gemacht, die noch nicht richtig angewachsen schien.
Und auch ich war nicht mehr dieselbe, wenn wir zusammen waren. Der Schwur und mein diffus schlechtes Gewissen, verhinderte meine Natürlichkeit. Mares Leiden verdiente meine Aufmerksamkeit, egal wie viel sie davon brauchen würde und dass es zurzeit eine ganze Menge war.
„Hey Mare!“
Keine Ahnung wie, aber irgendwie fand sich bei mir ein Körperteil, das zusätzlich zum Reinigen, Tüte hinhalten und meine Kinder trösten, noch das Handy an mein Ohr halten konnte.
„Was gibts, Süße?“, rief ich, unseren alten Ton imitierend. Einmal mehr staunte ich, wie falsch und leer er klang.
„Alex, kann ich heute noch kurz vorbeikommen? Mir gehts nicht gut.“
Ich hob Konrad aus dem Wagen und sackte mit beiden Kindern auf das Bänkchen neben uns. Kurz überschlug ich im Kopf die geplanten Aktivitäten des heutigen Tages: Einkaufen, Spielplatz, dringend Bodys für Konrad waschen, Kochen und die Hoffnung, mich ein paar Minuten mit Tina aufs Sofa legen zu können, während Konrad schlief. Ich hatte null Kapazität, mich heute auch noch um Mareike zu kümmern.
„Selbstverständlich.“, hörte ich mich sagen. „Komm vorbei. Du kannst bei uns essen.“
„Auf geht‘s Kinder“, seufzte ich, lud die beiden wieder in den Wagen und mit Beinen, schwer wie Blei, stapfte ich in Richtung Spielplatz.
Mareikes neues Universum
Sie sagen, ich hätte unwahrscheinliches Glück gehabt.
Alle sagen das. Die Ärzte, meine Eltern, die Therapeuten, Alex.
Alle kriegen sie bei meinem Anblick diesen feierlichen und rührseligen Gesichtsausdruck und seufzen Sätze wie: “Was für ein Schutzengel hast du gehabt.“ Oder: „Ich habe von Menschen gelesen, die nach dem Koma nicht mehr reden, nicht mehr laufen und nicht mehr essen konnten.“ Oder: „Es ist unglaublich, dass du nach all dem einfach wieder die alte bist.“
Das Letzte war gelogen. Ich war nicht mehr die alte. Ich war auch keine neue. Ich war eigentlich überhaupt nicht mehr, was mir auch ständig vor Augen geführt wurde, seit ich vor ein paar Wochen aus der Reha nach Hause gekommen bin und plötzlich über verschwenderisch viel Zeit und Gelegenheiten verfügte, meiner neuen Unzulänglichkeit zu begegnen.
Über ein halbes Jahr war ich nach dem Koma in der Rehabilitation gewesen. In diesem äußerlich durchaus einladenden Jugendstilgebäude, das in seinem Innern jedoch einem Trainingslager für Kriegsversehrte glich. Ein unwirklicher Ort, an dem einzig das Ziel verfolgt wurde, die ihm anvertrauten Verwundeten schnellstmöglich wieder fit für den nächsten Kampf zu machen.
Doch dieses Kurhaus war, so unwohl ich mich oft ihn ihm gefühlt hatte, auch ein Ort der Sicherheit und Fürsorge gewesen. Mir wurde dort gesagt, was ich zu tun hatte, welche Ziele ich zu verfolgen hatte und ich hatte mich weder um Nahrung, Wäsche, noch um sonst eine Tätigkeit des Alltags zu kümmern...




