E-Book, Deutsch, 256 Seiten, ePub
Spierer Bevor es geschah
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-0369-9662-2
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten, ePub
ISBN: 978-3-0369-9662-2
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Céline Spierer, geboren in Genf, hat an der New York University ein Filmstudium absolviert und anschließend als Beraterin und Produktionsassistentin gearbeitet. ist ihr erster Roman, der auf Deutsch erscheint. Céline Spierer lebt in New York.
Weitere Infos & Material
Sieben Stunden zuvor
Mit schlafverklebten Augen blickt Sean auf die Leuchtziffern des Weckers auf dem Nachttisch. Acht Uhr zweiunddreißig. Viel zu früh für einen Samstagmorgen, beschließt er, während er mit halbem Ohr dem Hin und Her von Emma im angrenzenden Bad lauscht. Auf dem Rücken liegend konzentriert er sich auf ihre gedämpften Schritte auf dem Marmorboden. Er hört das Gebläse des Föhns und stellt sich seine Frau vor, wie sie sich nackt über das Waschbecken beugt, während ihre Finger durch ihr wirres Haar streichen, ihr schönes Gesicht im Spiegel. Sean genießt diese moderat erotische Vorstellung in dem Wissen, dass sie nur in seiner Fantasie existiert. Emma kann es nicht ausstehen, nackt zu sein, auch wenn niemand sie sieht, und hat sich bestimmt gleich nach dem Duschen ein Tuch umgebunden, die unvermeidliche Bewertung fürchtend, die der Anblick ihres Körpers jedes Mal nach sich zieht.
Die Ohren nach dem Zischen des automatischen Sprinklers spitzend, dreht Sean sich auf die Seite und schaut durch die halb geöffneten Läden in den wolkenlosen Himmel. Die meteorologische Voraussicht seiner Schwester in Sachen Barbecue grenzt an Hexerei. Jedes Mal, wenn sie einen Termin festlegt – auch Wochen vorher –, ist das Wetter schön. Sie werden dem Brunch, der um dreizehn Uhr bei ihrer Mutter ansteht, also nicht entgehen. Sean könnte auf eine Begegnung mit ihr gut verzichten, doch er freut sich auf seine Nichten. Auch wenn diese Freude immer von Wehmut getrübt ist. Sean ahnt, dass Lisa und Naomy sich diesen mühseligen Zusammenkünften in naher Zukunft entziehen werden, zugunsten aufregenderer Verheißungen ihrer Jugend. Und Sean würde vom coolen Onkel zum altbackenen Typen verkommen, für den seine Nichten nur noch einen herablassenden Blick übrig hätten.
Sean nimmt das Älterwerden recht gelassen, es ist die Veränderung der anderen, die ihm nicht gefällt, da ihr Fortschritt seinen eigenen Stillstand beleuchtet. Oder eher seine Rückwärtsentwicklung.
Hinter ihm wird leise die Badezimmertür geöffnet, und Emma geht auf Zehenspitzen durchs Zimmer. Sean hört, wie sie eine Schublade öffnet, dann eine zweite, sie auf der Suche nach Unterwäsche durchwühlt, und er dreht sich um, als er hört, wie das Handtuch raschelnd auf den Teppich fällt. Da sie mit dem Rücken zu ihm steht, bemerkt sie seinen Blick nicht gleich, und er studiert ihre Gestalt im Gegenlicht, bedauernd, dass er den Körper seiner Frau nur bewundern kann, wenn sie es nicht merkt. Sie zieht einen schwarzen Slip an, dessen Schnitt ihren runden Po betont, und dreht sich um, einen Finger nachdenklich auf die Lippen gelegt.
»Emma?«
Beim Klang seiner Stimme zuckt sie zusammen und zieht rasch ihre Hände vor die Brüste. Sean klopft auf die leere Stelle der Matratze, damit sie sich zu ihm legt. Zögernd kommt sie näher und setzt sich mit verschränkten Armen auf die Bettkante. Darauf bedacht, seine Ungeduld zu verbergen, umfasst Sean sanft, aber entschieden ihr Handgelenk und zieht sie zu sich. Daran, wie langsam sie sich hinlegt, spürt er ihren Widerstand und versucht zu ignorieren, dass er für diese Anspannung verantwortlich ist. Diese Zurückhaltung ist neu, oder aber er bemerkt sie erst jetzt. Ohne sich entmutigen zu lassen, schiebt er seinen Arm unter den feuchten Nacken seiner Frau und atmet den fruchtigen Duft ihres Shampoos ein.
Die Morgensonne dringt durch die Fensterläden und taucht den Raum in ein intimes Licht, das Seans Verlangen weiter anheizt. Emmas biegsamer und warmer Körper neben seinem schürt seine erwachende Lust, und der Daumen seiner freien Hand gleitet unter den Saum ihres Slips. Sie weist ihn nicht ab, nicht wirklich, aber die Art, wie sie ihre Hand an seine Brust legt, ist eine eindeutige Antwort auf seine Einladung, und diese Antwort ist Nein. Sean unterdrückt ein Seufzen und lässt seinen Arm wieder sinken.
Nachdem sie hastig einen Morgenmantel übergestreift hat, geht Emma aus dem Zimmer, mit dem Gefühl des Unvollendeten, beschämt und wütend auf sich selbst. Sie spürt Seans Blick auf ihrem Rücken, und sie bedauert, ihre Gedanken nicht besser vermitteln zu können. Sie würde ihm so gern sagen, dass es ihr leidtut, dass sie sich wegen ihrer empfundenen Gefühle ebenso schuldig fühlt wie wegen ihrer nicht empfundenen, dass sie seit Kurzem den Eindruck hat, neben sich zu stehen und passiv das Tun und Treiben einer Fremden zu beobachten. Ihre Unfähigkeit, diese beunruhigenden Widersprüche auszudrücken, belastet und ängstigt sie, aber ihr fehlen die Worte, also schweigt sie.
Der Teppichboden im Wohnzimmer erstickt ihre Schritte, und Emma denkt bitter, dass sie in dieser flauschigen Stille durchs ganze Leben geht und niemand daran Anstoß nimmt. Plötzlich wirft sich ein beiger Fellberg zwischen ihre Füße, sodass sie beinahe stürzt, und sie kniet sich vor Enzo, ihren Afghanischen Windhund. Mitten in dem dichten verzottelten Fellvorhang taucht seine Zunge auf und tastet über Emmas Wange. Sie lacht und vergräbt ihr Gesicht am Hals des alten Hundes, atmet gierig seinen Geruch ein.
Nachdem sie lange Enzos Bauch gestreichelt und ihm einen Schwall lobender Worte ins Ohr geflüstert hat, die er schwanzwedelnd empfängt, geht die junge Frau zur Kaffeemaschine. Während sie darauf wartet, dass das Wasser heiß wird, isst sie im Stehen eine Schüssel Cornflakes und richtet den Blick auf die Bäume hinter der großen Glasfront im Wohnzimmer. Durch das gekippte Fenster des Schlafzimmers ist das Rauschen der Blätter zu hören, und Emma betrachtet die Idylle ihres taubenetzten Gartens mit quälender Sorge. Sie kneift leicht die Augen zusammen, auf der Suche nach einer Anomalie, von der sie weiß, dass sie in keinem Bezug zu dem Bild steht, das sich ihr bietet, wendet sich dann ab, unerklärlicherweise mit zugeschnürter Kehle.
Kurz überlegt sie, ins Schlafzimmer zurückzugehen, um ihre Begegnung mit Sean anders zu beenden. Sie würde sich zu ihm legen und ihm gestatten fortzuführen, was er angedeutet hatte, obendrein mit der Illusion, dass sie seine Lust teilt. Sie sieht sich über dem Bett schweben, gleichgültig gegenüber den doch so fähigen Händen ihres Mannes, und sagt sich mit einer gewissen Bitterkeit, dass diese Aussicht nicht die schlimmste ist. Vielleicht würde es ihre Schuldgefühle für den Augenblick lindern. Vielleicht würde Emma in den abstrakten geometrischen Formen der Deckenlampe Ablenkung finden, zumindest ausreichend, um ihre Gedanken nicht dahin wandern zu lassen, wohin sie sich seit einiger Zeit ausnahmslos verirren.
Sie zögert, taub gegenüber Enzo, der vor seiner leeren Futterschüssel ungeduldig japst. Dann schaut sie kurz auf die einen Spaltbreit offene Tür, hin- und hergerissen zwischen ihren Befürchtungen und dem Bedürfnis, sich einer zu lange aufgeschobenen Pflicht zu entledigen. Sie stellt sich Sean vor, der quer im Bett liegend schnarcht, stellt ihn sich dann ganz wach vor, auf jede ihrer Bewegungen achtend. Sie erstarrt, schnell atmend, und schilt sich dann für ihr albernes Benehmen.
Sie geht zur Glastür, öffnet sie ruckartig, wie um ihre eigene Unsicherheit auszugleichen, und geht auf die Terrasse, wohin ihr Enzo zappelnd folgt. Die junge Frau setzt sich auf die Schaukel und betrachtet den Garten, zwingt sich zur Ruhe.
Sie wird jedoch das Gefühl nicht los, dass sie nicht ganz in diese Welt gehört, sie nie zu ihrer machen wird, trotz ihrer Heirat, ihres Beitrags zur Einrichtung des Hauses und der Monate, die sie nun schon in diesem Viertel lebt. Emma hat ihren Abschluss an einer exzellenten Universität gemacht, sie spricht fließend Italienisch und begegnet im Rahmen ihrer Arbeit regelmäßig namhaften Künstlern. Aber egal, was man erreicht, man ändert nicht, woher man kommt. Und Emma kommt ganz sicher nicht von hier.
Enzo bellt mehrmals fröhlich, als hinter der Gartenhecke ein Auto vorbeifährt, und Emma überlegt, was der Fahrer oder jeder andere Passant wohl durch die Blätter sehen mag. Was können sie von ihrem Leben erahnen? Kümmert es sie?
Die Sonne steht schon hoch am Himmel und wirft lange einladende Strahlen auf die Terrasse, Emma schließt die Augen in der Hoffnung, ihre unwillkommenen Gedanken zu vertreiben. Die Furcht vor der Grillfeier ihrer Schwiegermutter trägt sicher zu ihrer trüben Stimmung bei. Wie gewohnt, hat sie ihre Angst die ganze Woche mit Gedanken an die zu führenden Gespräche gefüttert, an ihre Schwiegermutter, deren strengen Blick und spitze Zunge sie fürchtet, an das endlos währende Essen und das fehlende Interesse, das sie für diese Leute hegt, die zwar höflich sind, mit denen sie aber eine nur oberflächliche Verbindung unterhält. Da ist natürlich Lisa, die älteste Tochter ihrer Schwägerin Jacquelyn, in der Emma die schüchterne Jugendliche erkennt, die sie einst selbst war. Für sie empfindet sie Sympathie und Zärtlichkeit, kann sich aber kaum vorstellen, wie sie ihre Sozialisierungsversuche auf eine Vierzehnjährige beschränken soll.
Sie dramatisiert alles und zu sehr, wie immer, schilt sie sich. Sie ist weder ein Eindringling noch eine Hochstaplerin, wiederholt sie sich, bevor sie sich vom Garten mit seinen prächtigen Blumen und dem zu grünen Gras abwendet.
Jacquelyn schreckt wie so oft aus dem Schlaf hoch. Sie wirft einen panischen Blick auf den Wecker, gepackt von der Angst, die sie in ihren Collegejahren am Morgen vor Prüfungen empfand, und seufzt erleichtert, als sie feststellt, dass es noch vor acht ist. Lucas schnarcht neben ihr, und ihr Blick streift seine in das Laken gewickelte Gestalt, seinen nackten Rücken, der sich ihm Rhythmus seines Atems hebt, seine breiten...