E-Book, Deutsch, 222 Seiten
Steger / ?teger Das Lachen der Götter
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8353-8509-2
Verlag: Wallstein Erfolgstitel - Belletristik und Sachbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 222 Seiten
ISBN: 978-3-8353-8509-2
Verlag: Wallstein Erfolgstitel - Belletristik und Sachbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ale? ?teger, geb. 1973, ist der bekannteste slowenische Autor seiner Generation und lebt in Ljubljana. Er studierte Vergleichende Literaturwissenschaften und Germanistik, reiste viel und debütierte 1995 mit einem Lyrikband. Darauf folgten weitere Gedichtbände, Romane und Essays, seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Ale? ?teger ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, sowie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
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Europa
1.
Das Wetter ist umgeschlagen. Stürmischer Wind und heftiger Regen haben den gesamten Verkehr zum Erliegen gebracht, auch den Schiffsverkehr. Die Fähre wird die Insel erst verlassen, wenn sich die Lage stabilisiert hat, was einige Tage dauern kann. Glücklicherweise konnte ich meinen Rückflug zum zweiten Mal verschieben und meinen Aufenthalt in der Pension Gunnarson verlängern. Das Steinhaus des Gästehauses ist mehrere Jahrhunderte alt: ein Dachgeschosszimmer, starker Fäulnisgeruch, gelegentliche Stromausfälle, der knarrende Lackboden und die Zugluft unter den Fensterbänken. Das Gästehaus sah auf Booking.com viel besser aus. Ich starre stundenlang aus dem Fenster auf den Nebel und in den Regen, der gegen die Scheiben schlägt. Schon um drei Uhr nachmittags verschwinden die Konturen vom allem, und bald sind die einzigen Orientierungspunkte in der Dunkelheit die Geräusche des Sturms und das rote Bereitschaftslicht des abgeschalteten Fernsehers. Ich kann immer noch kaum die Ränder des Notizbuchs in meinem Schoß erkennen, das Stück Papier, das ich im Dunkeln immer wieder zu- und auffalte. Im nächsten Moment verschwindet beides. Es liegt alles in meiner Hand, und auch wieder nicht. Nur wenn ich die Augen schließe, kann ich noch eine Lichtspur sehen, die Illusion meiner Erinnerung. So liege ich eine Weile da, zugedeckt mit allen Decken, mit denen die Zimmer im Gunnarson-Gästehaus ausgestattet sind, und ich passe auf, dass ich die Wodkaflasche auf dem Nachttisch nicht aus Versehen im Dunkeln umstoße. Ich ertaste den Sockel der Tischlampe, die mich im nächsten Moment blendet. Ich blättere in meinem Tagebuch. Ich lese immer wieder über die Seiten, die ich vor vielen Jahren dahin gekritzelt habe, kopiere Sätze, kommentiere sie und füge immer wieder etwas hinzu. Ich spüre, wie bei dieser Aufgabe die Macht der Erinnerung in mir erwacht, dann wieder bin ich mir unsicher, ob ich das alles nicht erfinde, Ereignisse verdrehe, die acht Jahre zurück und weit weg liegen wie die Schatten fremder Gegenstände mitten in der Nacht. Ab und zu nehme ich einen Schluck aus der Flasche, um mich zu wärmen. Dann starre ich wieder aus dem Fenster und betrachte mein eigenes Spiegelbild in der dunklen Glasscheibe. Wie gut, dass ich mein altes Tagebuch mitgenommen habe! Was wäre jetzt ohne diese Seiten? Wahnvorstellungen? Schreiben beruhigt mich, gibt mir das Gefühl, dass es eine Welt gibt, dass es Wahrheit und Erkenntnis gibt. Wenn ich schreibe, kläre ich, was mit uns geschehen ist, aber noch mehr erkläre ich mir selbst meine Gefühle und versuche, die inneren Anschuldigungen und Einwände der Vernunft, die an mir nagen, zu kontrollieren. Ich weiß nicht, ob ich Fortschritte mache, ob es mir mit der Zeit gelingen wird, die Teile des zerbrochenen Erinnerungsmosaiks zusammenzusetzen, aber ich weiß, dass ich nicht aufhören darf, dass ich alles aufschreiben muss, was ich fühle und denke, für mich, für meine Seele. Als hätte ich diesen Moment vorausgesehen, hatte ich das Tagebuch automatisch eingepackt. Ich ging davon aus, dass Barisha und ich uns nach so vielen Jahren wiedersehen würden, und dass die alten Notizen mir helfen würden, mich an die Namen unserer gemeinsamen Istanbuler Bekannten und unsere Gespräche zu erinnern. Ohne diese Seiten wäre ich meinen eigenen inneren Gedächtnisanpassungen völlig ausgeliefert gewesen. Ich führe nur gelegentlich Tagebuch und lese praktisch nie, was ich geschrieben habe. Warum schreibe ich es dann? Weil ich meinem Gedächtnis nie ganz getraut habe und Wege finden musste, mich zu schützen. In der akademischen Welt kommt das Eingeständnis der eigenen Vergesslichkeit einem Selbstmord gleich. Die Tatsache, dass ich mich schon lange nicht mehr gegen das Vergessen wehre, würde vielen Menschen ketzerisch vorkommen. Ich verstehe es als einen natürlichen neurologischen Prozess. Ich bin mir sicher, dass das Vergessen eine Funktion hat, sonst würde es nicht existieren. Das Vergessen ist nicht schlimm. Das Vergessen schützt, es ermöglicht etwas Drittes, davon bin ich fest überzeugt. Ich führe und behalte die Tagebücher lediglich als letzten Ausweg. Und ich habe sie fast nie bei mir. Aber dieses Mal schon … Ich bin verwirrt, alles hängt mit mir zusammen und ich kann das Gefühl der Fatalität nicht abschütteln. Ich bin nicht bloß passiver Zeuge, auch wenn es so aussehen mag, auch wenn ich alles getan habe, was in meiner Macht stand, um nie mehr als eben ein passiver Zeuge zu sein.
2.
Ist es zu naiv, zu fatalistisch, zu sagen, dass alles vorherbestimmt, ja unvermeidlich war? Ihr Anruf in meinem Hotel in Stockholm. Barisha klang apokalyptisch, aber sie klang immer apokalyptisch. Ob ich nicht unverzüglich nach Vaxholm kommen könnte? Natürlich konnte ich nicht, der Kongress war im Gang, ich für drei Panels angemeldet. Und selbst wenn ich es nicht gewesen wäre, gehörte es sich, bis zum Ende dabei zu bleiben, und ich hatte keine Lust, sie wiederzusehen. Monatelang hatte ich mir immer wieder am Telefon angehört, dass sie mit allem Schluss machen würde, zu lange, als dass ich ihre Geschichten noch ernst nehmen könnte. Doch als der Kongress zu Ende war, rissen ihre SMS nicht ab. Und dann war da noch Alis E-Mail. Schweren Herzens verschob ich meinen Rückflug und erfuhr erst dann zu meiner Überraschung, dass Vaxholm kein Vorort von Stockholm ist, sondern ein Ort auf einer der vielen Inseln im Archipel vor der schwedischen Hauptstadt. Also kaufte ich ein Fährticket, rechnete die Verbindungen aus und glaubte, dass ich am nächsten Morgen früh von meinem Treffen mit Barisha zurück sein würde. In Vaxholm erwartete mich dann ein Schock. Die Polizei war in Barishas Wohnung, es folgte ein mehrstündiges Warten auf dem Revier, ein Polizeiprotokoll und die Identifizierung der Leiche am nächsten Morgen in Vaxholms Vårdcentral, dem städtischen Krankenhaus. Inzwischen hatte sich das Wetter geändert. Barisha wäre mit ziemlicher Sicherheit noch am Leben, wenn ich sofort nach ihrem ersten Anruf gekommen wäre. Dieser Gedanke wird mich nie verlassen. Auch wenn es im vergangenen Jahr unzählige ähnliche Anrufe gegeben hat. Ich habe mich einfach an ihre Verzweiflung gewöhnt. Sie sprach unaufhörlich über ihr ruiniertes Leben und das des Mädchens. Von inneren Zweifeln und der Kraft der Selbsttäuschung. Die ganze Zeit über konnte ich nicht wissen, dass es niemandem gelungen wäre, Barisha in diesen schwierigen Zeiten beistehen zu können. Ich war mir sicher, dass es andere Bekannte, Kollegen, vielleicht einen Liebhaber gab. Ich hatte nie gefragt. Ich habe es nie zugelassen, dass wir uns zu nahe gekommen wären. Distanz schützt, ebenso wie das Vergessen. Dessen bin ich mir sicher. Zugleich war ich durch unsere kurze Affäre vor zwei Jahren an sie gebunden. Ich war nicht in der Lage, den Kontakt vollständig abzubrechen, obwohl ich es im Stillen wollte. Es war ein albernes Abenteuer, eine durchsoffene Nacht nach dem Kongress des Europäischen Verbands der Literaturübersetzer in Brüssel. Wir hatten uns betrunken, dann schleppte sie mich in ihr Hotelzimmer ab. Als wir fertig waren, lag plötzlich ein ganz anderer Mensch neben mir. Es war, als ob der Sex eine versteckte Psychose oder eine bestimmte Angst in ihr hervorgerufen hätte. Sie hörte nicht auf zu weinen. Ihr kleines Mädchen war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt. Auf den Bildern ihres Handys sah sie schon ziemlich erwachsen aus. Ich hörte mir bis zum Morgengrauen Geschichten über die beiden an, tröstete sie und versuchte, sie zu ermutigen, aber im Grunde konnte ich sie nicht erreichen. Erst an diesem schlaflosen verkaterten Morgen spürte ich, wie instabil und unberechenbar Barisha war und wie unsagbar weit wir voneinander entfernt waren. Und dann gestand ich mir ein, was ich schon bei unserer ersten Begegnung in Istanbul vermutet hatte: dass ich ihre Welt einfach nicht verstand, geschweige denn ihre Gefühle. Dass ich sie nie wirklich verstehen würde. All dies wurde nun bestätigt und erscheint mir jetzt ganz logisch und offensichtlich. Damals aber … In Brüssel hatte ich das Ganze zu technisch betrachtet, als eine Art von Krisenmanagement. Es gab ein Problem, und ich versuchte, es zu lösen. Nach ihrer Flucht aus der Türkei geriet Barisha in die frustrierenden Mühlen der Asylbürokratie. Das brachte sie schließlich an den Rand ihrer Kräfte. Aber nicht die Bürokratie war das Problem, sondern ihre Einsamkeit, das habe ich damals wohl nicht gesehen, oder besser gesagt, ich war nicht bereit, es zu sehen. Statt der menschlichen Nähe, nach der sie sich so sehr sehnte, vermittelte ich ihr einen Anwalt, der ihr und dem kleinen Mädchen in nur wenigen Monaten zunächst Asyl in Schweden und später eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis verschaffte. Ich betrachtete ihre Probleme so nüchtern wie möglich, analysierte die Möglichkeiten, wählte die günstigste aus und legte die Schritte, Optionen, Risiken und möglichen Ergebnisse fest – rein technisch eben. Ich war zufrieden, ja sogar stolz auf all das, was ich für sie erreicht hatte. Barisha hingegen kümmerte sich wenig darum, obwohl die Verhandlung bezüglich des rechtlichen Status für ihr zukünftiges Leben und das ihres kleinen Mädchens entscheidend war. Anstatt über die juristischen Verfahren und die neuen Hoffnungen zu sprechen, erzählte sie am Telefon immer mehr davon, was die Ablehnung, die Hindernisse und das Leid aus ihr und dem Mädchen gemacht hatten, wie sie irreparabel verkrüppelte und zerstört wurde. Ich habe ihre Ausbrüche von Fatalismus willentlich überhört. Gleichzeitig hatte ich den größten Respekt vor Barisha. Ich bewunderte, was sie bereit war, für das Kind eines Fremden zu opfern. Selbst wenn … Die Wahrheit ist, dass ich selbst nie bereit gewesen war, mich zu tief auf...