- Neu
E-Book, Deutsch, 178 Seiten
Spröber-Kolb / Kölch / Legenbauer Depressionen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-17-034695-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 178 Seiten
ISBN: 978-3-17-034695-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. Dr. Nina Spröber-Kolb, Dipl.-Psych., Psycholog. Psychotherapeutin, Supervisorin, KJE - Praxis für Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Neu-Ulm. Prof. Dr. Tanja Legenbauer, Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, LWL Universitätsklinikum Hamm für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Ruhr-Universität Bochum, Psycholog. Psychotherapeutin. Prof. Dr. Michael Kölch, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter, Universitätsmedizin Rostock, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie.
Weitere Infos & Material
2 Epidemiologie, Verlauf und Folgen
Fallbeispiel 1: Annika, 8 Jahre
Die depressiven Symptome haben sich bei Annika schleichend über ca. zwei Jahre hinweg entwickelt. So zog sie sich in der Schule immer weiter zurück, beteiligte sich weniger am Unterricht, konnte sich zunehmend schlechter konzentrieren, wurde im Kontakt mit den Mitschüler*innen unsicherer, was jedoch der Lehrerin nicht besonders auffiel. Ruhige und zurückgezogene Schüler*innen fallen im Schulkontext oft nicht negativ auf, so dass der Leidensdruck des Mädchens dort nicht erkannt wurde. Erst als Annika im familiären Bereich immer unausgeglichener, ängstlicher, aber auch gereizter wurde, es zu massiveren familiären Konflikten kam, Annika selbstabwertende und hoffnungslose Gedanken formulierte, über psychosomatische Beschwerden klagte, wurde der Mutter bewusst, dass ihre Tochter professionelle Hilfe benötigt.
Fallbeispiel 2: Tom, 16 Jahre
Toms Schüchternheit hat sich im Laufe der jugendlichen Entwicklung in soziale Ängste ausgeweitet. Diese wiederum begünstigten, dass er sich stark – mehr als üblich im Rahmen der jugendlichen Identitätsentwicklung – mit Gleichaltrigen verglich und sich irrationale, selbstabwertende Gedanken verfestigten, er sich immer trauriger, niedergeschlagener fühlte und sogar suizidale Gedanken hatte. Tom zog sich immer mehr zurück, wodurch sich die für ihn belastende Situation der Einsamkeit und das Gefühl, abgelehnt zu werden verstärkte und er wichtige Entwicklungsschritte im Jugendalter (z.?B. Ausgehen, mit Gleichaltrigen Freizeit verbringen, erste sexuelle Kontakte, Aufbau intimer Partner*innenbeziehungen) nicht machen, er aber auch weitere soziale Fertigkeiten (z.?B. Festigung Konfliktlösefertigkeiten mit Gleichaltrigen) nicht ausbauen konnte.
Fallbeispiel 3: Jessica, 22 Jahre
Jessica hat im Laufe ihres Lebens bereits mehrere depressive Episoden erlebt, dazwischen gab es aber auch Phasen, in denen die depressiven Symptome nicht vorhanden waren. Aktueller Auslöser für die depressive Episode war die Trennung von ihrem Freund vor der Geburt des Sohnes, aber vermutlich auch die Anforderungen, die die Versorgung eines Säuglings an sie stellt, kombiniert mit der Notwendigkeit, ihren Lebensentwurf neu zu denken. In der neuen Lebenssituation steigerten sich negative selbstbezogene Gedanken von Jessica, da sie wenig Vertrauen in sich hat, eine gute Mutter sein zu können. Bei Jessica führten die depressiven Symptome zu einer deutlichen Reduktion ihres psychosozialen Funktionsniveaus: Sie hatte bei der Vorstellung in der Praxis suizidale Gedanken, einen Druck, sich zur Emotionsregulation selbst zu verletzen (obwohl sie diese Problematik schon durch psychotherapeutische Hilfe überwunden hatte) und Appetitverlust. Zudem berichtete sie, sich permanent traurig und niedergeschlagen zu fühlen und Schlafstörungen zu haben. Sie gab an, im Moment nicht in der Lage zu sein, ihr Kind allein zu versorgen oder den Haushalt zu bewältigen.
Lernziele
-
Sie wissen, wie häufig depressive Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter und im jungen Erwachsenenalter vorkommen.
-
Sie wissen, welchen Verlauf depressive Störungen in den meisten Fällen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen nehmen.
-
Sie können psychosoziale Beeinträchtigungen der depressiven Störungen benennen.
2.1 Epidemiologie
Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen weltweit (Dolle & Schulte-Körne, 2013; Klasen et al., 2016; Polanczyk et al., 2015). In einer Metaanalyse (Costello, Erkanli & Angold, 2006), in die nur Studien mit repräsentativen Stichproben bis zum Alter von 18 Jahren einbezogen wurden, in denen die Depressionsdiagnose mit Hilfe eines strukturierten klinischen Interviews gestellt wurde, ergaben sich Prävalenzschätzungen für Kinder (> 13 Jahre) von 2,8?% und für Jugendliche (13?–?18 Jahren) von 5,6?%. Im Jugendalter verdeutlichte sich auch ein Geschlechtereffekt (5,9?% bei Mädchen versus 4,6?% bei Jungen), der ab dem Jugendalter konstant bis ins Erwachsenenalter zu beobachten ist. Geringe Prävalenzangaben wurden für Klein- und Vorschulkinder ermittelt (> 1?%) (Costello, Erkanli & Angold, 2006).
Neuere Studien innerhalb Deutschlands (z.?B. Klasen et al., 2016) ergaben eine Prävalenz von 11,2?% für das Vorkommen einer klinisch bedeutsamen Depression (Altersbereich 7?–?19 Jahren, N = 3.256) im Elternbericht und 16,2?% im Selbsturteil.
Im Rahmen der europäischen Gesundheitsbefragung (European Health Interview Survey, EHIS; Hapke, Cordes & Nübel, 2019) wurde in Deutschland auf der Basis eines klinischen Symptomfragebogens (Patient Health Questionnaire, PHQ-8; Kroenke et al., 2009) bei den teilnehmenden deutschen Jugendlichen und Erwachsenen (N = 254.510; Altersspanne: 15 bis = 65 Jahren) eine durchschnittliche Prävalenz von 9,2?% ermittelt (10,8?% bei Frauen : 7,6?% bei Männern); die Prävalenz der depressiven Symptomatik bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen (15?–?29 Jahre) war mit 11,5?% im Vergleich der Altersgruppen am höchsten.
Bezüglich der Veränderung der Erkrankungshäufigkeiten über die Jahrzehnte hinweg ist die Datenlage unklar (z.?B. Fleming et al., 2014).
Exkurs: Entwicklung depressiver Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen nach der COVID-19 Pandemie
Die psychischen Auswirkungen für Kinder und Jugendliche (Altersbereich 7 bis 17 Jahre) durch die mit der Corona Pandemie 2020 verbundenen Veränderungen des Alltags (z.?B. Schulschließungen, Reduktion von Sozialkontakten) wurden in einer bevölkerungsrepräsentativen Online-Befragung (COPSY-Studie) seit 2020 wiederholt untersucht (selbstberichtete Symptome) (Kaman et al., 2023). Der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit depressiven Auffälligkeiten stieg im Pandemieverlauf bis Befragungswelle 2 (Dezember 2020 – Januar 2021) auf 15?% an, sank zu Befragungswelle 3 (Herbst 2021) leicht ab (11,1?%) und lag im Februar 2022 bei 12,8?%. Kinder und Jugendliche mit einem Risikocluster (psychische Erkrankung der Eltern, Eltern mit geringer Bildung/Migrationshintergrund/enger Wohnraum der Familie, Eltern mit hoher Belastung durch die Pandemie) hatten über die vier Befragungswellen hinweg ein erhöhtes Risiko für depressive Symptome (OR: 2,1?–?3,8; p < 0,001).
2.2 Verlauf und Folgen
Verschiedene Studien haben sich mit dem Entwicklungsverlauf depressiver Störungen von der Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter hinein beschäftigt (z.?B. Musliner et al., 2016; Shore et al., 2018). Dabei wird deutlich, dass die depressiven Symptome von der Kindheit bis ins Jugendalter/junge Erwachsenenalter hinein (bis ca. zum 20. Lebensjahr) allgemein zunehmen, sich dann aber wieder abschwächen (z.?B. Ferro et al., 2015; Kwong et al., 2019). Bei Mädchen ist der deutlichste Symptomanstieg früher als bei Jungen erkennbar (13;5 J. versus 16 J.; Kwong et al., 2019).
Bei Minderjährigen zeigen Studien, dass fast die Hälfte der depressiven Symptomatik innerhalb eines Jahres remittiert (Park & Goodyer, 2000; Saluja et al. 2004). Für die Dauer depressiver Erkrankungen im Jugendalter werden Angaben zwischen durchschnittlich zwei bis sieben Monaten bis hin zu neun Monaten (Birmaher et al., 2004; Thapar et al., 2012) gemacht. Bezüglich der Dauer ist insbesondere im Kindes- und Jugendalter zu bedenken, dass hier bereits kürzer dauernde Phasen bezüglich der sehr kondensierten Entwicklungsanforderungen in dieser Lebensphase starke Auswirkungen haben können. So kann auch ein nur wenige Monate dauernder »Leistungsknick« in der Schule weitreichende Folgen haben. Ein Schulversagen kann wiederum dann einen zusätzlichen Risikofaktor für einen chronischen Verlauf bilden.
Depressive Störungen bergen jedoch insgesamt eine hohe Gefahr der Chronifizierung – so sind ca. 10?% der depressiven Jugendlichen auch nach zwei Jahren noch nicht genesen (vgl. Thapar et al., 2012). Im Zeitraum von zwei Jahren erleben 40?%, innerhalb von fünf Jahren sogar 70?% der remittierten Patient*innen einen Rückfall (Thapar et al., 2012).
Depressive Störungen und riskantes Gesundheitsverhalten haben einen engen Zusammenhang (Bai et al., 2018). Depressiv erkrankte Jugendliche haben im Verlauf ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen und weisen insgesamt einen schlechteren Gesundheitszustand (Yu et al. 2017) auf. Auch zeigt sich bei ihnen das psychosoziale Funktionsniveau längerfristig reduziert, sie haben langfristige soziale Probleme, die sich oft in niedrigerem Schulabschluss und späterer Armut abbilden. Die ungünstigste Prognose – auch hinsichtlich sozialer Faktoren im späteren Leben (Meinzer et al., 2016; Fombonne et al., 2001) – haben Kinder und Jugendliche, die die Kombination von...