Steindl-Rast / Kreuzeder | HerzWerk | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Steindl-Rast / Kreuzeder HerzWerk

Freude finden mit Rainer Maria Rilkes "Sonette an Orpheus"
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7022-4258-9
Verlag: Tyrolia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Freude finden mit Rainer Maria Rilkes "Sonette an Orpheus"

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-7022-4258-9
Verlag: Tyrolia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Handeln aus der Tiefe des Herzens Die Orpheus-Sonette von Rainer Maria Rilke als Wegweiser für ein geisterfülltes Leben Für David Steindl-Rast - er war ein halbes Jahr alt, als der Dichter im Dezember 1926 starb - ist Rilke seit seiner Jugend eine Art Leitstern, dessen Gedichte in die Tiefe des Lebens führen. Als Künstler lässt Rilke jede dogmatische Enge hinter sich und gibt mit seinen rätselhaften Metaphern den tiefsten Fragen der menschlichen Existenz Ausdruck und Form. Orpheus, der legendäre Sänger der Antike, wird zum Urbild des Menschen, der sich vom Fest des Lebens zuinnerst anrühren lässt. Der so offen und durchlässig ist für das Dasein, dass ihm alles zum Anlass für Gesang und Rühmung wird. 'Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens' wird Rilke zum Vorbild für alle spirituell Suchenden von heute. In 24 Meditationen erschließt Br. David im Gespräch mit der Rilke-Kennerin Alexandra Kreuzeder die Botschaft der 'Sonette an Orpheus', einem der Hauptwerke Rilkes. Seine Gedichte sind eine Einladung, sich über alles oberflächlich Erfasste hinweg auf die Tiefe des Herzens einzulassen und zum Wesentlichen vorzustoßen: 'Denn des Anschauns, siehe, ist eine Grenze. Und die geschautere Welt will in der Liebe gedeihn. Werk des Gesichts ist getan, tue nun Herzwerk' (Rilke).

Bruder DAVID STEINDL-RAST, geb. 1926 in Wien, studierte Psychologie und Anthropologie. Der Benediktinermönch engagiert sich seit den 1960er Jahren im interreligiösen Dialog und stand in engem Kontakt mit Thomas Merton, Thich Nhat Hanh oder dem Dalai Lama; erfolgreicher Buchautor (zuletzt im Tyrolia-Verlag 'Orientierung finden' und 'Der Fließweg. Gedanken zum Daodejing des Laozi') und Initiator des Netzwerks 'Dankbar Leben', siehe www.dankbar-leben.org. Sein Lebenswerk dokumentiert die Online-Bibliothek www.bibliothek-david-steindl-rast.ch/ ALEXANDRA KREUZEDER, geb. 1972 in Salzburg, ist Soziologin, Logotherapeutin, Achtsamkeits- und Mitgefühlstrainerin. Sie ist Zen-Schülerin und Mitglied der benediktinischen Weggemeinschaft im Europakloster Gut Aich (Salzburg), das ihr Heimat ist und in dem auch Bruder David lebt. Im Kloster leitet sie u. a. den Dankbar-Leben-Begegnungsraum. Als langjährige Rezitatorin hat sie sich auf Rilke spezialisiert. Mitglied der internationalen Rilke-Gesellschaft.
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1.
„O dieses ist das Tier, das es nicht giebt“ (II,4)
Dichtung und Religiosität


O dieses ist das Tier, das es nicht giebt.

Sie wußtens nicht und habens jeden Falls –

sein Wandeln, seine Haltung, seinen Hals,

bis in des stillen Blickes Licht – geliebt.

Zwar war es nicht. Doch weil sie's liebten, ward

ein reines Tier. Sie ließen immer Raum.

Und in dem Raume, klar und ausgespart,

erhob es leicht sein Haupt und brauchte kaum

zu sein. Sie nährten es mit keinem Korn,

nur immer mit der Möglichkeit, es sei.

Und die gab solche Stärke an das Tier,

daß es aus sich ein Stirnhorn trieb. Ein Horn.

Zu einer Jungfrau kam es weiß herbei –

und war im Silber-Spiegel und in ihr.

Mit diesem Sonett kommen gleich zwei grundlegende Themen ins Blickfeld, deren Beachtung unser Verständnis von Rilkes Werk erleichtern kann. Das erste ist Dichtung. Das zweite ist Religiosität, also die Ergriffenheit vom Großen Geheimnis des Seins, im Unterschied zu den Religionen. Diese beiden Themen ziehen sich eng miteinander verwoben durch die Sonette an Orpheus. Wir wollen die beiden gleich hier am Anfang unserer Betrachtungen kurz ins Auge fassen.

Zunächst Dichtung. Worum geht es denn beim Dichten überhaupt? Schon der erste Satz dieses Sonetts weist darauf hin, denn er hat nur im Raum der Dichtung Sinn: „Dieses ist das Tier, das es nicht giebt.“ Ist das nicht reiner Widerspruch, purer Unsinn? Was es nicht gibt, ist eben nicht wirklich. Ja, es ist unwirklich für alle, denen nur das Handgreifliche als wirklich gilt. Und leider sind das zu viele unter uns. Denen aber stellt der Dichter gleich all jene gegenüber, deren Verständnis der Wirklichkeit noch nicht so eingeengt war, wie das unsrige es geworden ist. „Sie“, das sind die Schöpfer der berühmten Einhorn-Wandteppiche, die Rilke zu diesem Sonett angeregt haben. Aber „sie“ sind auch alle Kinder, bevor man ihnen das Dichten austreibt. „Sie wußtens nicht“ – wussten nicht, dass es (angeblich) nicht gibt, was es in einer halbblinden Welt wie der unsrigen nicht geben darf. Jedoch das Kind in allen von uns weiß um die Wirklichkeit von vielem, „das es nicht giebt“ – das es für den verengten Blick nicht gibt.

„Ist die Kindheit, die tiefe, versprechliche, in den Wurzeln – später – still?“ (II,27), fragt der Dichter. Nein. Das Kind in uns schläft nur „bei den Wurzeln“ (I,14). Dichtung will dieses Kind in uns wieder aufwecken. Es will ja aufwachen, weil unsere Kindheit zu kurz war, um das Kind zu werden, das wir eigentlich sind. Auch das Kind in dir dichtet und liebt das Einhorn.

„Zwar war es nicht. Doch weil sie's liebten, ward ein reines Tier.“ Nicht, dass sie es eigenwillig erfanden, sagt der Dichter hier, sondern es „ward“. „Sie ließen immer Raum. Und in dem Raume, klar und ausgespart, erhob es leicht sein Haupt und brauchte kaum zu sein.“ Dieses Raumlassen ist das Wichtigste am Dichten. Denken wir nur an den „Zwischenraum“ von Christian Morgensterns „Lattenzaun“1, oder an den Vers von Joachim Ringelnatz: „Die Löcher sind das Wichtigste am Sieb.“2 Rilke nennt „Spiegel“ die „wie mit lauter Löchern von Sieben erfüllten Zwischenräume der Zeit“ (II,3). Das Raumlassen bei Dichtung äußert sich als ein Hinhorchen auf „Möglichkeit“. Möglichkeit ist hier das entscheidende Wort. Für tiefes Hinhorchen kann alles Mögliche und Unmögliche Wirklichkeit werden. Dann beginnt es zu wirken und zeigt, dass die Möglichkeit ungeheure Wirkkraft hat. Die pure „Möglichkeit, es sei“, „gab solche Stärke an das Tier, daß es aus sich ein Stirnhorn trieb. Ein Horn.“ Damit steht „das Tier, das es nicht giebt“ in aller Wirklichkeit vor uns – in gedichteter Wirklichkeit.

Die beiden letzten Zeilen des Sonettes spielen nun auf das mythische Einhorn an und verweisen auf unser zweites Thema: Religiosität. Sie ist sozusagen die unterirdische Wasserader, aus der die verschiedenen Religionen in ihren verschiedenen Brunnen Wasser schöpfen. So unterschiedlich auch die Brunnen sein mögen, aus allen fließt das eine Wasser.

Diese uns Menschen angeborene Religiosität ist unsere Fähigkeit, vom Großen Geheimnis des Seins berührt zu werden. Wenn uns dies in Gipfelerlebnissen und anderen Augenblicken höchster Lebendigkeit vom Leben geschenkt wird, dann spüren wir den Drang, es anderen mitzuteilen, obwohl es jenseits von allem Begreifen liegt. Wir können es zwar verstehen, wenn es uns ergreift, können es aber nicht durch Worte und Begriffe in den Griff bekommen. In dieser Ergriffenheit setzt die mythische Aussage ein. Sie ist ein Dichten, das den tiefsten Einsichten des menschlichen Herzens erlaubt, durch Worte zu wirken, bei denen freilich immer mitschwingt, dass sie nur Bilder sind aus der Erfahrung mystischer Wirklichkeit.

Das Einhorn war im Mittelalter ein solches mythisches Bild des Christus. Jesus und sein Lebenslauf sind geschichtliche Wirklichkeit. Die Sinnfülle aber, die mit „Christus“ gemeint ist, gehört dem Bereich des Mythos an. Rilke verwehrt sich in diesem Zusammenhang allerdings ausdrücklich dagegen, den Einhorn-Mythos hier im christlichen Sinn zu verstehen.3 Er schöpft aus der allgemein menschlichen Religiosität. Aus der hat selbstverständlich auch die christliche Religion ursprünglich geschöpft, aber ihre Ausdrucksweise ist heute für viele von uns nicht mehr wirksam. Rilke leistet uns also hier einen unschätzbar wichtigen Dienst: Er verleiht der Religiosität eine für unsre Zeit gemäße Sprache. So macht er auch die tiefe Wirklichkeit, die hinter dem Einhorn-Mythos steht, auf neue Weise wirksam.

Auf der Bewusstseinsstufe mittelalterlicher Menschen war diese Bildersprache unmissverständlich: Das Einhorn – nämlich Christus – kommt vom Himmel her zur jungfräulichen Mutter Maria, wird „in ihr“ empfangen und aus ihr geboren. Nur eine „reine Jungfrau“ kann „ein reines Tier“ wie das Einhorn zähmen – ähnlich wie der kleine Prinz4 den Fuchs „zähmt“ –, indem sie ihm sein Bild „im Silberspiegel“ zeigt. Dieses Spiegeln drückt der Dichter E. E. Cummings mit den Worten aus: „Ich bin durch dich so ich.“5

Den uns heute zugänglichen Mythos, den Rilke nahelegt, könnte man sich so vorstellen: Das jungfräulich empfängliche Herz öffnet sich in Liebe und spart so den Raum aus, in dem das Geheimnis des Seins Wirklichkeit werden kann. Und dies ereignet sich Augenblick für Augenblick als immer neues unerschöpfliches Geschenk des Lebens.

Alexandra: Du schreibst von mystischen Erlebnissen und mythischen Bildern. Worin siehst du den Unterschied zwischen mystisch und mythisch?

David: Also, kurz gesagt: Das Mystische gehört zur Religiosität und drückt sich in der Religion mythisch aus. Die typischen Erlebnisse von Mystikern, also mystische Erlebnisse, sind Augenblicke tiefer Ergriffenheit, in denen wir etwas vom innersten Geheimnis des Lebens erahnen. Was uns da bewusst wird, ist unaussprechlich, weil wir es nicht „be-greifen“ können. Es macht uns sprachlos. Wir können es jedoch „einsehen“. Auf diese mystischen Einsichten des menschlichen Herzens kann nur eine Sprache hindeuten, die dichterisch ist. Wenn sie das ist, dann entsteht ein Mythos. Die Mythen der Menschheit und mythische Elemente im Werk großer Dichter haben dies gemein: Sie weisen durch Bilder auf Unsichtbares hin, durch Worte auf Unaussprechliches. Rilke verwendet in den Sonetten, die wir hier betrachten, aufs Neue den uralten Mythos von Orpheus.

Alexandra: In diesem Sonett geht es aber nicht um den Orpheus-Mythos, sondern um ein anscheinend mythisches Bild, um das Einhorn.

David: Über den Einhorn-Mythos schreibt Rilke in den „Anmerkungen des Dichters zu den Sonetten an Orpheus“6, die er ja selber dem Gedichtzyklus am Ende anfügt: „Das Einhorn hat alte, im Mittelalter immerfort gefeierte Bedeutungen der Jungfräulichkeit: daher ist behauptet, es, das Nicht-Seiende für den Profanen, sei, sobald es erschiene, in dem ‚Silber-Spiegel‘, den ihm die Jungfrau vorhält und ‚in ihr‘, als in einem zweiten ebenso reinen, ebenso heimlichen Spiegel.“ Und er fügt noch in Klammer an: „(siehe: Tapisserien des XV. Jahrhunderts)“. Rilke war tief beeindruckt von dieser Serie von sechs Wandteppichen „Die Dame mit dem Einhorn“ im Musée de Cluny in Paris. Schon fast zwei Jahrzehnte vor den „Sonetten an Orpheus“ schrieb er sein Gedicht „Das Einhorn“7. Es gibt das Gesehene wieder, etwa in diesen Versen:

Der Beine elfenbeinernes Gestell

bewegte sich in leichten Gleichgewichten,

ein weißer Glanz glitt selig durch das Fell,

und auf der Tierstirn, auf der stillen, lichten,

stand, wie ein Turm im Mond, das Horn so hell,

und jeder Schritt geschah, es aufzurichten.

Alexandra: Das ist so elegant beschrieben, und unser Sonett geht über das Gesehene noch weit...


Bruder DAVID STEINDL-RAST, geb. 1926 in Wien, studierte Psychologie und Anthropologie. Der Benediktinermönch engagiert sich seit den 1960er Jahren im interreligiösen Dialog und stand in engem Kontakt mit Thomas Merton, Thich Nhat Hanh oder dem Dalai Lama; erfolgreicher Buchautor (zuletzt im Tyrolia-Verlag "Orientierung finden" und "Der Fließweg. Gedanken zum Daodejing des Laozi") und Initiator des Netzwerks "Dankbar Leben", siehe www.dankbar-leben.org. Sein Lebenswerk dokumentiert die Online-Bibliothek www.bibliothek-david-steindl-rast.ch/

ALEXANDRA KREUZEDER, geb. 1972 in Salzburg, ist Soziologin, Logotherapeutin, Achtsamkeits- und Mitgefühlstrainerin. Sie ist Zen-Schülerin und Mitglied der benediktinischen Weggemeinschaft im Europakloster Gut Aich (Salzburg), das ihr Heimat ist und in dem auch Bruder David lebt. Im Kloster leitet sie u. a. den Dankbar-Leben-Begegnungsraum. Als langjährige Rezitatorin hat sie sich auf Rilke spezialisiert. Mitglied der internationalen Rilke-Gesellschaft.



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