Steffek / Holthaus | Jenseits der Anarchie | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 13, 310 Seiten

Reihe: Normative Orders

Steffek / Holthaus Jenseits der Anarchie

Weltordnungsentwürfe im frühen 20. Jahrhundert

E-Book, Deutsch, Band 13, 310 Seiten

Reihe: Normative Orders

ISBN: 978-3-593-42293-0
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die traumatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs löste einen regelrechten Boom an Weltordnungsentwürfen aus. Europas Akademiker, Diplomaten und Publizisten diskutierten Möglichkeiten, die internationale »Anarchie« zu überwinden. Ihre Ideen bezogen sie aus liberalen, sozialistischen und christlichen Traditionen des politischen Denkens. Internationale Organisationen, Völkerrecht und Wirtschaftsreformen sollten helfen, den Krieg aus der Welt zu schaffen. Der Band bietet den ersten deutschsprachigen Überblick über die – ebenso vielfältigen wie originellen – Anfänge einer Debatte zu Chancen internationaler Kooperation und Friedenssicherung, die bis heute andauert.
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Weitere Infos & Material


Inhalt
Vorwort
Richard Ned Lebow7

Einleitung: Der vergessene "Idealismus" in der Disziplin Internationale Beziehungen
Jens Steffek und Leonie Holthaus11

Missionare oder Analytiker? Versuch einer Neubewertung der "idealistischen" Schule in der Lehre von den Internationalen Beziehungen
Andreas Osiander25

Von großen Illusionen und bewaffnetem Frieden: Norman Angell und H. N. Brailsford über die Ursachen internationaler Konflikte
Lucian M. Ashworth73

"A Liberal in a Muddle": Alfred Zimmern über Nationalität, Internationalität und Commonwealth
Jeanne Morefield96

Kapitalismus und Aggression - Anmerkungen zu klassischen Imperialismustheorien
David Salomon124

Lord Lothian und der Traum vom föderalen Weltstaat
Stefan Schieren152

Die Welt und wie sie sein sollte - Versuche transnationaler Normenbildung für eine globale Wirtschaftsordnung in den 1930er Jahren
Hagen Schulz-Forberg174

Das Projekt eines neuen "angelsächsischen Jahrhunderts": Rasse, Raum und globale Ordnung
Duncan Bell203

Treitschke, Hitler und der Realismus - Deutschlandbezüge in den britischen Theorien der Internationalen Beziehungen Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts
Leonie Holthaus231

Expertenwissen, Internationalismus und Idealismus: Amerikanische Stiftungen als Förderer der Disziplin der Internationalen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit
Katharina Rietzler255

Die Wissenschaft als Hoffnungsträger einer neuen Weltordnung
Jan-Stefan Fritz280

Autorinnen und Autoren308


Einleitung: Der vergessene "Idealismus" in der Disziplin Internationale Beziehungen

Jens Steffek und Leonie Holthaus

"Es würde nie wieder zu einem Krieg kommen können, da war sich Norman Angell sicher". Mit diesen Worten eröffnet der Journalist Florian Illies das "Juni"-Kapitel seines sehr erfolgreichen Buchs 1913 - der Sommer des Jahrhunderts. Der Engländer Norman Angell war, gemessen an der Zahl der verkauften Bücher, einer der wichtigsten Theoretiker der Internationalen Beziehungen (IB) überhaupt. Allein sein Hauptwerk The Great Illusion (1910) wurde sofort in mehrere Sprachen übersetzt und erreichte eine Millionenauflage. In Deutschland erschienen gleich zwei verschiedene Übersetzungen, eine mit dem Titel Die große Täuschung, die andere als Die falsche Rechnung. Laut Illies legt Angell in diesem Buch "dar, dass das Zeitalter der Globalisierung Weltkriege unmöglich mache, da alle Länder längst wirtschaftlich zu eng miteinander verknüpft seien. […] Angells These überzeugte die Intellektuellen in aller Welt". Viele Rezensenten von Illies' Buch nahmen diese Darstellung bereitwillig auf: ganz Europa stand im Jahr 1913 am Abgrund des Krieges, aber man glaubte lieber einer hanebüchenen Fehlprognose, der "großen Illusion" eines britischen Publizisten. Diese Version konnte man im Donaukurier ebenso lesen wie in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, und selbst im englischen Guardian wurde sie wiederholt. Am 5. Februar 2013 griff auch Peter Friedrich, Europaminister des Landes Baden-Württemberg, die Angell-Referenz vom angeblich unmöglichen Krieg aus Illies' Buch in einer europapolitischen Rede auf. Nur einer widersprach dem Unfug öffentlich: im Kulturteil der Braunschweiger Zeitung publizierte Andreas Matthies, Geschichtslehrer in Gifhorn, einen Beitrag, in dem er darlegt, wie falsch Illies Angells Thesen wiedergibt. Weder war sich Angell sicher, dass es nie wieder Krieg geben würde, noch hat er das irgendwo behauptet. Im Gegenteil: Norman Angell warnte mit großer Dringlichkeit vor dem europäischen Wettrüsten und versuchte seine Zeitgenossen davon zu überzeugen, dass sich Krieg unter den Bedingungen wirtschaftlicher Interdependenz auch für den Sieger nicht lohnt. Die weit verbreitete Ansicht, dass sich ein Krieg durchaus lohnen könnte, das war die große Täuschung, oder auch falsche Rechnung, die Angell meinte, und er schrieb seine Bücher, weil er glaubte, dass noch zu viele seiner Zeitgenossen dieser Täuschung aufsaßen.
Der Mythos, Norman Angell habe kurz vor 1914 den Krieg für überwunden erklärt, hält sich dennoch auch in wissenschaftlichen Kreisen mit großer Hartnäckigkeit, und es gab ihn schon zu seinen Lebzeiten (siehe den Beitrag von Osiander in diesem Band). Woran das liegt, ist unklar, schließlich ist die Great Illusion selbst ein sehr eingängiger und unzweideutig geschriebener Text. Frappierend ist jedoch, dass öffentlichen Fehlurteilen wie dem von Illies heute fast niemand mehr widerspricht, weil kaum noch jemand zu wissen scheint, wer Norman Angell war und was er schrieb. Daran ist die deutsche Politikwissenschaft durchaus mitschuldig. Konfrontiert man an einer deutschen Universität fortgeschrittene Studierende der Internationalen Beziehungen mit dem Namen Angell, so blickt man meist in fragende Gesichter. Angell gehört zu einer Generation von Autoren, gewöhnlich als "Idealisten" der IB bezeichnet, die aus dem deutschen politikwissenschaftlichen Kanon praktisch verbannt wurden.
Der Begriff der "Idealisten" (oder auch "Utopisten") ist dabei ebenso unscharf wie tendenziell herabsetzend. Er wurde in polemischer Absicht von Anhängern einer rivalisierenden "realistischen" Denkschule eingeführt, die die Möglichkeit politischen Fortschritts durch internationale Organisationen, Völkerrecht und Kooperation als naiv und weltfremd verwarf. Die realistische Kritik repräsentiert aber nicht nur eine der üblichen Meinungsverschiedenheiten unter Wissenschaftlern, sondern war ein veritabler Fall akademischen Rufmords. Der britische Historiker E. H. Carr eröffnete diesen mit einer pauschalen Abkanzelung der "Utopisten", die für die junge Disziplin der IB folgenreich sein sollte. Seine Twenty Years' Crisis (1939) ist eine polemische Abrechnung mit dem Denken über internationale Beziehungen in der Zwischenkriegszeit, oder besser, mit dem was Carr als solches darstellte. Seine Vorwürfe gegen die selten namentlich genannten Utopisten wogen schwer: statt mit Fakten hätten sie sich mit Wunschdenken beschäftigt. Völlig untauglich sei ihr Vorgehen gewesen, vergleichbar mit dem der mittelalterlichen Alchemisten, ohne systematische Überprüfung realweltlicher Kausalzusammenhänge. Die Utopisten verkörperten für ihn eine Frühphase der Wissenschaft von den internationalen Beziehungen "in which wishing prevails over thinking". Und nicht zuletzt, so wird bei Carr zumindest insinuiert, hätten die Fehlwahrnehmungen und Fehleinschätzungen der Utopisten schlimme realweltliche Konsequenzen gehabt.
Nun ist E. H. Carrs Kritik an der Vorgehensweise der frühen IB-Autoren nicht völlig unberechtigt. Sie betrieben keine systematisch vergleichende Sozialforschung, auch wenn einige Autoren durchaus empirische Studien unternahmen. Andererseits geht auch Carr in seiner Twenty Years' Crisis nicht wirklich empirisch-analytisch vor, und bezüglich möglicher Fehleinschätzungen der weltpolitischen Lage könnte man mit ihm mindestens ebenso hart ins Gericht gehen. Bekanntlich fand sich in der Erstausgabe der Twenty Years' Crisis von 1939 noch ein Plädoyer für die britische Appeasement-Politik gegenüber Nazi-Deutschland. Diese peinliche Stelle wurde in der Neuauflage von 1946 diskret getilgt, und Carr konnte als einer der Väter nüchtern-realistischer Weltbetrachtung und schonungsloser Analyse der machtpolitischen Realitäten in das kollektive Gedächtnis der Disziplin eingehen. Dass viele britische Idealisten wie Norman Angell, G. D. H. Cole und Alfred Zimmern den Charakter des Naziregimes viel realistischer einschätzten und ein härteres Vorgehen gegen Hitler forderten als Carr gehört zu den nicht wenigen Ironien der disziplinären Geschichte der IB. Zu diesen Ironien gehört auch die hartnäckige Legende, in den USA ganz pointiert verbreitet durch den deutschen Emigranten Hans Hermann (John H.) Herz, wonach die Idealisten den anarchischen Charakter des internationalen Systems ebenso verkannt hätten wie dessen Folgen für das Verhalten von Staaten. In Wahrheit waren es jedoch gerade die gescholtenen "idealist internationalists", die das Anarchie-Problem zuerst formulierten. Die Anarchie-Metapher wurde prominent durch G. Lowes Dickinsons Buch The European Anarchy aus dem Kriegsjahr 1916, später erweitert zu The International Anarchy (1926) (siehe auch den Beitrag von Holthaus in diesem Band). Und auch die Folgeprobleme einer fehlenden Zentralgewalt im internationalen System waren den Idealisten geläufig. Dass etwa die effektive Sanktionierung von Rechtsverstößen das zentrale Problem jeden Systems kollektiver Sicherheit ist, diskutierte David Mitrany 1925 in Buchlänge. David Davies' zweifellos utopische Vorschläge für eine internationale Luftwaffe zur Durchsetzung von Völkerbundsbeschlüssen erwuchsen aus der genauen Analyse der Implementa-tionsproblematik und einer sehr realistischen Einschätzung des militärischen Potenzials verschiedener Waffengattung. Die Idealisten waren sich der Probleme des Regierens "jenseits des Staats" und unter Anarchiebedingungen durchaus bewusst und versuchten ihnen mit der Konzeption des "international government" zu begegnen. Darunter wurde jedoch meist keine zentrale Weltregierung verstanden, sondern "hybride Weltordnungen", bzw. Zusammenspiele diverser Institutionen und Regu-lationsmechanismen, die heute eher unter dem Schlagwort der Global Governance diskutiert werden. Auch diese analytischen Kontinuitäten zeigen, dass es durchaus lohnenswert sein kann, sich noch einmal den Idealisten zuzuwenden.
In der anglophonen, insbesondere in der britischen Politikwissenschaft begann bereits um 1990 eine neue Auseinandersetzung mit den Idealisten. Duncan Bell spricht sogar von einem "historiographical turn" in den IB, da nun disziplinäre Mythen durch historische Quellenarbeit zunehmend kritisch hinterfragt werden. Mittlerweile lässt die Diskussion über den Idealismus unterschiedliche Schwerpunkte erkennen, mit denen wiederum unterschiedliche Wertungen der Idealisten einhergehen. Wie Ned Lebow in seinem Vorwort zu diesem Band bemerkt, ist die Geschichtsschreibung einer akademischen Disziplin eben selbst politisch und von disziplininternen Interessen ebenso geprägt wie von externen politischen Ereignissen.
In der ersten Phase der neueren Rezeption waren revisionistisch angelegte Studien ganz eindeutig an einer Rehabilitation der Idealisten und einer Korrektur gängiger Auffassungen über die sogenannte "first great debate" der Zwischenkriegszeit interessiert. Diese große erste Debatte gilt gemeinhin als disziplinkonstituierender Moment und wird als eine Auseinander-setzung zwischen selbstbewussten Idealisten und Realisten aufgefasst, aus der die Realisten als Vertreter der überlegenen Theorieschule hervorgingen. Peter Wilson und Lucian Ashworth konnten jedoch nachweisen, dass eine ernsthafte Debatte dieser Art nie stattgefunden hat, und dass die damaligen Autoren sich nie selbst als Idealisten bezeichnet haben. Zudem zeigten Ashworth, Wilson und andere, dass viele gängige Klischees über die Idealisten jeder Grundlage entbehren, und behaupteten auch, dass diese Autoren wesentlich lesenswertere Schriften als die Realisten verfasst hätten. In der Tat mündeten diese ersten, vom Interesse an einer Aufwertung der Idealisten getriebenen Arbeiten meist in Vorwürfen an die Adresse der Realisten und "ihre" Geschichtsschreibung. Zusammen mit kritischen Theoretikern der IB kritisierten revisionistische Studien, dass die "realistische" Geschichtsschreibung zu einer grundsätzlichen Abwertung normativer Ansätze in der Disziplin geführt habe. Entgegen dem erklärten Ziel gelang es den Revisionisten aber nicht, das Narrativ der ersten großen Debatte durch ein anderes zu ersetzen, das den sogenannten Idealisten besser gerecht wird. Auch hält sich der kritisierte Begriff des "Idealismus" in der Disziplin und wird sogar von manchen trotz seiner belasteten Geschichte verteidigt. So schlägt beispielsweise Ken Booth vor, den Idealismusbegriff beizubehalten, um progressive Ideen von konservativen Kon-zepten zu unterscheiden. Als "idealistisch" sollen laut Booth aber nur Ideen bezeichnet werden und nicht Autoren, die komplexe und nuancierte Werke verfasst haben.


Jens Steffek ist Professor für Transnationales Regieren an der TU Darmstadt. Leonie Holthaus, M.A., ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin.


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