Staveley Der verlorene Thron
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-15436-3
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 752 Seiten
Reihe: Thron-Serie
ISBN: 978-3-641-15436-3
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Brian Staveley studierte Kreatives Schreiben an der University of Boston und unterrichtete Literatur, Geschichte, Philosophie und Religion - Themengebiete, die sein eigenes Schreiben nachhaltig beeinflussen. Mittlerweile arbeitet er als Lektor und Autor und lebt mit seiner Familie in Vermont. Der verlorene Thron war seiner erster Roman.
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1
Die Sonne stand dicht über den Gipfeln; ihr wütendes Glühen tauchte die Granitfelsen in ein blutiges Rot. Zu dieser Zeit entdeckte Kaden den zerschmetterten Kadaver der Ziege.
Seit Stunden schon hatte er das Geschöpf über mühselige Bergpfade hinweg verfolgt. Dort, wo der Boden weich genug war, hatte er nach Spuren gesucht, und wenn es nur nackten Felsen gab, hatte er raten müssen und war jedes Mal umgekehrt, wenn sich seine Vermutung als falsch erwiesen hatte. Es war ein langsames und anstrengendes Vorankommen gewesen – und damit genau die Aufgabe, die ältere Mönche gern ihren Schülern stellten. Als die Sonne versank und der östliche Himmel die Purpurfärbung eines Blutergusses annahm, fragte er sich, ob er die Nacht zwischen den hohen Berggipfeln und mit nur einer grob gewobenen Kutte als Schutz würde verbringen müssen. Nach dem annurischen Kalender hatte der Frühling schon vor Wochen eingesetzt, aber die Mönche schenkten dem Kalender genauso wenig Aufmerksamkeit wie das Wetter, das noch immer kalt und ungemütlich war. Flecken schmutzigen Schnees lagen in den langen Schatten, Kälte stieg aus den Steinen auf, und die Nadeln der wenigen knorrigen Wacholderbüsche waren eher grau als grün.
»Du alter Bastard«, murmelte er und überprüfte eine weitere Spur. »Du willst hier draußen genauso ungern schlafen wie ich.«
Das Gebirge bildete ein Labyrinth aus Schluchten und Tälern, ausgewaschenen Flussbetten und steinübersäten Felsvorsprüngen. Kaden hatte bereits drei Flüsse durchquert, die Schmelzwasser führten und gegen die hohen Schluchtwände gischteten, von denen sie eingeschlossen wurden. Seine Kutte war ganz nass. Wenn die Sonne vollständig untergegangen war, würde es frieren. Er hatte keine Ahnung, wie es der Ziege gelungen sein mochte, das fließende Wasser zu überqueren.
»Wenn du mich noch länger um diese Gipfel jagst …«, begann er schon, doch die Worte erstarben auf seinen Lippen, als er seine Beute endlich erspähte. Sie befand sich etwa dreißig Schritt von ihm entfernt in einer engen Kluft. Nur ihre Hinterläufe waren sichtbar.
Obwohl er keinen guten Blick auf das Geschöpf hatte – es schien sich selbst zwischen einem großen Felsbrocken und der Kluftwand festgeklemmt zu haben –, wusste er doch sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Kreatur war still, zu still. Daran sowie an der Art, wie sie die Hinterläufe abgespreizt hatte, war etwas Unnatürliches.
»Na los, Ziege«, murmelte er, als er sich ihr näherte. Er hoffte, dass sich das Tier nicht allzu schwer verletzt hatte. Die Schin-Mönche waren nicht reich und auf ihre Viehherden angewiesen, wenn es um Milch und Fleisch ging. Falls Kaden mit einem verletzten – oder schlimmer noch: einem toten – Tier zurückkehrte, würde ihm sein Umial eine schwere Bestrafung auferlegen.
»Na komm, alter Knabe«, sagte er und bahnte sich langsam einen Weg durch die Schlucht. Die Ziege schien festzustecken, aber falls sie noch laufen konnte, wollte er sie keineswegs durch all die Knochenberge jagen müssen. »Unten lässt es sich besser grasen. Wir gehen gemeinsam dorthin zurück.«
Die Abendschatten verbargen das Blut, bis er beinahe darin stand; die Lache war breit und dunkel und starr. Etwas musste das Tier ausgeweidet haben, von der Hüfte aus bis in den Magen geschnitten und damit die Muskeln durchgetrennt und das Gedärm zerdrückt haben. Während Kaden den Kadaver betrachtete, tropfte das letzte Blut heraus, das aus dem weichen Bauchfell eine verfilzte Masse hatte werden lassen und nun an den steifen Beinen herunterlief. Wie Urin.
»Bei Schael«, fluchte er und sprang über den Steinblock. Es war nicht ungewöhnlich, dass eine Felsenkatze eine Ziege riss, aber nun blieb ihm nichts anderes übrig, als den Kadaver den ganzen Weg bis hinunter zum Kloster auf den Schultern zu tragen. »Du musstest ja unbedingt herumwandern«, sagte er. »Du …«
Er verstummte und erstarrte, als er das Tier endlich in seiner vollständigen Gestalt sehen konnte. Kalte Angst hauchte über seine Haut. Er unterdrückte dieses Gefühl sofort wieder, indem er tief Luft holte. Die Schin-Ausbildung war nicht zu vielem nütze, aber nach acht Jahren war es ihm immerhin gelungen, seine Empfindungen zu dämpfen. Er verspürte zwar noch immer Angst, Neid, Wut oder Überschwang, aber all das drang nicht mehr so tief in ihn ein wie früher. Doch auch aus der Festung seiner Ruhe heraus gelang es ihm nicht, den Blick abzuwenden.
Was immer die Ziege ausgeweidet hatte, es war damit nicht zufrieden gewesen. Irgendein Wesen – Kaden konnte sich nicht vorstellen, worum es sich dabei handeln mochte – hatte dem Tier den Kopf von den Schultern gehackt und die starken Sehnen und Muskeln mit scharfen, heftigen Schlägen durchtrennt, bis nur noch der Halsstumpf übrig geblieben war. Felsenkatzen nahmen sich manchmal ein zu langsames Tier aus der Herde, aber doch nicht auf diese Weise. Diese Wunden waren bösartig, unnötig und zeigten nicht die übliche Effizienz, mit der sonst in der Wildnis getötet wurde. Dieses Tier war nicht nur geschlachtet worden; man hatte es gründlich vernichtet.
Kaden sah sich um und suchte nach dem Rest des Kadavers. Geröll und Geäst waren mit den Frühlingsfluten von den Bergen heruntergeschwemmt worden und hatten sich an der engsten Stelle der Kluft zu einer Masse aus Schlick und skelettartigen, von der Sonne ausgebleichten Holzfingern zusammengeballt. So viel Schutt war in die Kluft gespült worden, dass es eine Weile dauerte, bis er den Kopf gefunden hatte, der in einiger Entfernung auf der Seite lag. Ein großer Teil des Fells war abgerissen und der Schädel gespalten worden. Das Hirn war verschwunden – wie aus der Schale gelöffelt.
Kadens erster Gedanke galt der Flucht. Noch immer tropfte Blut aus dem Fell der Ziege; es wirkte im abnehmenden Licht eher schwarz als rot, und was immer diese Verwüstung angerichtet haben mochte, es konnte sich noch zwischen den Felsen befinden. Keines der hiesigen Raubtiere würde es wagen, Kaden anzugreifen – für seine siebzehn Jahre war er groß. Und ein halbes Leben körperlicher Arbeit hatte ihn schlank und stark gemacht. Aber er wusste doch auch, dass keines der hiesigen Raubtiere einer Ziege den Kopf abhacken und ihr Hirn fressen würde.
Er wandte sich dem Eingang der Kluft zu. Die Sonne war nun hinter der Steppe versunken und ließ nur einen verbrannten Streifen über dem Grasland im Westen zurück. Schon füllte die Nacht die Schlucht an wie Öl, das in eine Schüssel sickerte. Selbst wenn er sofort aufbrach und so schnell wie möglich rannte, würde er die letzten Meilen bis zum Kloster in völliger Finsternis zurücklegen müssen. Auch wenn er seine Angst vor einer Nacht in den Bergen schon lange abgelegt hatte, gefiel ihm die Vorstellung gar nicht, über den holprigen Felsenpfad zu stolpern und dabei möglicherweise von einem unbekannten Raubtier durch die Dunkelheit verfolgt zu werden.
Er machte einen Schritt weg von der zerschmetterten Kreatur, dann zögerte er.
»Heng wird ein Bild davon haben wollen«, murmelte er und zwang sich zurück zum Ort des Abschlachtens.
Mit einem Stück Pergament und einem Pinsel konnte jeder ein Gemälde herstellen, aber die Schin erwarteten mehr von ihren Novizen und Akolythen. Ein Bild war das Ergebnis des Sehens, und die Mönche sahen auf eine ganz eigene Art. Sie nannten es Saama’an: »der Geschnitzte Geist«. Es war natürlich nur eine Übung – ein Schritt auf dem langen Weg, der zur letzten Befreiung und in die Vaniate führte, aber diese Übung besaß durchaus ihre eigenen Vorteile. Während seiner acht Jahre in den Bergen hatte Kaden gelernt, die Welt richtig zu sehen: so wie sie war. Er kannte die Spur des gefleckten Bären, die Zahnung des Gabelblatts, die Furchen der fernen Gipfel. Er hatte zahllose Stunden, Wochen, Jahre damit verbracht, die Dinge zu betrachten, zu sehen und sie sich einzuprägen. Er konnte Tausende Pflanzen oder Tiere bis in die letzte Einzelheit malen und war in der Lage, eine neue Szenerie innerhalb nur weniger Herzschläge in sich aufzunehmen.
Er brauchte zwei langsame Atemzüge und räumte einen Platz in seinem Kopf frei – wie eine leere Schiefertafel, auf der nun jedes Detail eingeritzt werden konnte. Die Angst blieb, aber sie war ein Hindernis, und so dämpfte er sie und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die vor ihm liegende Aufgabe. Als er die Schiefertafel vorbereitet hatte, machte er sich an die Arbeit. Es dauerte nur wenige Atemzüge, bis er den abgetrennten Kopf, die Lachen aus dunklem Blut und den zerfetzten Kadaver des Tieres eingeritzt hatte. Die Linien waren kräftig und fest, feiner als jeder Pinselstrich, und im Gegensatz zu einer gewöhnlichen Erinnerung hinterließ dieser Prozess ein scharfes, lebhaftes Bild in ihm, das so haltbar war wie die Steine, auf denen er stand, und an das er sich jederzeit nach seinem Willen erinnern und es eingehend betrachten konnte. Er beendete den Saama’an und stieß langsam und vorsichtig die Luft aus.
Angst ist Blindheit, murmelte er und wiederholte damit einen alten Schin-Aphorismus. Ruhe hingegen ist Klarsicht.
Diese Worte spendeten angesichts der blutigen Szenerie, die da vor ihm lag, zwar nur schwachen Trost, doch nun, da er die Einritzung besaß, konnte er von hier fortgehen. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter, suchte die Felsen nach Anzeichen des Raubtiers ab und wandte sich dann der Schluchtöffnung zu. Während der dunkle Nebel der Nacht über die Berggipfel rollte, rannte er in der Finsternis...