E-Book, Deutsch, 206 Seiten
Steiner IMMER ZWEI UND ZWEI
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-906907-76-5
Verlag: edition bücherlese
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 206 Seiten
ISBN: 978-3-906907-76-5
Verlag: edition bücherlese
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Grunde genommen weiss Natali, dass sie nicht so weiterleben will. Nicht in der Freikirche, in die sie ihrem Mann Manuel gefolgt ist, nicht in der Kleinfamilie, die sie kaum mehr atmen lässt.
Doch Zeit, um nachzudenken, bleibt Natali wenig. Mit den beiden Kindern, der Teilzeitstelle an einer Schule und der künstlerischen Arbeit als Bildhauerin ist ihr Leben mehr als ausgefüllt. Hinzu kommen Verpflichtungen in der Kirche, ein Ort, in dem die ungeschriebenen Gesetze insbesondere die Lebensräume der Frauen bestimmen.
Als Natali an einer Weiterbildung die freischaffende Theologin Kristin kennenlernt, gerät einiges ins Wanken. Die Begegnung löst eine Verschiebung aus, und das System, das Natali bisher gestützt hat, droht in sich zusammenzustürzen.
In ihrem zweiten Roman dringt Tabea Steiner tief in die engen Strukturen einer religiösen Gemeinschaft ein und zeichnet die Zerrissenheit einer Frau nach, die in keiner der beiden Welten wirklich zu Hause sein kann.
Autorenprotrait
Tabea Steiner, Jahrgang 1981, ist auf einem Bauernhof in der Nähe des Bodensees aufgewachsen und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie hat das Thuner Literaturfestival Literaare initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und war bis 2022 Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autor:innenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen, 2019 war sie LCB-Stipendiatin. 2019 erschien ihr erster Roman Balg, der für den Schweizer Buchpreis nominiert war.
Tabea Steiner lebt und arbeitet in Zürich.
www.tabeasteiner.ch
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Das Buch Natali
Natali ging einmal durch die Wohnung, goss die Pflanzen. Dann packte sie den Rechner ein, die Hefte, den alten Teller und stieg aufs Fahrrad. Am Friedhof schob sie und hielt bei den grasenden Schafen an. Die Tiere schauten ihr lange hinterher. In der Werkstatt rauchte sie als Erstes eine Zigarette. Ihr Blick ging über die Industriegebäude, die dahinterliegenden Äcker. Das Getreide war schon abgeerntet. Helles Licht fiel in den Raum. Natali löste die luftdichte Folie von ihrer Tonfigur, ließ die Drehscheibe kreisen, trug Lehmschichten auf, zog sie wieder ab, es wurde nichts. Am Fenster rauchte sie eine zweite Zigarette. Die Asche krümmte sich wie eine Raupe, ein Pflug zog Ornamente in den Acker. Christof warf die Tür zu. Natali erschrak, Asche fiel ab. Er stellte sich zu ihr ans Fenster, holte den Tabak und die Streichhölzer hervor und nahm einen tiefen ersten Zug. Manuel holte die Lasagne aus dem Ofen, nahm die Hände seiner Kinder, sprach das Gebet und füllte die Teller. Hast du keinen Hunger? Natali zerteilte Sulis Essen, die Hälfte nehme ich dir ab. Suli nahm die Finger zu Hilfe, trocknete sie am Pullover ab und kletterte ihrer Mutter auf die Knie. Ich möchte nicht mehr in die Sonntagsschule, flüsterte sie ihr ins Ohr und stülpte sich die Kapuze über den Kopf. Katzenohren waren daran angenäht. Sie darf das Stofftier nicht mehr mitnehmen, rief Abi, Tobias hat gesagt, sie ist zu groß dafür. Manuel warf Natali einen Blick zu und zupfte an Sulis Katzenohren. Dann erst schaute er Abi streng an. Natali rannte die Treppe hoch. Die Schulzimmertür stand offen, Lärm schlug ihr entgegen. Die Kinder huschten an ihre Plätze, nur ein Stuhl blieb leer. Das Kind kauerte unter seinem Tisch, wie große Perlen standen ihm die Wirbel im Nacken ab. Er!, rief das Kind und zeigte auf ein anderes, dann sprang es auf und schlug die Tür hinter sich zu. Erst nach der Schule hatte sie das Kind dazu bewegen können, die Klokabine zu entriegeln. In den Pantoffeln war es davongerannt. Natali versuchte vergeblich, seine Eltern zu erreichen, keines der anderen Kinder wollte ihm die Schuhe oder wenigstens die Hausaufgaben bringen. Sie machte ihrer Kollegin eine Notiz. Manuel klappte den Rechner zu und Natali brachte die Gläser in die Küche. Seit Wochen schauten sie sich eine Serie an, die damit einsetzt, dass zwei Prozent der Menschheit verschwindet. Natali grauste dabei vor allem vor der ewig weiß gekleideten Gruppe, die ständig rauchte und es sich zur Aufgabe gemacht hatte, alle anderen Menschen unablässig an die Katastrophe zu erinnern. Sie stiegen in die Wohnungen der Hinterbliebenen ein, entwendeten Fotos und modellierten die Verschwundenen in Lebensgröße, um sie in ihre Betten zu legen, an die Tische zu setzen und in den Wohnzimmern auf der Couch zu platzieren. Nach dieser Staffel brauche ich eine längere Pause, sagte Natali, aber Manuel lachte, das ist bloß, weil du als Kind nicht Fernsehen schauen durftest. Er wurde ernst, als er sah, dass Natali das nicht lustig fand. Man muss sich vorstellen können, was mit den Zurückgelassenen passiert, wenn es einmal so weit ist, sagte er, dann ist man auch bereit, anderen die frohe Botschaft weiterzuerzählen. Natali hatte als Kind oft auf ihre jüngere Schwester aufgepasst. Einmal war sie plötzlich verschwunden, Natali rief nach ihr, geriet in Panik, rannte ums Haus, in den Stall, zu den Kälbern. Natali wusste, dass Tiere unruhig werden, wenn etwas geschieht, aber die Kälber schauten sie bloß an. Da wurde ihr klar, dass sie allein war, wirklich allein, wenn nicht einmal die Kälber mehr etwas merkten. Sie wusste, dass sie zurückgeblieben war auf der Welt, endgültig und nur sie. Ihre kleine Schwester lachte und freute sich wie ein Dieb, dass sie sich so gut versteckt hatte. Dabei hatte sie bloß hinter der Tür gesessen. Natali betrachtete ihre kleinen Lehmskulpturen. Sie standen in Reih und Glied im Regal, gut verpackt, damit sie nicht eintrockneten. Sie wählte eine Tonfigur, nahm die Folie ab, bearbeitete sie weiter, ließ sie auf der Drehscheibe kreisen. Irgendwann stand sie auf, kochte Kaffee und holte das Telefon aus der Tasche. Manuel hatte mehrmals angerufen, sie drückte die Rückruftaste. Hastig packte sie zusammen, warf einen Blick in den Raum, alles wirkte surreal. Vor wenigen Tagen hatten sie bei Manuels Eltern gegessen, die Kinder noch mit ihrem Opa im Garten gespielt. Nach dem Gottesdienst kam Rosalie auf Natali zu und umarmte sie, das ging ja furchtbar schnell. Natali nickte, darauf war niemand gefasst. Rosalie strich ihrer Freundin über den Arm, sagt mir, wenn ihr Unterstützung braucht. Das meiste hängt an Manuels Mutter, sagte Natali und nahm Suli auf den Arm, die sich am Stofftier festklammerte. Bleibt ihr zum Kirchenkaffee? Rosalie zupfte am Stoffschwanz, aber Suli schmiegte sich an ihre Mutter und versteckte das Tier unter dem Pullover. Heute lieber nicht, Natali schaute sich nach ihrem Mann um, wir gehen zu Manuels Mutter. Natali überblickte die Klasse, das Schaben der Stifte unterlegte die konzentrierte Stille. Sie öffnete ein Fenster. Ein Kind schrie auf, Natali fuhr herum. Das Kind wies mit beiden Händen auf den Regenwurm, der aus einer Papiertüte gekrochen kam. Sie nahm das Papier auseinander. Der Wurm sei ein Geschenk, las sie, weil dieses Kind sich doch ein Haustier gewünscht habe. Natali kannte die Handschriften. Als sie später das Licht löschen wollte, sah sie, wie sich auf dem Boden etwas bewegte. Der Wurm kringelte sich zusammen, halb eingetrocknet war er. Sie legte das Tierchen in ein Glas, trug es die Treppe hinunter und setzte es auf der Wiese aus. Das hätten die beiden Kinder tun müssen, zur Versöhnung, so hatten sie es zusammen ausgemacht. Christof kam früher als gewöhnlich, er trat neben Natali und nestelte einen Zettel aus dem Rucksack. Schau mal, ich soll hier ausstellen. Natali wischte die Hände ab, in der Stadtgalerie? Christof faltete das Papier wieder zusammen, ja, es ist jemand ausgefallen, und nun soll ich schon im November ausstellen. Er steckte den Zettel in die Hosentasche, könntest du dir vorstellen, mir zu helfen? Allein schaffe ich das niemals in dieser kurzen Zeit. Natali hatte gerade ihre Abiturprüfungen abgelegt. Sie war erschöpft, sie wusste, dass in wenigen Tagen die Resultate eintreffen würden. Sie setzte sich in die zweite Reihe, konnte der Predigt aber nicht recht folgen. Erst am Ende horchte sie auf. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt. Der Pfarrer schaute sie an und fuhr mit seiner Auslegung des Gleichnisses fort, mit den Reichen sind die Klugen gemeint, sagte er und schloss die Bibel. Am Ausgang reichte der Pfarrer allen die Hand. Er sah Natali prüfend an, ich habe gehört, du willst Theologie studieren. Er legte seine andere Hand auf Natalis Schulter, die Gefahren lauern überall. Noch bevor sie die Prüfungsresultate erhalten hatte, kam die Zusage für das Vorbereitungsjahr an der Kunstschule. Ein Jahr später zog sie aus, aber dass sie die Aufnahmeprüfung für das Kunststudium nicht bestehen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Abi und Suli hockten konzentriert am Küchentisch, hantierten mit Pinseln und Wasserfarben, überall klebte Salzteig. Manuel kam in die Küche und sah sich die Figürchen an. Meine drei Künstlerinnen, sagte er und ging zum Gefrierfach, wer will ein Eis? Die Kinder malten mit verschmierten Mäulern weiter. Natali trug das Kaffeegeschirr auf den Balkon. Manuel trat hinter sie, küsste ihren Hals, meinst du, sie sind beschäftigt? Er machte die Schlafzimmertür zu, horchte, schloss sie sicherheitshalber ab. Die Schuldirektorin schaute zu Natali, dann zu ihrer Kollegin. Ich begrüße es sehr, dass ihr diese Weiterbildung machen wollt, eure Klasse ist tatsächlich nicht einfach. Am besten informiert ihr auch gleich die Eltern, das baut Vertrauen auf. Sie unterschrieb das Anmeldeformular, schob es den beiden Lehrerinnen hin, leider könnt ihr je nur die Hälfte der Zeit kompensieren, weil ihr euch eine Stelle teilt. Sie stand auf, das ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Hier sollte es sein. Manuels Mutter zirkelte ihren kleinen Wagen in den Hinterhof. Der Bildhauer wartete an der Rampe, reichte beiden Frauen die Hand und sprach ihnen sein Beileid aus. Auf der einzigen Herdplatte stand eine Kaffeekanne. Der Bildhauer holte ein paar Tassen aus dem Schrank und stellte sie neben die Kataloge auf den Tisch. Er blätterte darin und schaute Natali an, ihr Vater verdient einen besonderen Grabstein. Mein Mann, sagte Manuels Mutter, und ihr Schwiegervater. Er legte sich die Hand vor die Brust, Entschuldigung. An der Innenseite des kleinen Fingers seiner linken Hand hatte er einen Buckel. Rosalie schob den Teller von sich, legte das Besteck weg....