E-Book, Deutsch, Band 6, 320 Seiten
Reihe: Ein Fall für Wells & Wong
Stevens Tödliches Spiel in Hongkong
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95728-601-7
Verlag: Knesebeck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der sechste Fall für Wells & Wong
E-Book, Deutsch, Band 6, 320 Seiten
Reihe: Ein Fall für Wells & Wong
ISBN: 978-3-95728-601-7
Verlag: Knesebeck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Robin Stevens wurde zwar in Kalifornien geboren, wuchs aber in einem College in Oxford, gleich neben dem Wohnhaus von Alice im Wunderland, auf. Schon in frühester Kindheit wollte sie entweder Hercule Poirot oder Agatha Christie werden. Als das mit dem beeindruckenden Schnauzbart nichts wurde, entschied sie sich für eine Karriere als Krimiautorin.
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3
Schiffe sind mir noch nie gut bekommen. Auf See fühle ich mich immer so aufgewühlt, innen wie außen – davon ganz abgesehen war ich dieses Mal sowieso näher am Wasser gebaut als sonst. Unsere Reise nach Hongkong ist in meiner Erinnerung fest verbunden mit dem Geschmack von Salz – vom Meer und von den Tränen, die mir über die Wangen rollten.
Daisy hingegen amüsierte sich prächtig und staunte lauthals über den Speisesaal und die Kabinen (so imposant wie die im Orientexpress, jedoch größer). Ich dagegen kann mich nur vage an die Zeit auf dem Schiff erinnern – mit wenigen Ausnahmen. Eine davon ist der Morgen, an dem wir die Neuigkeiten über George V. erfuhren.
»Tot!«, sagte Daisy verdutzt und starrte auf die fünf Tage alte Zeitung vor ihr. Wir saßen nach dem Frühstück in der Sonne Ägyptens auf dem Erste-Klasse-Deck der und schauten auf das spiegelglatte Wasser des Suezkanals, durch den wir von einem dampfspuckenden Schlepper gezogen wurden. »Du meine Güte, jetzt brauchen wir einen neuen König! Oh, ich muss mir von irgendwoher eine Trauermanschette besorgen. Du bist gerüstet, Hazel. Du trägst bereits Schwarz.«
»Die arme Königin«, sagte ich. »Die arme Prinzessin und die armen Prinzen!« Ich blickte auf mein schwarzes Kleid. Kurz spürte ich zusätzlich zu meinem eigenen Schmerz auch .
Daisy legte nachdenklich den Kopf schief. »Ich frage mich … Es wird schon ein natürlicher Tod sein, oder? Ich meine … wir glauben nicht, dass hier jemand hat, richtig? Immerhin war er der König. Was, wenn er wurde?«
»Du weißt, dass er krank war, Daisy«, sagte ich. Ich hatte bereits eine ungute Ahnung, wohin diese Unterhaltung führen würde. »Er war ein alter Mann. Und ich glaube auch nicht, dass es jemand auf ihn abgesehen hatte. Sein ältester Sohn will nicht einmal König werden!«
»Hmmm«, machte Daisy. »Vermutlich. Obwohl es mich schon irgendwie nachdenklich stimmt … Hazel, es ist völlig ausgeschlossen … also, ich meine … sind wir absolut sicher, dass dein …«
»Kein weiteres Wort!«, unterbrach ich sie. Plötzlich war mir vor Schmerz heiß bis in die Fingerspitzen. »Ah Yeh ist keiner unserer Fälle. Er wurde nicht umgebracht. Er ist einfach nur , Daisy. Manche Menschen sterben tatsächlich noch auf natürliche Weise. Und was willst du überhaupt sagen – dass sein Sohn ihn getötet haben könnte? «
»Nein!« Ich war erleichtert, dass Daisy dabei die Röte in die Wangen schoss. »Ich wollte damit nur sagen … also … war dein Großvater nicht reich?«
»Kann schon sein«, sagte ich steif. »Aber, Daisy, du kannst nicht einfach so behaupten, dass er ermordet wurde. Und , du erwähnst davon auch nur einen Ton gegenüber meiner Familie, wenn wir da sind, verstanden?! Großvater starb am Alter, genau wie unser armer König. Er war beinahe achtzig!«
»Ist ja gut«, grummelte Daisy. »Aber du kannst mir nicht vorwerfen, dass ich es habe!«
»Doch, kann ich.«
Daisy schwieg nachdenklich, bevor sie entschuldigend meine Hand tätschelte. Zwischen uns war alles wieder in Ordnung, doch jedes Mal, wenn ich einen britischen Passagier mit einer Trauermanschette am Ärmel sah, kam es mir so vor, als würde sich das Stechen in meiner Brust verdoppeln.
Das andere, woran ich mich erinnere, ist Daisy in der Bibliothek.
Während das Schiff durch die Straße von Malakka dampfte, das Wasser um uns herum sich grünblau verfärbte und Nacht für Nacht dampfende, phosphoreszierende Schaumränder bildete, benahm Daisy sich auf einmal sehr seltsam.
Immer wieder stahl sie sich zu den merkwürdigsten Gelegenheiten davon, um Stunden später mit Tintenflecken an den Fingern wieder zu erscheinen. Ich nahm an, sie würde sich klammheimlich – ohne mich! – Notizen zu den Passagieren machen, weshalb ich ziemlich beleidigt war, bis wir in Singapur vor Anker lagen und ich in die Bibliothek ging, um zurückzugeben. Prompt stieß ich dort auf Daisy, die mit einem Stapel Bücher auf dem Schoß und einem Stift in der Hand an einem Tisch saß.
Als sie erschrocken den Kopf hob und mich ansah, nahmen die Wangen unter ihrer Sonnenbräune einen rosaroten Hauch an.
»Was machst du hier?«, fragte ich.
»Recherchieren«, antwortete Daisy nach einer Pause. » Es ist nur … na ja … Du hast mir nie viel von Hongkong erzählt. Was sich im Übrigen nicht gehört, Hazel. Bisher habe ich stets meine eigenen Rückschlüsse gezogen, aber das genügt nicht, wenn ich dort zu Besuch bin. Ich weiß, ich habe die richtige Kleidung eingepackt, dazu habe ich in Zeitschriften nachgeschlagen, allerdings bringt mich das nur ein gewisses Stück weit.«
Ich blinzelte sie an.
»Daisy!«, sagte ich. »Macht dir der Besuch in Hongkong ?«
»Selbstverständlich nicht!« Daisys Röte nahm zu. »Ich will nur sichergehen, dass ich auf alles vorbereitet bin. Hazel, nun erzähl mir doch einmal von deiner Familie. Du hast zwei kleine Schwestern und die heißen …«
»Rose und May«, antwortete ich. »Sie sind jetzt … acht und fünf, glaube ich.«
»Und dann gibt es da noch deinen Vater, den ich natürlich bereits kenne. Und die zwei, äh, Ehefrauen deines Vaters.«
Jetzt wurde ich ebenfalls rot. Mein Vater hat tatsächlich zwei Frauen: meine Mutter, June, und seine zweite Ehefrau, die wir Jie Jie nennen. Jie Jie ist nicht ihr richtiger Name – es ist nur ein Kosename, der so viel wie bedeutet –, aber nachdem ich sie schon so viele Jahre so nenne, kann ich mir etwas anderes gar nicht vorstellen. Meinen englischen Freunden gegenüber habe ich Jie Jie höchstens am Rande erwähnt, weshalb es mich überraschte, dass Daisy es sich überhaupt gemerkt hatte. Jemandem aus England, wo jeder Mann eine einzige Ehefrau zu haben hat (und hat er doch mehrere, ist das Bigamie und ein Verbrechen), zu erklären, dass die zwei Ehefrauen meines Vaters sich kennen und sogar im selben Haus leben, ist nahezu unmöglich.
»Das macht dir doch nichts aus, oder?«, fragte ich besorgt.
»Hazel, das macht mir nicht im Geringsten etwas aus«, antwortete sie. Doch als ich sie genauer ansah, meinte ich, den Anflug eines nervösen Zuckens an ihrem Kinn zu erkennen. Sosehr wie noch nie spürte ich in diesem Moment die Kluft zwischen ihrer Vorstellung von Familie und meiner eigenen. Ich war davon ausgegangen, dass Daisy sich an Hongkong gewöhnen würde, wie sie sich an alle neuen Umgebungen gewöhnte, die wir bisher besucht hatten – nur hatte ich vergessen, dass sich all diese Orte in Europa befunden hatten. Diesmal ließen wir die Grenzen von Daisys Welt hinter uns und drangen in meine vor, was Daisy sehr wohl begriffen hatte – im Gegensatz zu mir.
Die folgenden Tage dachte ich immer öfter an meine Familie. In England vermeide ich das möglichst, weil es zu sehr wehtut, doch nun ließ ich es zu. Ich dachte an meinen Vater, wie er mich durch seine Brille betrachtet und mir ein Buch reicht. Ich dachte an Jie Jie, wie sie mich spontan umarmt und auf die Wange küsst. Ich dachte an Su Li, meine (in Hongkong ist das so eine Art junges Dienstmädchen), wie sie mir Kuchen gibt, wenn ich in der Schule eine Prüfung bestanden habe, und mich kitzelt, bis mir vor Lachen die Tränen kommen. Ich dachte an meine süßen, witzigen kleinen Schwestern, Rose und May. Und ich dachte an meine Mutter.
Dieser letzte Gedanke machte mich nervös. Ich hatte meine Mutter seit über zwei Jahren nicht gesehen und anders als von meinem Vater hatte ich fast nie von ihr gehört. Ich hatte nur Päckchen mit Kuchen von unserem Koch Ng bekommen, denen kurz angebundene Nachrichten von ihr beilagen, die sie nicht einmal selbst geschrieben, sondern unserem Chauffeur Wo On diktiert hatte. In Gegenwart meiner Mutter war ich schon immer ziemlich unruhig. Obwohl ich weiß, dass sie mich mag, ist sie so erhaben und so wunderschön, dass ich mir neben ihr klein und langweilig vorkomme. Wir hatten nie viel gemeinsam. Sie heißt es nicht gut, dass ich eine Schule in England besuche, und daraus macht sie kein Geheimnis. Meine Mutter ist nachtragend und bestraft Menschen, über die sie sich ärgert, gern. Und über mich – da war ich sicher – ärgerte sie sich bestimmt immer noch. Deshalb hatte ich meinem Vater diese merkwürdig anmutende Frage gestellt.
Was, wenn meine...




