E-Book, Deutsch, 674 Seiten
Stehr Das Geschlecht der Mächler - Romantrilogie: Die Geschichte einer deutschen Familie
1. Auflage 2016
ISBN: 978-80-268-6608-4
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Familiensaga: Lebensschicksal einer schlesischen Handwerkerfamilie (Droben Gnade drunten Recht)
E-Book, Deutsch, 674 Seiten
ISBN: 978-80-268-6608-4
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses eBook: 'Das Geschlecht der Mächler - Romantrilogie: Die Geschichte einer deutschen Familie' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Inhalt: Nathanael Maechler Die Nachkommen Damian oder Das große Schermesser Hermann Stehr (1864-1940) war ein deutscher Schriftsteller aus der Grafschaft Glatz. Aus dem Buch: '...In den Sekunden, die seiner Besinnungslosigkeit vorangingen, erlebte Damian das gleiche, was jedem Ertrinkenden widerfährt, wie man aus den Berichten derjenigen weiß, die gerettet werden konnten: durch sein Hirn jagten wie Wolkenfetzen Erinnerungsbilder und Eindrücke aus seinem Leben, zusammenhanglos, wie in wirren Träumen. Das erste, was er empfand, war, er stürze von neuem wie damals im Zuge nach Breslau vor dem Tunnel Hunderte von Metern aus der Luft in eine saugende Tiefe, und wieder dröhnte es brausend in seine Ohren; nur hatte er jetzt das Gefühl, es wirbele ihn mitten in einem donnernden Wasserfall reißend bergab. Merkwürdigerweise drang durch das tobende Element die Stimme Reinhards an sein Ohr, der, schon weit über ihm, auf einem Brücklein stand, das Damian als die Heidewasserbrücke erkannte, und ihm händeringend, voller Angst zurief: 'Das habe ich nicht gewollt! Ich selbst gehöre unter die Steine da im Wasser! Hörst du mich? Ich werde es wiedergutmachen, so wahr mir Gott helfe, mein Leben werde ich für dich einsetzen, dich zu retten!' Was er ihm noch weiter zuriet, konnte Damian nicht mehr hören, denn der Strudel hatte ihn schon zu weit fortgerissen, und gleich darauf schwanden ihm die Sinne...'
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Zweites Kapitel
Inhaltsverzeichnis Großmann war kurz vor dem Abend in sein Baudenhaus zurückgekehrt, das nur eine halbe Stunde unterhalb des Mädelkamms, der sanften, langen Einsattelung zwischen der großen Sturmhaube und den Mädelsteinen, so nahe an dem steilen Abfall nach dem Bärengrund lag, daß man von den Fenstern des wettergrauen Holzhauses über die Wipfel der schon spärlichen, schneegedrückten Fichten schauen konnte, die den Lauf des kleinen unruhigen Baches begleiteten. Er führte noch das Schmelzwasser der alten Schneewächten aus den Mulden der Mädelwiesen zu Tal und polterte laut aus dem Grunde herauf. Großmann stand an dem geöffneten Fenster, hielt das Fensterkreuz mit der linken Hand krampfhaft umspannt, als müsse er sich in einem fahrenden Wagen aufrechterhalten, horchte auf das dumpfe Lärmen des Bärengrundwassers drunten und beugte sich von Zeit zu Zeit weit hinaus, um den Grund hinunter zu spähen, der schon in den Schatten der beginnenden Nacht verschwamm. Es war nichts zu sehen und zu hören. Er ließ enttäuscht die Hand vom Fensterkreuz fallen, schüttelte tiefaufatmend den Kopf und griff entschlossen nach den beiden Flügeln. Ehe er aber das Fenster schloß, beugte er sich noch einmal weit hinaus und schrie so verzweifelt in die Nacht hinaus, daß seine Stimme überschnappte. »Franz! ... Franz! ... Franz! ...«, rief er aus Leibeskräften wie um Hilfe in die Finsternis und wartete angehaltenen Atems auf einen Widerlaut von draußen. Es blieb still, und nur der Vogelstein wurde von dem Licht des Mondes bleich überschimmert. Großmann wirbelte das Fenster zu und setzte sich abgeschlagen auf das Ende der Tischbank. »Was soll ich denn hier, wenn er nicht kommt?« murmelte er dumpf und griff mit den Händen ineinander, daß die Finger knackten. Auf dem Tisch hinter ihm stand ein kleines Lämpchen, dessen rötlicher Lichtkreis kaum bis an die niedrige dunkle Balkendecke reichte. Die gegenüberliegende Tür der großen Stube war kaum zu erkennen, so daß sich Großmann wieder wie eingemauert vorkam. – Wirklich eingeschlossen, so daß er im Dunkel gefangen saß, auch wenn er hinauslief und im Gebirge herumkletterte. Nicht zu zerbrechen waren diese Wände, gegen die sein Leben ohnmächtig ankämpfte. Jaja, anfänglich waren das nur Schatten gewesen, würgende Befürchtungen, die ihn angefallen, aber wieder verlassen hatten. Allein nachdem die Sorge um den verschollenen Sohn seine Frau in einer Nacht umgebracht hatte, war er ringsum eingemauert worden. Richtig wie in einer Höhle lebte er seitdem, immer nach dem Spalt spähend, der von irgendwoher das Licht einer Hoffnung einließ, deren Ungewißheit ihn besonders quälte. Und wenn diese Hoffnung, seinen einzigen Sohn wiederzubekommen, ein Unsinn war, so hatte auch der Gram keinen Sinn, der ihn ritt, keinen anderen Sinn als den, gleich seinem Weib unter die Erde zu kriechen, um nichts mehr zu sehen und zu hören. Nein, nein, das stimmte nicht, deswegen konnte er nicht auf die Erde gekommen sein. Deswegen bestimmt nicht! Denn wenn es so enden sollte, wozu hatte es ihn heute nachmittag beim Heraufsteigen bei den Eichlerbauden wie eine grelle Erleuchtung überfallen, daß der Handwerksbursche, den er bei der Elbklemme auf der Hohenelber Straße getroffen hatte, doch sein Sohn Franz gewesen sei, trotzdem seine Nase anders geformt war und er allerhand durcheinander geredet hatte, was nicht stimmte. Das war doch immer ein Heimlicher gewesen, der wie hinter fernen Hügeln gelebt hatte, genau so nicht ganz zu fassen wie sein Weib. Und hatte der Handwerksbursche nicht vor dem Weggehen gesagt, daß er wiederkommen würde, und wenn's aus Amerika wäre?! Draußen wurde die Haustür aufgestoßen. Großmann sprang aus seinem Sinnen erwartungsvoll auf und tat einen Schritt auf die Stubentür zu, weil er meinte, daß es bald anklopfen würde. Es blieb still. Nach einer Weile hörte er nur seine Tochter mit harten, langen Schritten den engen Vorraum herkommen und die Tür laut zuschlagen. Jetzt war sie auf dem Rückwege wieder an der Stubentür. Großmann setzte sich schnell wieder und rief laut: »Paula!« Sie trat schroff ein und blieb unter der offenen Tür stehen. Großmann senkte den Kopf, als er ihre knochige, derbe Gestalt und die stechenden Augen unter der schmalen Stirn gesehen hatte. »Na?« fragte sie mit hoher unwirscher Stimme. Großmann hielt den Kopf zur Erde gekehrt und sagte dumpf: »Die Haustür ist gegangen.« »Nu freilich, weil sie der Wind aufgestoßen hat«, antwortete sie kurz. »Der Wind, bloß der Wind?« fragte Großmann zaghaft. »Wer denn sonst, he?« fragte sie ironisch wider, Großmann antwortete nichts, sondern versank wieder in Brüten. Als er hörte, wie sie sich wendete, um hinauszugehen, rief er wieder ihren Namen, erhob sich, tat einen Schritt auf sie zu, breitete die Arme aus, sah nach allen Seiten und sagte mit bebender, geheimnisvoller Stimme: »Paß gut auf, Paula, heute geht er ums Haus, heute kommt er gewiß. Ich bin ihm auf der Hohenelber Straße begegnet.« Das Mädchen entgegnete nichts, zog sich furchtsam vor ihrem Vater zurück und schloß leise die Tür. Als Großmann sich allein sah, ging er an den Tisch, blies das Lämpchen aus, trat in die Mitte der Stube und blieb dort regungslos stehen, um etwas von dem zu erhaschen, was leidenschaftlich in ihm arbeitete. Und weil er in der Finsternis noch die bleichen Vierecke der vom steigenden Mond schwach erhellten Fenster sah, schloß er sogar die Augen. Kaum war das geschehen, so vernahm er aus dem Raumlosen einen schwachen Schmerzenslaut. Sogleich raffte er die Mütze von der Bank und lief durch die Stube aus dem Hause. Daß er beim Zuschlagen der Haustür die Mütze aus der Hand fallen ließ, spürte Großmann nicht. Mit springenden Schritten rannte er ums Haus und stürzte sich ohne Besinnen den steilen Abhang hinunter, daß die Steine klirrten. Als er drunten am Bärenwasser angekommen war, fiel zu seinem Verwundern alle Erregung und Angst von ihm ab. Gesammelt, Schritt vor Schritt, ging er am Wasser hin zu Tal, bog die Fichten zur Seite, lugte unter ihre Schirme, sprang den Bach hinüber und herüber, wartete, wenn eine Wolke alles verdunkelte, und spürte im schwachen Licht dann weiter. Endlich kam er an den Ort, wo Nathanael Maechler hingesunken war. Er lag, den Kopf auf dem Ranzen, den Mantel bis ans Kinn heraufgezogen, lang und regungslos wie ein Toter. Die Augen geschlossen. Der Mund halb offen. Die Hände welk. Das Gesicht kühl. Großmann kniete neben ihm und tastete scheu an ihm herum. So, nun hatte er seinen Sohn wieder. Ein gramvolles Glück kam über den jahrelang Gepeinigten, daß er seine Hände zurückzog, weil er ihn nicht mehr zu berühren wagte. Die Tränen liefen ihm still übers Gesicht, indes er so lange regungslos neben dem Hingestreckten kauerte. Plötzlich überfiel es ihn, er dürfe nicht dulden, daß sein Sohn tot sei. Er packte, rüttelte ihn, strich ihm übers Gesicht, rief ihm seinen Namen ins Ohr, küßte ihn und hob seinen Oberkörper auf. Maechler gab keinen Laut von sich und fiel immer wieder wie ein Lebloser auf die Erde zurück. Großmann sah endlich ein, daß er allein nicht imstande sei, etwas auszurichten. Er legte den Verschobenen gerade, deckte sorgsam den Mantel wieder über ihn und lief in sein Haus hinauf. Nicht ohne Widerstreben vermochte der bis ins letzte Haar erschütterte Mann seine Tochter von der Wirklichkeit des Fundes drunten am Bärenwasser zu überzeugen. Paula vollendete die Stallarbeit achtsam und umsichtig, indes der Vater immer dringender, immer leidenschaftlicher hinter ihr her redete, denn sie war zu oft umsonst auf die Wahnpläne Großmanns eingegangen, viele Male mit ihm nach Hohenelbe gepilgert, ganze Nächte spähend wach geblieben, war diesem und jenem Fremden nachgeschlichen, hatte hundertmal den letzten Brief des Wiener Meerschaumpfeifenschneiders und Bernsteindrechslers Kotzar lesen müssen, der das Verschwinden ihres Bruders in dem blutigen Volkstumult gemeldet hatte. In den Jahren dieser steten Aufregung war sie nicht nur von der Verrücktheit ihres Vaters, sondern auch davon überzeugt worden, daß sie ihm eigentlich nichts bedeutete, während er mit immer fieberhafterem Herzen dem Schatten des Verschwundenen nachspürte und in jedem Frühjahre sich wochenlang richtig fast wie ein Irrer gebärdete. Nein, einmal mußte sie fest bleiben gegen diesen Unsinn. Sie stand verstockt im Gange und nestelte an dem Band, mit dem sie sich die Röcke heraufgeschürzt hatte, als Großmann, einen Bund Stricke über der Achsel, in der einen Hand die Laterne, in der andern ein Beil, die Stiege herabkam und so entschlossen und so drohend auf sie zutrat, daß sie eine Gewalttat des Verzweifelten fürchten mußte, wenn sie noch länger an seinen überstürzten Worten vorbeihörte. Mit einem Ruck zerriß sie das Band und sagte: »Gut. Es ist wieder ein Unsinn. Aber ich will mitgehen. Allein merk dir's, es ist das letztemal.« Sie schlug ein Tuch um den Kopf, zog sich eine Jacke an und folgte ihrem Vater, der mit der Laterne vorausging. Hinter dem Hause zog er ein Brett von dem Stoß, wand die Stricke darum, faßte das vordere Ende und hieß sie das hintere ergreifen. So stiegen die beiden den steilen Abhang hinunter. Als sie bei Nathanael Maechler ankamen, der wohl im einsetzenden Fieber den Mantel halb und halb von sich gestreift hatte, ließ das Mädchen das Brett fallen und packte mit dem Ausruf: »Vater!« vor Schreck in den Arm Großmanns. Der aber umschlang vor überströmender Erschütterung seine Tochter und stammelte mit stockender Stimme: »Jaja, nun siehst du's, daß ich kein Verrückter bin. Aber nun komm, daß wir ihn...