Sparks Weg der Träume
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-06014-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-641-06014-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nicholas Sparks, 1965 in Nebraska geboren, lebt in North Carolina. Mit seinen Romanen, die ausnahmslos die Bestsellerlisten eroberten und weltweit in über 50 Sprachen erscheinen, gilt Sparks als einer der meistgelesenen Autoren der Welt. Viele seiner Bestseller wurden erfolgreich verfilmt, vier weitere Filme sind derzeit in Planung. Alle seine Bücher sind bei Heyne erschienen.
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Kapitel 1
An einem frühen Augustmorgen des Jahres 1988, zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau, stand Miles Ryan auf der rückwärtigen Veranda seines Hauses, rauchte eine Zigarette und sah zu, wie die aufgehende Sonne den mattgrauen Himmel orangerot färbte. Vor ihm lag der Trent River, dessen brackiges Wasser teilweise von Zypressen verdeckt war.
Der Rauch von Miles’ Zigarette schlängelte sich aufwärts, und er spürte, wie die Feuchtigkeit aus dem Boden aufstieg und sich in der Luft ausbreitete. Kurz darauf stimmten die Vögel ihr Morgenlied an. Ihr Pfeifen und Trillern erfüllte die Luft. Ein kleines Boot fuhr vorbei. Der Fischer winkte, und Miles gab den Gruß mit einem leichten Nicken zurück. Mehr Energie brachte er nicht auf.
Er brauchte einen Kaffee. Einen Schub Koffein, und er wäre für den Tag gewappnet – Jonah schulfertig machen, die Mitbürger im Zaum halten, die sich nicht um das Gesetz scherten, Räumungsklagen für das County verschicken und sich außerdem um alles kümmern, was unweigerlich noch auf ihn zukam, wie das Gespräch mit Jonahs Lehrerin am späteren Nachmittag. Abends gab es sogar noch mehr zu tun. Damit der Haushalt reibungslos lief, war immer viel zu erledigen – Rechnungen mussten bezahlt werden, er musste einkaufen, putzen, Reparaturen im Haus durchführen. Wenn Miles, was selten vorkam, unvermutet ein wenig freie Zeit hatte, bekam er gleich das Gefühl, er müsse sie schleunigst sinnvoll nutzen. Schnell, lies ein Buch! Achtung, ein paar Minuten Erholung! Mach die Augen zu, gleich ist die Zeit schon wieder um. Es konnte einen wirklich zermürben, aber was sollte man dagegen tun?
Miles brauchte jetzt wirklich einen Kaffee. Das Nikotin hatte auch nicht mehr die rechte Wirkung, und er dachte sogar daran, das Rauchen aufzugeben. Doch andererseits war es gleichgültig, ob er rauchte oder nicht. Er selbst betrachtete sich eigentlich nicht als Raucher. Natürlich kamen im Laufe des Tages ein paar Zigaretten zusammen, aber das war im Grunde kein richtiges Rauchen. Schließlich konsumierte er nicht etwa ein Päckchen Zigaretten pro Tag, und er rauchte auch nicht schon sein Leben lang. Erst nach Missys Tod hatte er damit angefangen und würde jederzeit wieder aufhören können. Aber wozu? Seine Lungen waren in Topform – erst letzte Woche hatte er einen Ladendieb verfolgt und den Jungen ohne Mühe eingeholt. Ein Raucher könnte das nicht.
Ganz so leicht wie mit zweiundzwanzig war ihm die Sache natürlich nicht gefallen. Aber er war ja auch schon zehn Jahre älter, und selbst wenn der Umstand, zweiunddreißig zu sein, nicht bedeutete, dass er sich nach einem Platz im Altersheim umsehen musste, so war die Jugend doch vorbei. Und eins war nicht zu leugnen – im College hatten er und seine Freunde zeitweise den Abend erst um elf begonnen und waren dann gegen Morgen nach Hause gekommen. Seit ein paar Jahren jedoch war – abgesehen von den Nächten, in denen er Dienst hatte – elf Uhr für ihn spät, und auch wenn er nicht einschlafen konnte, ging er dann ins Bett. Miles hätte keinen Grund nennen können, warum er aufbleiben sollte. Erschöpfung war für ihn zum Dauerzustand geworden. Selbst in den Nächten, in denen Jonah keine Albträume hatte – seit Missys Tod träumte er oft schlecht –, wachte Miles morgens auf und war … müde. Unkonzentriert. Schlapp, als müsse er sich unter Wasser vorwärts kämpfen. Die meiste Zeit gab er seinem hektischen Leben daran die Schuld, aber manchmal fragte er sich, ob nicht doch etwas Ernsthafteres dahinter steckte. Einmal hatte er gelesen, eines der Symptome einer klinischen Depression sei eine »auffällige Lethargie, ohne Grund oder Anlass«. Aber natürlich gab es einen Grund …
Was ihm wirklich fehlte, waren ein paar ruhige Tage in einem Häuschen am Strand unten in Key West, wo er Steinbutt fischen oder sich mit einem kühlen Bier in einer sanft schaukelnden Hängematte entspannen konnte, ohne größere Entscheidungen treffen zu müssen als die, ob er Sandalen anziehen sollte oder nicht, wenn er mit einer netten Frau an seiner Seite am Strand spazieren ging.
Das gehörte im Übrigen auch dazu. Einsamkeit. Er war es zu seinem eigenen Erstaunen plötzlich leid, allein zu sein, in einem leeren Bett aufzuwachen. Bis vor kurzem hatte er noch nicht so empfunden. Im ersten Jahr nach Missys Tod konnte sich Miles überhaupt nicht vorstellen, dass er je wieder eine Frau lieben würde. Es war, als existiere das Bedürfnis nach der Gesellschaft einer Frau nicht mehr, als seien Begehren und Lust lediglich theoretisch möglich, für seine reale Welt jedoch ohne Bedeutung. Selbst als Miles den Schock und den Kummer, die ihn jede Nacht zum Weinen gebracht hatten, zu verwinden begann, fühlte sich sein Leben irgendwie falsch an – als sei es vorübergehend aus der Bahn geraten, würde sich aber bald wieder zurechtrücken lassen, sodass es keinen Grund gab, sich über alles zu viele Gedanken zu machen.
Viel hatte sich nach der Beerdigung tatsächlich nicht geändert. Rechnungen kamen immer noch, Jonah musste essen, das Gras musste gemäht werden. Miles hatte immer noch seinen Job. Einmal, nach zu vielen Gläsern Bier, hatte ihn Charlie, sein bester Freund und Vorgesetzter, gefragt, wie es sei, die Frau zu verlieren, und Miles hatte ihm erzählt, es käme ihm immer noch so vor, als sei Missy gar nicht für immer fort. Eher, als sei sie übers Wochenende mit einer Freundin weggefahren und er müsse so lange auf Jonah aufpassen.
Die Zeit verging, und schließlich schwand auch die Benommenheit, an die Miles sich schon gewöhnt hatte. An ihre Stelle trat die Wirklichkeit. So sehr er versuchte, es zu verhindern – seine Gedanken wanderten immer zu Missy zurück. Alles erinnerte ihn an sie, besonders aber Jonah, der ihr, je älter er wurde, immer ähnlicher sah. Manchmal, wenn Miles in der Tür stehen blieb, nachdem er Jonah ins Bett gebracht hatte, erblickte er in den feinen Gesichtszügen seines Sohnes seine Frau, und er musste sich abwenden, damit Jonah seine Tränen nicht bemerkte. Doch das Bild blieb anschließend noch für Stunden vor seinem inneren Auge. Er hatte es geliebt, Missy im Schlaf zu betrachten, wenn ihre langen, braunen Haare sich über das Kopfkissen ausgebreitet hatten, ein Arm über dem Kopf lag, die Lippen leicht geöffnet waren und ihre Brust sich beim Atmen sanft hob und senkte. Und ihr Duft – den würde Miles nie vergessen. Am ersten Weihnachtsmorgen nach ihrem Tod hatte er in der Kirche einen Hauch des Parfüms aufgefangen, das Missy immer benutzte, und noch lange nach dem Gottesdienst hatte er sich an den Schmerz geklammert wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring.
Auch an anderes klammerte er sich. Als sie frisch verheiratet waren, gingen Missy und er oft ins Fred and Clara’s, ein kleines Restaurant nicht weit von der Bank, in der sie arbeitete. Es lag etwas abseits, und seine ruhige, gemütliche Atmosphäre gab ihnen beiden das Gefühl, dass sich nie etwas zwischen ihnen ändern würde. Seit Jonahs Geburt waren sie nicht mehr so häufig dort gewesen, aber nach Missys Tod nahm Miles die alte Gewohnheit wieder auf, als hoffe er, zwischen den getäfelten Holzwänden die Spuren der Gefühle von damals wieder zu finden. Auch zu Hause organisierte er sein Leben so, wie Missy es getan hatte. Weil Missy am Donnerstagabend im Supermarkt einkaufte, fuhr auch Miles donnerstags hin. Weil Missy Tomaten an der Hauswand zog, zog auch Miles sie dort. Wenn Missy Lysol für den besten Haushaltsreiniger hielt, gab es für Miles keinen Grund, einen anderen zu kaufen. Missy war immer gegenwärtig – bei allem, was er tat.
Doch irgendwann im letzten Frühling hatte sich etwas geändert. Eine neue Empfindung überfiel Miles ohne Warnung, und er begriff bald, was mit ihm geschah. Als er in die Stadt fuhr, ertappte er sich dabei, wie er ein junges Paar anstarrte, das Hand in Hand den Gehweg entlangschlenderte. Und für einen Augenblick stellte Miles sich vor, er sei der Mann und die Frau gehöre zu ihm. Oder wenn nicht diese, dann eine andere … eine, die nicht nur ihn, sondern auch Jonah lieben würde. Eine, die ihn zum Lachen bringen würde, eine, mit der er sich bei einem geruhsamen Abendessen eine Flasche Wein teilen konnte, eine, die er berühren und umarmen konnte und mit der er sich flüsternd unterhalten würde, wenn das Licht gelöscht war. Jemand wie Missy, dachte er, und sofort beschwor ihr Bild Schuldgefühle herauf, durch die er sich wie ein Verräter fühlte und die ihn derart überwältigten, dass er das junge Paar für immer aus seinen Gedanken verbannte.
Das glaubte er jedenfalls.
Später in der Nacht, als er im Bett lag, musste er doch wieder an die beiden denken. Und obwohl ihn das schlechte Gewissen immer noch nicht ganz losließ, war es doch weniger stark als vorher. Und in diesem Augenblick wusste Miles, dass der erste Schritt getan war – wenn auch ein kleiner –, der letztlich dazu führen würde, dass er seinen Verlust überwand.
Er begann, sich für sein neues Lebensgefühl zu rechtfertigen, indem er sich sagte, dass er schließlich Witwer sei, dass es natürlich sei, solche Gefühle zu haben, und dass niemand sie ihm verübeln würde. Niemand erwartete von ihm, dass er den Rest seines Lebens allein verbrachte. In den vergangenen Monaten hatten Freunde sogar angeboten, Verabredungen für ihn zu arrangieren. Missy hätte gewollt, dass er wieder heiratete. Das wusste er. Sie hatte es ihm mehr als einmal gesagt – wie die meisten Paare hatten auch sie das »Was-wäre-wenn«-Spiel gespielt, und obwohl keiner von ihnen beiden die Katastrophe erwartet hatte, waren sie sich einig gewesen, dass es für Jonah nicht gut wäre, mit nur einem Elternteil...