E-Book, Deutsch, 340 Seiten
Staalesen Kalte Herzen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-948392-61-1
Verlag: Polar Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 340 Seiten
ISBN: 978-3-948392-61-1
Verlag: Polar Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
An einem frostigen Januartag in Bergen, Norwegen, bekommt der Privatdetektiv Varg Veum Besuch von der Prostituierten Hege Jensen. Hege ist eine ehemalige Schulkameradin und Freundin von Veums Sohn Thomas. Hege bittet Veum, nach ihrer Freundin und Kollegin Margrethe, Maggie Monsen, zu sehen. Diese ist verschwunden und seit Tagen nicht mehr gesehen worden. Vor ihrem Verschwinden war sie etwas verängstigt: Sie hatte einen Kunden abgewiesen und war voller Entsetzen zu ihrem Standplatz zurückgekehrt. Varg Veum übernimmt den Fall und wird bald darauf mit der brutalen, beklommenen Realität konfrontiert. Veum entdeckt, dass Maggie von räuberischen Zuhältern und potenziell mörderischen Freiern gepeinigt wurde. Aber Maggies Geschichte erweist sich als noch trauriger, nachdem Veum mehr in Maggies Leben recherchiert. Gleichzeitigt verschwindet in Bergen eine Drogenlieferung aus Dänemark spurlos. Bald findet Veum die erste Leiche. Seine Untersuchung führt ihn in eine dunkle Subkultur, in der korrupter Idealismus tödliche Konsequenzen hat.
Gunnar Staalesen wurde 1947 in der norwegischen Hansestadt Bergen geboren. Seinen Durchbruch als Schriftsteller hatte er mit den Kriminalromanen um den Privatdetektiv Varg Veum. Staalesen lebt mit seiner Frau in Bergen, wo er bis 1987 als Dramaturg am Theater arbeitete. 'Kalte Herzen' ist der sechzehnte Roman in der Varg Veum Reihe.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2
Es war ein blasser, bleicher Januartag. Ich stand an meinem Fenster und schaute hinaus. Vor dem Wochenende war frostklares Winterwetter gewesen, in den Bergen der Umgebung erstklassige Skiverhältnisse. Ich war spät am Freitagmorgen einige Runden in der Lichtloipe gegangen, unter einem mit Sternen gespickten Winterhimmel, in einer von schneeschweren Bäumen umkränzten Spur, ein so weihnachtskartenschönes Erlebnis, dass ich gern jemanden gehabt hätte, dem ich es schicken könnte. Aber das hatte ich nicht, und schon in der Nacht auf den Samstag kam der Wetterumschwung mit kräftigem Wind von Südwesten. Der Regen spülte den Schnee davon, verwandelte ihn in Kaskaden aus Wasser, füllte Keller, sorgte auf den Straßen für Chaos und stellte innerhalb eines halben Tages das gesamte Dasein auf den Kopf. Am Montagmorgen war alles wieder normal. Unten auf dem Fischmarkt hatten sich nur wenige Händler die Mühe gemacht, ihre Verkaufsbuden zu öffnen, aber sie sahen allesamt nicht so aus, als ob sie mit großem Andrang rechneten. Das Angebot war eher mager, und die Marktleute schlangen sich immer wieder die Arme um den Leib, um nicht zu sehr zu frieren. Für Privatermittler, die keine Scheidungsangelegenheiten übernehmen, ist der Januar ein elender Monat. Als ich morgens ins Büro gekommen war, hatte auf meinem Anrufbeantworter eine einzige Mitteilung gewartet, und im Briefkasten war nicht einmal ein Fensterbriefumschlag zu finden gewesen. Wer Rechnungen verschickte, wusste genau, dass so kurz nach Weihnachten bei den meisten die Kasse leer war, und die Werbesendungen, die im Dezember ihre Wirkung nicht getan hatten, würden im Januar auch nichts ausrichten können. Ich hielt eine Tasse frisch aufgebrühten Kaffees in der Hand. Vom Fenster her zog es kalt, und ich hatte die Finger fest um die Tasse geschlossen, um warm zu bleiben. Ich hatte die Tageszeitungen gründlich gelesen, aber auch dort war wenig Erfreuliches zu finden gewesen. Alle schrieben über das Unwetter am Wochenende. Ein Haus in Mathopen war angezündet worden, und die Polizei vermutete rassistische Motive. In Italien waren bei einem Zugunglück acht Menschen ums Leben gekommen. Børge Ousland näherte sich dem Ende seiner Wanderung durch die Antarktis. Ole Gunnar Solskjær hatte bei dem 2 : 1-Sieg von Manchester United im White Hart Lane über Tottenham ein Tor geschossen. Ein Mann war übel zusammengeschlagen draußen in Skuteviken gefunden und von einem vorbeikommenden Taxi in die Notaufnahme gebracht worden. Das Krankenhaus hatte die Polizei informiert, aber der Mann hatte sich geweigert, Anzeige zu erstatten. Die Polizei kommentierte, der Verletzte sei ein alter Bekannter. Sie gingen davon aus, dass es sich um eine Abrechnung unter Kriminellen gehandelt habe. Zugleich teilte der Polizeichef mit, es seien gegen die Drogenszene der Stadt gerichtete Störaktionen geplant. Mehrere Schulleiter hatten ein großes, zum Teil verstecktes Drogenproblem an ihren Schulen gemeldet. Ich setzte mich an den Schreibtisch und schaute den Bildschirm an, auf dem einige Vierecke in unterschiedlichen Farben ziellos vor schwarzem Hintergrund umherschwebten. Bildschirmschoner hieß das, das hatte ich inzwischen gelernt. Der fast zwei Jahre zurückliegende Aufenthalt in Oslo hatte länger gedauert, als mir lieb gewesen war. An den Tagen nach der Operation hatte mich eine kräftige Infektion in einen vierzehn Tage anhaltenden Rausch aus Fieberphantasien und intensiver Behandlung geschickt. Erst gegen Ende Oktober war ich entlassen worden und hatte noch eine Woche bei Thomas und Mari auf dem Sofa gehaust, ehe die Ärzte das Risiko eingehen mochten, mich über die Berge zu schicken. Im Winter war ich dann mehrmals zur Kontrolle im Haukeland gewesen, zum Glück immer mit negativen Ergebnissen. Nach vier Monaten Krankschreibung war ich Ende Februar ins Büro zurückgekehrt, noch immer mit Schmerzen in der Schulter, aber es ging jeden Tag besser, solange ich die vorgeschriebenen Übungen machte. Ich hatte aus der Rekonvaleszenz einen technologischen Fortschritt mitgebracht, einen Computer, der nun leise dröhnend unter dem Schreibtisch auf dem Boden stand, eine Tastatur, die um einiges leichter zu handhaben war als meine alte Schreibmaschine, und einen Bildschirm, der im wahrsten Sinne des Wortes ein Fenster zur Welt darstellte. Die kleine Maus kauerte wie eine gespaltene Schildkröte neben der Tastatur, und ich war nur ein oder zwei Tastendrucke von Wissen und Information aller Welt entfernt. Ich hatte mir eine E-Mail-Adresse zugelegt und gelernt, die Autobahnen des Internets zu befahren. Dabei landete ich nicht ganz selten auf einer Seitenstraße in dem dunkelsten elektronischen Wald, aus dem es keinen anderen Ausweg gab, als auf Ctrl. Alt.Del. zu drücken und wieder von vorn anzufangen. Nach dem einen Jahr hatten noch nicht viele meine E-Mail-Adresse, und ich hatte im Postfach kaum Mitteilungen vorgefunden. Kein Wunder also, dass ich beide Augenbrauen hob, als ich die Tür zum Treppenhaus aufgehen hörte. Vorsichtige Schritte durchquerten das Wartezimmer, und dann wurde an meine Bürotür geklopft. Ich ging hin, öffnete und bedachte meine potentielle Mandantin mit meinem wärmsten Lächeln, so warm, wie ich es an einem Montag im Januar eben zustande brachte. Sie sah mich mit einer Art von routinierter Distanz an, sagte aber nichts. Ich erwiderte ihren Blick und sagte: »Kommen Sie herein. Ich habe gerade Kaffee gekocht.« »Danke.« Sie trat ein und sah sich misstrauisch um. Sie kam mir sofort bekannt vor. Sie war Ende zwanzig, nicht direkt hübsch, und das markante Make-up, das die schönen Augen betonte, konnte deren bitteren Zug nicht verbergen. Ihre Haare waren schwarz, kaum von Natur aus, und auch ihre vollen Lippen hatten etwas Strenges und Bitteres. Sie hatte nicht viele Lächeln zu verschenken, und für mich war keins dabei. Sie trug eine praktische weite Daunenjacke von dunkelroter Farbe und nicht ganz so praktische hautenge graue Jeans. Die hohen schwarzen Stiefel hatten Absätze, auf denen zu balancieren langes Training erheischte. Ich streckte die Hand aus. »Varg.« Sie erwiderte mit einem schlaffen Händedruck: »Hege.« »Wir kennen uns doch irgendwoher, oder?« Für einen Moment schaute sie in eine andere Richtung. »Ja, vielleicht.« Ich musterte ihr Gesicht. Irgendwo dahinter sah ich ein jüngeres Gesicht, ein Mädchen von vierzehn, fünfzehn, schon damals mit einem traurigen Zug um den Mund. »Von …« »Kann ich rauchen?« »Wenn es sein muss.« Sie zog eine Packung aus der patinagrünen Schultertasche, schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie mit einem kleinen Feuerzeug an. Danach sah sie mich durch den Rauch an. »Ich war mit Thomas in einer Klasse. Auf der Grundschule.« »Ja, jetzt weiß ich es wieder. Hege …« »Jensen.« »Und ihr wohntet damals …« »Im Nye Sandviksvei.« »Aber … setz dich.« Ich wies auf den Mandantensessel und nahm eine saubere Tasse aus dem Regal über dem Spülbecken. »Du wolltest doch einen Kaffee?« »Ja, danke.« Ich schenkte ihr ein, und sie lächelte dankbar. Kaffee und Zigaretten. Einige brauchten nicht mehr als das. Ich nahm hinter dem Schreibtisch Platz, mit dem Rücken zum Fenster, hob die Hände und sagte: »Also, was führt dich her?« Sie musterte mich skeptisch. »Ich weiß nicht so ganz, wie ich anfangen soll.« Ich lächelte freundlich, streckte die Hand nach einem Kugelschreiber aus und öffnete mein Notizbuch. »Sag doch einmal, was du so machst.« »Was ich … wo ich arbeite, meinst du?« »Ja, gern.« Sie sah an mir vorbei. Ihre Kleidung und der Zug um ihren Mund hatten mich zu raschen Schlussfolgerungen veranlasst, und ich hatte mich nicht geirrt. »Ich – verkaufe mich selbst.« »Aha.« Ich versuchte, ihr zu verstehen zu geben, dass das hier in meinem Büro keine Rolle spielte. »Das tun wohl die meisten, wenn man genauer hinschaut.« »Bild dir ja nicht ein, dass es so einfach ist«, rief sie wütend, so als hätte sie eine kräftigere Reaktion von mir erwartet. »Hör mal, Hege …« Ich beugte mich vor. »Ich bin ausgebildeter Sozialarbeiter, und mir sind bei meiner Arbeit eine Menge Schicksale begegnet. Ich verurteile niemanden.« Nach einer winzigen Pause fügte ich hinzu: »Aber jetzt möchte ich doch wissen, was du von mir willst.« »Es geht um … eine Kollegin. Eine Freundin. Sie ist verschwunden.« »Seit wann ist sie das?« »Seit …...