E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Steinmeier Flugschreiber
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8437-1427-3
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Notizen aus der Außenpolitik in Krisenzeiten
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1427-3
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Frank-Walter Steinmeier, geboren 1956, war Bundesaußenminister von 2005 bis 2009 und von 2013 bis 2017. Während der Kanzlerschaft Gerhard Schröders war er von 1999 bis 2005 Chef des Bundeskanzleramts. 2009 wurde er Kanzlerkandidat der SPD, nach der verlorenen Wahl SPD-Fraktionsvorsitzender. Seit März 2017 ist er der zwölfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.
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Es ist früh am Morgen, als wir am zweiten Tag unserer Reise nach Südkorea in die demilitarisierte Zone fahren. Die Fahrt von Seoul dauert keine Stunde, die Grenze zwischen Nord- und Südkorea liegt im Dunstkreis der Hauptstadt mit ihren zehn Millionen Einwohnern.
Das Sperrgebiet ist vier Kilometer breit. Wir passieren verschiedene Wachposten und mehrere Abfolgen von Stacheldrähten, folgen dann einer schnurgeraden Straße an einem Fluss entlang, links und rechts dichter Wald, ab und an eine Wiese in einem fast moorartigen Gebiet. Die Natur ist traumhaft schön und nahezu unberührt. Jahrzehntelang konnte sie vor sich hin wuchern und sich zum Reservat für seltene Vögel entwickeln.
Es ist eine Natur, die darüber hinwegtäuscht, dass jenseits dieser schmalen Straße eine Million Landminen vergraben liegen. 300 000 Soldaten sind in unmittelbarer Nähe dieser Zone stationiert, die nordkoreanischen in Gefechtsbereitschaft, und natürlich die vielen Raketen auf beiden Seiten der Grenze. Formal ist der Koreakrieg bis heute nicht beendet, beide Länder befinden sich im Status eines Waffenstillstands. Nach dem Krieg wurde eine demilitarisierte Zone rund um die Grenzlinie vereinbart, die bis heute von schwedischen und schweizerischen Soldaten als Teil der sogenannten Überwachungskommission neutraler Nationen überwacht wird.
Anfang November 2014, für mich ist es der zweite Besuch in der demilitarisierten Zone. Und es ist, ich kann es nicht anders sagen, gespenstisch. An der Kontaktlinie stehen seit dem Krieg die berühmten blauen Baracken, es sind die einzigen Orte der Begegnung zwischen Nord- und Südkoreanern. Wenn es etwas zu verhandeln gibt, dann trifft man sich hier. Die Bezeichnung Baracke trifft auf diesen Raum ganz gut zu, er hat die Größe eines Zimmers, kahl, die Decke ist niedrig, in der Mitte steht ein Tisch, und mitten durch diesen Tisch verläuft die Grenzlinie. Die Hoheit über diesen Raum wechselt stündlich. In der einen Stunde wird der Raum von südkoreanischen Soldaten bewacht, und die nordkoreanischen stehen vor der Baracke, in der nächsten Stunde ist es umgekehrt. Die Atmosphäre ist angespannt. Man spürt es schon an der Körperhaltung der Soldaten: Stramm und mit geballten Fäusten stehen sich nord- und südkoreanische Soldaten seit fünfzig Jahren gegenüber. Sie starren sich an, großgewachsene junge Männer, in ihren Gesichtern ist keinerlei Regung zu sehen. Da reift die Vorstellung, was Kalter Krieg ist, auch bei denjenigen, die den Kalten Krieg nicht mehr miterlebt haben.
Jetzt ist die Stunde der Südkoreaner. Also dürfen wir als westliche Delegation ins Innere der blauen Baracke. Von draußen schauen nordkoreanische Soldaten hinein, und man weiß nicht genau, wer eigentlich das beobachtete Objekt ist, wir hier drinnen oder die da draußen. Als ich ans Fenster trete, zückt auf einmal einer dieser jungen Soldaten, ein Zwei-Meter-Kerl, einen Fotoapparat und macht Fotos von uns – aus allernächster Nähe starrt mich sein Objektiv an. Ein skurriler Moment.
Es gibt immer wieder Zwischenfälle an diesem spannungsgeladenen Grenzort, von nordkoreanischer Seite wird herübergeschossen, was gar nicht so selten passiert. Einer meiner Mitarbeiter lässt seine Aktentasche in der blauen Baracke liegen, er merkt es erst beim Aufbruch, als die Delegation schon wieder in ihre Fahrzeuge steigt, und sprintet zurück, zum Glück gerade noch rechtzeitig, bevor wieder die nordkoreanische Stunde anbricht. Wenigstens unser Besuch geht also ohne Zwischenfall vonstatten.
Zäune, Stacheldraht, Sperrgebiet, Selbstschussanlagen – das alles ist auch Teil der deutschen Vergangenheit. Es ist diese Erfahrung, die wir mit den Koreanern teilen, die uns verbindet und deswegen auch Erwartungen an uns Deutsche weckt. Korea ist das einzig verbliebene Land auf dieser Erde, das nach wie vor geteilt ist. Und wie wir Deutschen jahrzehntelang über die Wiedervereinigung nachgedacht haben, ist die Wiedervereinigung natürlich auch in Südkorea ein Thema. Am Tag bevor wir in die demilitarisierte Zone fuhren, gleich nach unserer Ankunft in Seoul, habe ich mich mit der südkoreanischen Präsidentin Park Geun-hye zu einem Gespräch getroffen. Sie befragte mich intensiv nach unseren Erfahrungen mit dem Wiedervereinigungsprozess. »Wie habt ihr das gemacht?«, will sie wissen, und: »Wie könnt ihr uns unterstützen?« Schon seit einiger Zeit begleitet nun eine Expertengruppe aus Ost- und Westdeutschen, die den deutschen Vereinigungsprozess mitgestaltet haben, die Sehnsucht nach der Wiedervereinigung im fernen Korea.
Park Geun-hye ist nicht die Einzige, die in Gesprächen mit mir konkrete Erwartungen an Deutschland formuliert hat. Ganz im Gegenteil. Diesen Erwartungen begegne ich auf meinen Reisen seit den vergangenen Jahren immer häufiger. Die steigende Verantwortung unseres Landes suchen wir Deutsche uns nicht aus, sondern die Welt richtet ihre Erwartungen an uns.
Selbst in weit von uns entfernten Weltgegenden, in Ländern, die nicht zu Deutschlands nächsten und eingespielten Partnern in der Außenpolitik gehören, begegne ich diesen Erwartungen. Ich denke zum Beispiel an Kolumbien. Bogotá ist eine spannende, lebenslustige Stadt. Viele Diplomaten in meiner Delegation wären gern noch ein bisschen länger geblieben, als ich dort im Februar 2015 zu Besuch war. Aber Bogotá ist auch Hauptstadt eines Landes, das unter enormen inneren Konflikten leidet. Jahrzehntelang fochten FARC-Rebellen, Paramilitärs, Drogenkartelle und Regierung einen blutigen Bürgerkrieg. Hunderttausende Menschen starben, Millionen wurden Vertriebene im eigenen Land. Noch vor zwanzig Jahren war die Hauptstadt Bogotá auf dem Weg in die Unbewohnbarkeit, Morde und Geiselnahmen waren an der Tagesordnung. Heute pulsiert hier das Leben.
Wir besuchten ein unauffälliges Gebäude, das mitten in Bogotá ein Reintegrationszentrum beherbergt. Vor der Tür verkaufen Straßenhändler frische Mangos, drinnen sitzen 18- und 19-Jährige an Werkbänken in einer Ausbildungsstunde. Für uns wirkt das auf den ersten Blick wie eine ganz normale Fachoberschule. Doch vor wenigen Jahren noch haben diese Jugendlichen auf gegnerischen Seiten des Bürgerkriegs gekämpft, als Paramilitares oder bei den FARC-Rebellen. Einige von ihnen waren Kindersoldaten. Ihren Eltern entrissen und von den FARC an die Waffen gezwungen, mussten sie andere Menschen töten, Menschen aus ihren eigenen Heimatdörfern.
Im Haus sitzt mir eine junge Frau gegenüber. Sie stammt aus der Region Meta, nicht weit von Bogotá. Als 13-Jährige war sie in die Hände der FARC geraten, jahrelang musste sie mit den Rebellen leben, ständig in Angst, ständig in Bewegung, von Camp zu Camp. Viele Nächte, erzählt sie mir, musste sie auf dem Waldboden schlafen, nur mit Plastikfetzen und ein paar Blättern der Bäume bedeckt. Nach sechs Jahren konnte sie fliehen, kam in die Hauptstadt. Das Reintegrationsprogramm der Regierung stand ihr offen, wie Zehntausenden anderen ehemaligen Kämpfern im ganzen Land. Mittlerweile ist die junge Frau Mutter geworden. Sie trägt ihr Baby auf dem Arm und sagt zu mir: »Ich habe Angst vor meiner Heimat, Angst vor der Rache der FARC, aber auch Angst vor meiner Familie. Am liebsten will ich einfach untergehen in der Anonymität der Großstadt.«
So tief sind die Wunden in der kolumbianischen Gesellschaft. Kaum eine Familie ist verschont geblieben von den Auswirkungen dieses Konflikts. Der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos will die Wunden in einem Prozess der Versöhnung schließen. Und seine Hoffnung richtet sich auch an Deutschland. Zunächst sprach ich in Bogotá ausführlich mit dem Beauftragten des Präsidenten für den Friedensprozess, Sergio Jaramillo, einem erfahrenen Diplomaten, der – wie wir erstaunt feststellten – perfekt deutsch sprach, in Heidelberg promoviert hatte und bereits vieles über die deutsche Vergangenheitsbewältigung wusste. Später dann, im offiziellen Amtszimmer, befragte mich der Präsident selbst über die Erfahrungen aus unseren Versöhnungsprozessen, nicht nur dem deutsch-deutschen, sondern auch dem, der notwendig war, um die Folgen unserer nationalsozialistischen Vergangenheit zu bewältigen. Eine ganze Reihe von konkreten deutsch-kolumbianischen Projekten ist aus diesem Gespräch entstanden – von Reintegration bis zur Übergangsjustiz. Ich habe den renommierten Menschenrechtspolitiker der Grünen, Tom Koenigs, zu meinem Persönlichen Beauftragten für den Friedensprozess ernannt, und er ist in Kolumbien ein gefragter Ansprechpartner geworden. Denn es geht auch dort um die schwierige Balance aus Bestrafung und Wiedergutmachung und gleichzeitig der Möglichkeit von Neuanfang und Zusammenleben – eine Balance, nach der wir Deutschen nach dem Krieg und nach der Einheit in ähnlicher Weise suchen mussten. Im Juni 2016 endlich einigten sich Regierung und FARC auf einen Waffenstillstand und die Entwaffnung der Rebellen, im August unterzeichneten sie in Havanna das Friedensabkommen. Der letzte bewaffnete Konflikt der westlichen Hemisphäre ist heute beendet.
Ein dritter Schauplatz der Außenpolitik, von dem ich erzählen will, ist New York City. New York ist Hauptsitz der Vereinten Nationen, und einmal im Jahr herrscht der Ausnahmezustand – sogar für die Verhältnisse einer Stadt, in der ja eigentlich immer alles außergewöhnlich ist. Zur einwöchigen Generalversammlung rücken die Staats- und Regierungschefs aus aller Welt an. Die Hotels sind nicht nur ausgebucht, sondern ziehen noch mal kräftig ihre Zimmerpreise an. Wann kann man schon mal seine Präsidentensuiten an so viele...