30 mutige Frauen und Männer 1789-1918
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-406-77741-7
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Das "Nie wieder" ist nach Vernichtungskrieg und Schoah zu Recht der Kern der deutschen Erinnerungskultur. Aber die Bundesrepublik erklärt sich nicht allein ex negativo. Wer verstehen will, wie Deutschland nach dem Zivilisationsbruch von 1933 bis 1945 zur Demokratie zurückgefunden hat, muss auch seine Demokratiegeschichte kennen. Ihr fehlt bis heute der Platz, der ihr im kollektiven Gedächtnis der Deutschen und im Traditionsverständnis der Republik gebührt. Dieses Buch macht auf spannende Weise deutlich, wie reich und vielfältig, auch widersprüchlich unsere eigene demokratische Vergangenheit ist.
Mit Beiträgen von: Sabine Appel, Hans-Peter Becht, Wilhelm Bleek, Christopher Clark, Michael Dreyer, Sabine Freitag, Ute Gerhard, Jürgen Goldstein, Ewald Grothe, Rüdiger Hachtmann, Kirsten Heinsohn, Irina Hundt, Christian Jansen, Alexander Košenina, Norbert Lammert, Dieter Langewiesche, Herfried Münkler, Paul Nolte, Heribert Prantl, Hedwig Richter, Julius H. Schoeps, Susanne Schötz, Werner Schulz, Jörg Schweigard, Barbara Sichtermann, Frank-Walter Steinmeier, Barbara Stollberg-Rilinger, Dietmar Süß, Uwe Timm, Volker Ullrich und Kerstin Wolff.
Autoren/Hrsg.
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Weitere Infos & Material
Frank-Walter Steinmeier Geschichte für die Republik
Was wir den Wegbereitern der deutschen Demokratie verdanken und warum sie für unser Land so wichtig bleiben
Ich sterbe für die Freiheit, möge das Vaterland meiner eingedenk sein» – das, so will es die Überlieferung, waren die letzten Worte von Robert Blum.[1] Am 9. November 1848 trafen ihn die Kugeln eines Hinrichtungskommandos des kaiserlichen Militärs. Der deutsche Demokrat und Freiheitskämpfer, einer der bekanntesten Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, starb auf einem Sandhaufen im Wiener Vorort Brigittenau. Robert Blum starb für die Freiheit – aber «seiner eingedenk» ist heute fast niemand mehr. Der Schriftsteller Ludwig Pfau, auch er ein kaum noch genannter deutscher Revolutionär, schrieb über Blum: «Sein Volk wird ihm ein Denkmal setzen, größer als die Denkmale aller seiner Gefeierten; denn dieses Denkmal wird die deutsche Republik sein.»[2] Heute müssen wir feststellen, dass diese Prophezeiung sich nur zur Hälfte bewahrheitet hat. Die deutsche Republik, in Recht und Freiheit geeint, ist 1990 Wirklichkeit geworden, zum zweiten Mal nach 1918. Aber wer Robert Blum war und was er mit dieser Republik zu tun hat, das ist heute kaum noch jemandem bewusst. Menschenrechte und Demokratie, Rechtsstaat und Pluralismus, Gleichberechtigung und sozialer Ausgleich – alle diese Werte, die heute im Grundgesetz verankert sind und die wir leben, verdanken wir auch dem Engagement von Menschen, die früher als andere und oft mit viel Mut und unter großen persönlichen Opfern für sie eingetreten sind. Doch viel zu lange ist unsere Erinnerungskultur mit den Köpfen, Ereignissen und Orten der deutschen Demokratiegeschichte sehr stiefmütterlich umgegangen. Bedeutende Akteure wie Robert Blum sind oft nur noch dem Namen nach oder gar als bloßes Zerrbild bekannt, wie etwa der republikanische Aufklärer Adolph Knigge, der im kollektiven Gedächtnis zu einem Benimm-Lehrer degradiert worden ist. Der 18. März ist mit Fixpunkten deutscher Demokratiegeschichte in drei Jahrhunderten verbunden: der Ausrufung der Mainzer Republik 1793, der Revolution 1848 in Berlin und der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR 1990. Trotzdem ist der 18. März nie ein nationaler Gedenktag geworden. Das Hambacher Schloss war lange vor allem Event-Location und Kulisse für Hochzeiten. Und die Frankfurter Paulskirche, eine der bedeutendsten Stätten der deutschen Demokratiegeschichte, wird den Ansprüchen, die wir heute an einen ebenso würdigen wie lebendigen Erinnerungs- und Lernort der Demokratie stellen, nicht gerecht. Die geringe Wertschätzung für unsere Demokratiegeschichte liegt freilich nicht etwa daran, dass die deutsche Erinnerungskultur heute stark von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geprägt ist. Im Gegenteil. Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen bleibt ein unverzichtbarer Teil demokratischer Selbstbesinnung. Die Gründe liegen vielmehr weiter zurück und sind gerade in jenen historischen Entwicklungssträngen zu finden, die maßgeblich zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt haben. Nach der Reichsgründung 1871 dominierte eine national-borussische Geschichtsschreibung, welche die deutsche Geschichte auf das Streben nach staatlicher Einheit reduzierte, das Preußentum heroisierte und Otto von Bismarck zum genialen Erfüller nationaler Sehnsüchte verklärte. Statt an Freiheitsbewegungen erinnerte man an die Befreiungskriege gegen Napoleon. Damit wurde nicht nur der Grundstein zur nationalistischen Ideologie einer Erbfeindschaft mit dem französischen Nachbarn gelegt, sondern auch die positive Seite des Freiheitsbegriffs, die Freiheit zu bürgerlicher Selbstbestimmung, ausgeblendet. Die Ideen der Französischen Revolution von 1789 wurden schon im Ursprung des deutschen Nationalismus als westlich und undeutsch abgelehnt. «Die deutsche Antwort auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Quintessenz der westlichen Demokratie, lautete, verkürzt gesagt, Ordnung, Zucht und Innerlichkeit», so hat Heinrich August Winkler es treffend auf den Punkt gebracht.[3] Der Reichsgründer Bismarck hatte mit seiner Verachtung für die deliberative Demokratie, also für Meinungskampf, Parlamente und Mehrheitsentscheide, nie hinter dem Berg gehalten: «Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der Fehler von 1848 und 1849 gewesen –, sondern durch Eisen und Blut.»[4] So lautete sein verstörend einflussreiches Credo, dessen Echo bis in den totalitären Staat des 20. Jahrhunderts hörbar blieb. Unter diesem Vorzeichen ließen sich die demokratische Revolution von 1848/49 und die Nationalversammlung der Paulskirche leicht mit dem Verdikt «gescheitert» versehen und selbst epochale Leistungen wie die in Frankfurt entworfene und verabschiedete Verfassung mit den «Grundrechten des deutschen Volkes» ignorieren. So entstanden zwar zahllose Bismarck-Denkmäler und Kaiser-Wilhelm-Monumente, wenn aber Demokraten auf dem Friedhof der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain der Freiheitskämpfer des Jahres 1848 gedachten, ließ die preußische Polizei jede Kranzschleife durch ihre Gendarmen genau kontrollieren – aus Furcht vor zu viel aktiver Erinnerung an Freiheit, Demokratie und Revolution. Die Weimarer Republik knüpfte mit ihrer Verfassung an die liberal-demokratischen Ideen von 1848/49 an und stellte sich auch symbolisch in die Tradition der Freiheitsbewegungen: Schwarz-Rot-Gold, die deutsche Trikolore der Freiheit vom Hambacher Fest 1832, wurde Nationalflagge. Diese demokratische Traditionsbildung hat vielfach Feindschaft auf sich gezogen. Denn zur fortdauernden Dominanz der national-borussischen Geschichtsschreibung von rechts kam das antiliberale Denken von links. Der beißende Spott und die höhnische Verachtung der bürgerlichen Freiheiten im Gefolge von Karl Marx sind nicht zu unterschätzen, etwa wenn Rosa Luxemburg gegen «kleinbürgerliche Illusionisten und Schwätzer von Anno 1848» agitierte.[5] Selbst nach 1945, nach Diktatur, Weltkrieg und Völkermord, wirkte die eingeübte Ignoranz gegen die Freiheits- und Demokratiegeschichte fort. Die einen sahen im Nationalsozialismus nur einen Betriebsunfall der deutschen Geschichte, der seine Ursache just in der modernen, mit der Französischen Revolution beginnenden demokratisch verfassten Massengesellschaft gehabt haben soll. Andere sahen die Gründe für Hitler und Holocaust vor allem im Fehlen proletarischer Revolutionen in Deutschland. Gemeinsam war beiden Deutungen, dass sie die freiheitlichen Bewegungen in der deutschen Geschichte gering schätzten. Es war einer meiner Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten, Gustav Heinemann, der Anfang der 1970er-Jahre mit Leidenschaft dafür warb, «in der Geschichte unseres Volkes nach jenen Kräften zu spüren und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die dafür gelebt und gekämpft haben, damit das deutsche Volk politisch mündig und moralisch verantwortlich sein Leben und seine Ordnung selbst gestalten kann».[6] Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, den Heinemann als «Preis für die Schuljugend zum Verständnis deutscher Freiheitsbewegungen» ins Leben rief, und die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte in Rastatt sind bleibende Resultate seines Engagements. Aber es wurde – und zwar aus guten Gründen – von einem anderen drängenden Thema überlagert: der notwendigen und viel zu lange verweigerten Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen. Heute ist unsere Erinnerungskultur maßgeblich geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, seinen Tätern, Mitläufern und seiner Ideologie, sowie von der Erinnerung an die Millionen Opfer. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis – zunächst, kaum wahrgenommen, Bundespräsident Walter Scheel – dann vor allem Richard von Weizsäcker an den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung erinnern konnte. Diese Verzögerung ist kein Zufall. Denn 1945 hatte Deutschlands Befreiung von außen kommen müssen. Noch lange Zeit danach empfanden große Teile der Nachkriegsgesellschaft das Datum vor allem als Niederlage und Unglück. Erst in dem Maße, in dem das Verdrängen und Beschweigen der deutschen Verbrechen beendet wurde, konnte der Befreiung von außen eine innere Befreiung im Zeichen neu verwurzelter demokratischer Überzeugungen folgen. Es war ein langer, mühsamer und oft schmerzhafter Prozess der Aufklärung und Aufarbeitung von Mittäterschaft und Mitwisserschaft. Erst dadurch konnte die Bundesrepublik Deutschland demokratisches Selbstvertrauen gewinnen, nicht durch Abwehr...