Steiner | Weggehen und ankommen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 164 Seiten

Steiner Weggehen und ankommen

Eine Autobiografie
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-99146-813-4
Verlag: novum Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Autobiografie

E-Book, Deutsch, 164 Seiten

ISBN: 978-3-99146-813-4
Verlag: novum Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Bern nach dem zweiten Weltkrieg, deutsche Kriegsflüchtlinge, Bauern im Emmental, bizarre und schräge Originale. Das Mädchen wächst privilegiert auf im Villenviertel. Mutter und Vater, beide gefühlskarg, sind psychoanalytisch geschulte Ärzte und vergöttern Sigmund Freud. Das hat weitreichende Folgen. Der Leser erlebt die turbulente geistige und erotische Entwicklung der jungen Frau, Siege und Niederlagen im Beruf und ihre Liebesbeziehungen. Sie kämpft als Psychotherapeutin gegen Elend und für ein besseres Los von Flüchtlingen, etwa in Ruanda und während der Balkankriege. Die Biografie illustriert ein faszinierendes Stück Zeitgeschichte. Offen, selbstkritisch und berührend. Das Buch wurde 2023 an der Universität Zürich mit dem zweiten Preis des Schweizer Autobiografie-Award ausgezeichnet.

Steiner Weggehen und ankommen jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Agnes, meine Mutter Meine Mutter stammt von Eltern, die über Generationen Bauern im Emmental waren. Sie liebt ihren Vater, er ist für sie Leitbild. Als Jugendliche gerät sie in einen Streit mit ihm. Sie will studieren. Der Vater sagt: „Eine anständige Frau studiert nicht, sondern hat sich um Mann und Kinder zu kümmern.“ Für eine Frau sei ein Beruf überflüssig. Sie wehrt sich, sie sei keine Frau mit Suppenlogik und Knödelargumenten. Sie brauche weder Bettlaken noch Kochtöpfe. Ein Studium sei für sie die schönste Aussteuer. Mit einem Studium kann sie am schnellsten und am besten dem engen, bäurischen Kleinbürgertum entkommen. Ein Leben als Bohemienne erscheint ihr reizvoll. Um studieren zu können, ist sie jedoch auf das Geld des Vaters angewiesen. Nach langem Hin und Her willigt der Vater schließlich ein, für ihr Studium aufzukommen. Sie besucht das Gymnasium, studiert Medizin in Bern und Wien. In der Jugendzeit hat sie einen riesigen Hunger nach Literatur, nach Kunst und Schönheit. Sie verschlingt die französischen Klassiker. Das ist die Luft, die sie zum Atmen braucht. Aus den aufregenden Studienjahren erzählt sie oft und gerne. In dieser Zeit ist sie eine heitere, lustige, unterhaltsame junge Frau. Mit ihrer schönen Altstimme singt sie die frechen Songs aus der Dreigroschenoper, „Mackie Messer“, „Seeräuber-Jenny“, „Surabaya Johnny“, und unterhält damit die Studienkollegen. Wenn sie guter Laune ist, kann ich sie dazu bewegen, diese Songs uns Kindern vorzutragen. Singend mimt sie mit kecker Miene verwegen Laszivität und wiegt die Hüften. An der Uni lernt sie Friedhelm, meinen Vater, kennen. Friedhelm ist ein junger Mann mit Charme, Witz und Schalk in den Augen, immer Flausen im Kopf, er hat ein beschwingtes Wesen, das zieht sie an. „Si pecca, pecca fortiter» (wenn du sündigst, dann sündige kräftig) pflegt er zu sagen, das findet sie umwerfend und entzündet ihre Lebensfreude. 1935 in Wien wird sie Zeugin von schrecklichen Szenen an der Universität. Die jüdischen Kollegen werden aus dem Vorlesungssaal gewiesen. Ohnmächtig sieht sie zu. Nach dem Staatsexamen bildet sie sich zur Kinderärztin aus. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges heiratet sie Friedhelm. Sie will ohne kirchliche Trauung heiraten. Dem Frieden mit den Eltern zuliebe tut sie es allerdings doch. Ein befreundeter Pfarrer verspricht, das Paar ohne Jawort zu trauen. Der schlaue Pfarrer aber hält sich nicht an sein Versprechen. So kommt es, dass sie ungewollt und unbeabsichtigt die Ehe mit christlichem Segen schließt. Auf der Hochzeitsfotografie ist sie in elegantem, schwarzem Deuxpièces zu sehen, also modern und gegen die damalige Konvention. Die Feier ist schlicht und findet ohne Pomp und Brimborium im engen Freundeskreis statt. Vier Jahre wartet das Paar auf ein Kind, bis mein Bruder und ich, Zwillinge, 1943 zur Welt kommen. Wegen des Krieges fehlen Ärzte auf dem Lande und viele Praxen sind verwaist. Meine Mutter übernimmt in diesen Jahren Praxisvertretungen. Wir Zwillinge werden von einer Kinderkrankenschwester betreut. Dann kaufen Agnes und Friedhelm in Bern ein großes Haus, damit sie eine Praxis eröffnen können, Friedhelm als Internist und sie als Kinderärztin. Es folgen arbeitsame, ausgefüllte Jahre. Nach dem Tode meiner Mutter erhalten wir viele Briefe von ehemaligen Patienten. Sie lassen uns spüren, wie geschätzt und geliebt sie als Kinderärztin gewesen war: „Sie verstand es, Zuversicht zu vermitteln, die kranken Kinder und die besorgten Eltern zu trösten.“ Zu Kindern, die Angst vor der Spritze hatten, sagte sie: „Ich werde dir jetzt mit der Spritzennadel für einen Augenblick wehmachen. Danach darfst du mich in den Arm klemmen.“ Agnes ist eine glänzende Organisatorin. Sowohl in der Praxis wie in der Familie laufen bei ihr alle Fäden zusammen. Für den Haushalt ist ein Dienstmädchen angestellt. Die administrativen Arbeiten für die beiden Praxen macht sie selbst. Im medizinischen Labor arbeitet eine Praktikantin, meine Mutter bildet sie zur Laborantin aus. Mein Vater hält in verschiedenen Gremien Vorträge zu Themen der Psychosomatik. Agnes hilft ihm beim Schreiben, da sie sich sprachlich besser ausdrücken kann als er. Sie lektoriert seine Vorträge und schreibt ganze Abschnitte um. Abends bringt sie uns Kindern die Regeln der deutschen und französischen Grammatik bei, sie hilft bei den Schulaufgaben und bereitet uns auf die Prüfung zum Eintritt ins Progymnasium vor. Sie kennt und erfindet einprägsame, lustige Eselsbrücken in Form von Reimen: Venez mes choux, mes bijoux, mes joujoux sur mes genoux et jetez des cailloux à ces hiboux plein de poux! Das sind die sieben Ausnahmen bei der Pluralbildung von Nomen mit der Endung –ou, die am Schluss des Wortes nicht ein s sondern ein x haben. Oder im Latein: nach si, nisi, ne, num, quo, quanto, ubi, cum fällt unser ali um. Nach den aufgezählten Konjunktionen verliert das unbestimmte Fürwort „aliquis/aliquid“ die Vorsilbe „ali“. Die Eselsbrücken bleiben bis heute im Gedächtnis. An einer Schule für Krankenschwestern und Kindererzieherinnen unterrichtet sie Entwicklungspsychologie. Dies alles bringt sie im Alltag unter einen Hut. Wie sie das schafft, ist mir ein Rätsel. Ihre Schaffenskraft ist enorm. Alle Aufgaben macht sie gern und mit Hingabe, manchmal aber wirkt sie erschöpft. Überdies macht sie während vieler Jahre eine Psychoanalyse bei einem Analytiker, den sie verehrt. Zu ihrem Unglück war er befreundet mit meinem Vater. Ich schreibe mit Absicht zu ihrem Unglück. Wie kann ein Analytiker seine Arbeit gut machen, wenn er den Ehemann der Analysandin persönlich kennt und noch dazu mit ihm befreundet ist? Heutzutage wäre das ein schwerwiegender Kunstfehler. Damals waren die Auswirkungen solcher Befangenheit noch zu wenig bekannt. Eines Tages, ich bin neun, komme ich von der Schule nach Hause, ich gehe gerade die Treppe hinauf. Die Mutter hat mein Kommen nicht bemerkt. Sie steht vor der Küche, ist aufgebracht. Zornig sagt sie zum Vater: „… sonst nehme ich die Kinder mit!“ Was bedeuten diese Worte? Hatte sie meinem Vater gesagt, sie wolle ihn verlassen? Sicher war da ein Streit vorausgegangen. Diese Worte, die ich da aufschnappe, sind verwirrend, ich will sie gar nicht wissen und zur Kenntnis nehmen. Fortan wirkt die Mutter leidend, während vieler Jahre ist sie geplagt von Magenschmerzen, welche sie mit Schmerzmitteln bekämpft. Von der lustigen, frechen Agnes, welche revolutionäre Lieder sang und in Szene setzte, ist nun nicht mehr viel übrig geblieben. Mir fällt auf, dass der Vater immer häufiger allein in die Ferien fährt, ohne Mutter, ohne Bruder und mir. Sie sagt dazu, Ehepartner müssten nicht immer aneinanderkleben, Unabhängigkeit sei auch wichtig und gut. Ich bin in der Folge stolz, so moderne Eltern zu haben, die unabhängig voneinander Ferien verbringen. Heute staune ich, wie gutgläubig und naiv ich damals als Kind war. Die Mutter hat außer einem klugen Kopf vielfältige handwerkliche Begabungen. Sie näht Kleider, am Sonntag, wenn das Dienstmädchen freihat, kocht sie, arbeitet im Garten, pflanzt Blumen. Defekte elektrische Leitungen und Geräte kann sie selbst instand setzen, ohne einen Fachmann beizuziehen. Sie liebt es, selbst herumzuwerken und herumzubasteln. Ab und zu sind die Reparaturen aus ihrer Hand gewagt und gefährlich, sodass es Kurzschlüsse gibt und knallt. Halb ernst, halb selbstironisch lacht sie und sagt: „Ihr könnt die vertrockneten, verschrumpelten Orangen mir geben, ich esse sie gerne.“ Wie meint sie das? Macht sie sich lustig über ihre Neigung, sich aufzuopfern, oder meint sie es ernst? Was erwartet sie von uns Kindern? Mein Bruder und ich nehmen sie beim Wort und freuen uns über die saftigen Orangen. Sich aufopfern für andere und eigene Bedürfnisse hintanstellen ist die eine Seite von Agnes. Aber wenn es um ihr Haus im Emmental, das Stöckli geht, setzt sie ihre Wünsche durch und bestimmt allein. Ihre eigene Schwester, als zweite Eigentümerin des Hauses, bezieht sie in Entscheidungen nicht ein, sie tut dies meist so, dass die Schwester dies nicht durchschaut. Nachdem ich wegen des Studiums nach Zürich gezogen war – mein Bruder wohnt bis zum medizinischen Staatsexamen zu Hause in Bern –, widmet sie sich ihrem Interesse für Kunstgeschichte, insbesondere für moderne Kunst und Literatur. Einmal bemerkt sie traurig: „Ich bin mir bewusst, dass die Kontakte, die ich jetzt habe, mit zunehmendem Alter weniger werden. Das ist zwangsläufig so.“ Das sagt sie traurig, als ob man nichts gegen Vereinsamung tun könnte und dieser ausgeliefert wäre. 1964 erkrankt mein Vater an einem Hirntumor, er ist gezwungen, seine Praxis aufzugeben. Die ersten Symptome sind Sprachstörungen, er leidet an einer Aphasie. Sie geht mit ihm zur Logopädin, macht mit ihm Sprachübungen, die aber wegen des wachsenden Tumors wenig bewirken. Jetzt ist der Vater oft wütend, weil er sich mit Worten nicht mehr ausdrücken kann. Mutter und Bruder erleben hautnah seine zunehmende Ohnmacht und Verzweiflung. Wir sehen hilflos zu, wie sein Gehirn sukzessive vom Tumor zerstört wird. Nach einiger Zeit kann er nur mehr lallen. Ich bin etwas weiter weg, ich sehe den kranken Vater nur gelegentlich am Wochenende bei Besuchen zu Hause. Neben der Arbeit für die Praxis pflegt sie meinen schwer kranken Vater während zweier Jahre zu Hause bis zu seinem Tod. Sie ist jetzt fünfundfünfzig. Nach seinem Tod lernt sie Neugriechisch, unternimmt Wanderreisen nach Griechenland und vertieft sich in eine alte Leidenschaft, die griechische Mythologie. Sie hatte schon immer Bescheid gewusst, welche Götter in welcher Weise miteinander verwandt...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.