Steinfeld | Die Zukunft des Reisens | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Steinfeld Die Zukunft des Reisens


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-10-402060-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-10-402060-0
Verlag: S.Fischer
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»Beim Reisen geht es nicht um Entfernungen, es geht um die Begegnung mit etwas anderem.« Orhan Pamuk Es gibt heute vielfältige Möglichkeiten des Reisens, die den geographischen Ausblick auf unsere Welt verändern und unmittelbare Auswirkungen auf die Zukunft unserer verschiedenen Lebenswelten haben. Wohin führt uns diese Reise?, fragten sich bedeutende Autoren und Intellektuelle unserer Zeit. Ihre Antworten über die Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten zukünftigen Reisens sind genauso faszinierend und intelligent wie erhellend und provokativ. Seite für Seite erhalten wir ein umfassendes Gesamtbild eines noch fernen und doch so nahen Horizonts des Reisens. Mit Original-Beiträgen u.a. von Hans-Magnus Enzensberger, Peter Handke, Orhan Pamuk, Joseph Vogl und Roger Willemsen.

Thomas Steinfeld leitet das Feuilleton einer großen überregionalen Zeitung und ist Titularprofessor für Kulturwissenschaften an der Universität Luzern. Von ihm erschien zuletzt die Monographie »Der Arzt von San Michele. Axel Munthe und die Kunst, dem Leben einen Sinn zu geben« (2007).
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Wolfgang Scheppe

Reisen als Lebensentwurf


Vom Reisenden der Zukunft und der Kunst, Notwendigkeit in Freiheit zu verwandeln

I.


Früher war der Urlaub der Tod.

Alle Erholung, alles Ausruhen, alle Heilserwartungen waren verschoben auf ein Nachleben im Jenseits des irdischen Daseins. Der christlichen Arbeitsethik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit verhieß erst die Ewigkeit eine Form der Kompensation. Urlaub gab es nur als himmlischen Lohn. Die lebenslange, spirituell durchglühte Knechtsexistenz voller emsigen Verschleißes im Dienste der Ehrfurcht, des Gehorsams und der Pflicht richtete ihre Bedürfnisse nach Erfüllung auf ein Paradies außerhalb dieser Welt und dieser Zeit. Die Perspektive war transzendental: Das Selbstsein war in der Zuversicht auf Ein-Andermal aufgehoben. Transzendenz erwies sich als Bedürfnisaufschub.

Erst sehr spät in der Moderne, um die Mitte des 20. Jahrhunderts, wurde diese Erlösungsphantasie säkularisiert. Sie wurde weltlich eingelöst als kulturelle Errungenschaft eines Rechts auf Ferien. Der bezahlte Erholungsurlaub fiel zwar kürzer aus als die einst versprochene Ewigkeit. Er blieb aber im Kern profanierte Transzendenz, eine idealistische Praxis also, die sich mehr in einem Hoffen und Harren im Feld der Imagination und Vorstellung als in physischer Bedürfnisbefriedigung betätigt.

Die Beschränkung der »kostbarsten Wochen des Jahres« liegt wie ehedem darin, ein durch hohe Erwartungen gerechtfertigter Bedürfnisaufschub zu sein. Sein Ort ist ein idealer Gegenentwurf und nicht von dieser Welt.

Ihre Natur als Unendlichkeitsversprechen verrät die riesige Wunschmaschine des gesellschaftlichen Guts Urlaub immer noch. Es ist sowohl seinen prägnantesten Metaphern anzumerken – etwa der Rede vom Urlaubsparadies oder dem Titel des amerikanischen Surf-Films , der 1966 die Blaupause für die Typologie der Sun- & Fun-Ferien formulierte – als auch der Morphologie seiner genuinen Sphären: Gebirge und Meer. Das klassisch bürgerliche Ferienregime der Gebirgslandschaft evoziert den Ethos des Aufstiegs, das Purgatorium der reinen Luft und die moralische Läuterung, die in der Erhabenheit der Gipfel liegt. Der Philosoph Roland Barthes erklärte die »Rangerhöhung des Gebirges« durch die reisende Bourgeoisie als Verquickung von Naturismus und Puritanismus. Und das proletarische Pendant der Bergferien, der Strandurlaub, besteht aus dem deiktischen Ausrichten lichtexponierter Körper auf eine leere Horizontlinie, die dort im Anblick eines ewigen Aufschäumens und Abfließens verharren. Es verdankt seine Validität offenbar dem tief läuternden und unausschöpflichen Anblick schlechter Unendlichkeit. Georg Simmel sah deshalb in diesen beiden verschiedenen Weltanschauungen angehörenden Zonen ein Versöhnung und Erlösung verheißendes »peinlich getreues Bild des eigenen Innern«. Die eine Zone entspricht einer Leistungsethik, die andere einem erschöpften Regenerationsbedürfnis.

II.


Urlaub ist der Ausläufer einer idealistischen Praxis, eines Anspruchs auf Entschädigung für die im Alltag erlittenen Zumutungen, der in seiner Absolutheit jeder Erfüllung zunächst entgegenzustehen scheint.

Dass Herkunft und Fluchtpunkt der Ferienphantasien im Reich der Einbildung und nicht dem der Geographie liegen, ist all ihren Variablen anzusehen. Schon die Namen der Orte sind, wie Proust sagte, »mit innerer Anschauung getränkt«, ihr bloßes Aussprechen evoziert einen Katalog von Gefühlsregungen.

Venedig ist ein Paradigma ohnegleichen und doch sehr normal für die bilderreiche Literarizität solcher Stätten der Andacht, die mit ihrer Empirie nicht unbedingt etwas zu tun haben. Das Morbide an Venedig ist ein Missverständnis Byrons, das ein Missverständnis Thomas Manns befruchtete, und beide wussten nichts von der Herkunft des Verdikts aus Napoleons ideologischer Siegerjustiz, die dem unterworfenen Staat seine Dekadenz als Grund der Unterwerfung andichtete. Der Besucher, habe er Mann gelesen oder nicht, erwartet, von Melancholie erfasst zu sein und ist es also. Er verwechselt die Stadt mit einer Atmosphäre, die er als Vorurteil mit sich brachte.

Nicht nach physischen Orten sehnt man sich, sondern nach den Stimmungen, die sie auszulösen versprechen. Der Sehnsuchtsort teilt diese Eigenschaft, Atmosphäre zu sein, mit der Landschaft und ihrem Begriff: Auch die Landschaft gibt es nicht, ohne dass man sie sich vorstellt. Denn die Natur erzeugt aus sich keine Grenzen, Ausschnitte und harmonischen Zusammengehörigkeiten. Erst das, was als Stimmung einer Landschaft erlebt wird, macht ihre Einheit aus. Deshalb besteht die Provence aus einer dumpfen Erinnerung zweiter Ordnung an Pagnols Kindheitserinnerungen und die Toskana aus einem geistigen Bild: der Klitterung von Hügellinien, Pinien und Dachkulisse.

Landschaft ist also kein Stück Objektivität, sondern ein ästhetisches Verhältnis, das die Subjektivität zur Objektivität einnimmt. Ein Erzeugnis des theoretischen Geistes also, der eine Korrespondenz von Welt und Seele in die Natur hineinkonstruiert. Die Phantasmagorie der Landschaft hob in jenem historischen Moment an, da die industrielle Besitznahme der Welt über die Mittel zu verfügen begann, die es ihr gestatteten, die Natur als Rohstoff zu verschlingen und sich anzuverwandeln, sie produktiv zu konsumieren und als kontaminierten Abfall wieder auszuscheiden. Naturaneignung und Naturideal gehören zusammen wie Verlust und Trost. Versöhnen-Wollen kann man nur, was bereits auseinandergebrochen ist. Ohne diesen geschichtlichen Grund für eine Versöhnung im Feld der Wertschätzung des Naturschönen hätte auch die profane Naturreligion, die den Hauptteil des Großbetriebs der Ferienreisen ausmacht, nicht ins Leben gefunden. Sie ist die Triebfeder für die ebenso vergebliche wie nicht zu enttäuschende Suche nach den Kulissen der Unberührtheit.

Das Pendant zur Chimäre des unberührten Raums als Motivation der Bewegung des Reisens ist die Suche nach der unberührten Zeit: Sie entspricht der anderen Entzweiung, die in der Entstehung der industriellen Gesellschaft gründet, jene von Arbeitsalltag und Selbstbestimmung. Dass der Verlust an individueller Freiheit vage in ökonomischen Verhältnissen als Ursache aufzufinden sei, lässt die Richtung der Suche nach dem Sehnsuchtsort vermuten. Der Urlauber aus dem Reich der entwickelten Industrienationen trachtete ihn vor allem im Süden aufzufinden. Der vergleichsweise primitive Süden eines Italien, Griechenland oder Spanien war für die Europäer das, was den nordamerikanischen Touristen Mexiko und Südamerika bedeutete. Innerhalb dieser nationalen Grenzen unterlegener und nicht wettbewerbsfähiger Ökonomien, die freilich zur ahistorischen Sphäre verklärt wurden, ließ sich wahres Menschsein vermuten. Man vermeinte es in der Ursprünglichkeit des Fischers, des Weinbauern und Landmannes auffinden zu können. Dass im Früher auch das verlorene Eigentliche liege, ist der Schluss, den jede solche Robinsonade zieht, die unter dem Fehler leidet, ein vergangenes goldenes Zeitalter am Ort dessen, was die Gegenwart »unterentwickelt« nennt, lokalisieren zu wollen.

Auf diese doppelte Unberührtheit von Landschaft und Geschichte als Konstituenten des touristischen Trachtens hat Hans Magnus Enzensberger in seiner »Theorie des Tourismus« schon 1958 hingewiesen, ohne dass dieser Begriff je ins Bewusstsein der Veranstalter und Konsumenten des Gewerbes gedrungen wäre. Die Recherche des Urlaubers gilt in beiden Aspekten der Zivilisationsferne, und der romantische Topos der Ferne kommt dabei einem Eingeständnis gleich: dass die gewünschte Abwesenheit der Erscheinungen eines weltumspannenden Wirtschaftens sich doch nur über deren Errungenschaften, über eine gleichermaßen weltumspannende Infrastruktur erreichen lässt und mithin die Verklärung einer deterritorialisierten, rein defensiv gedachten Freiheit diese in den Horizont eines prinzipiell Unerreichbaren verschiebt. Ferne ist etwas, dem zu nähern man sich bemüht, an dem man aber niemals ankommen kann. Ihrer Ungewissheit halber kommt sie als Projektionsfläche für Hoffnungen zustatten. »Das Ideal setzt das Gesicht der Reise auf.« So beschrieb George Sand diese leere Erwartung. Unbestimmtheit als Eigenschaft erweist sich als Bestimmung von beidem: von Transzendenz wie von Ferne.

Im Angesicht dieser Manier der Einbildungskraft mag es wenig überraschen, dass ganze Geschäftsfelder der Tourismusindustrie aus Fiktionalisierungen entstanden sind: Es gab keine Kreuzfahrflotten, bevor die amerikanische Fernseh-Soap-Opera  – die Vorlage zum europäischen  – ein Begehren nach ihrer Existenz in die Welt setzte. Deren Klientel waren amerikanische Rentner, bis der Welterfolg der Romanze im Film auch Teenager mit der Illusion versorgte, sie könnten in den Schauplatz und damit in das Hochgefühl von dessen Epos aufgenommen werden. Ein älteres Beispiel der Nachrangigkeit der touristischen Destination gegenüber ihrer mediatisierten Chiffre ist der plötzliche Ansturm auf alpine Regionen in Reaktion auf Arnold Fancks ersten Skifilm aus dem Jahr 1931. Kein Sehnsuchtsort ohne ein ihm vorausgesetztes Wunschbild, ohne den Glauben an seine Atmosphäre, und beide sind nur als Resultat kultureller Fiktionalisierung zu haben. Man begehrt, in sie einzutreten, von ihnen umfangen und verändert zu werden, und sie sind doch selbstgemacht. Das Moment, das Urlauber wie Reisende an den Sehnsuchtsort zieht, ist die Erwartung eines Effekts, den eine Umgebung auf die Innerlichkeit haben soll. Das Ziel ist keine örtliche Gegebenheit....


Steinfeld, Thomas
Thomas Steinfeld leitet das Feuilleton einer großen überregionalen Zeitung und ist Titularprofessor für Kulturwissenschaften an der Universität Luzern. Von ihm erschien zuletzt die Monographie 'Der Arzt von San Michele. Axel Munthe und die Kunst, dem Leben einen Sinn zu geben' (2007).

Thomas SteinfeldThomas Steinfeld leitet das Feuilleton einer großen überregionalen Zeitung und ist Titularprofessor für Kulturwissenschaften an der Universität Luzern. Von ihm erschien zuletzt die Monographie 'Der Arzt von San Michele. Axel Munthe und die Kunst, dem Leben einen Sinn zu geben' (2007).



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