E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Strasser Als wir noch Götter waren im Mai
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-95890-256-5
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein deutsches Leben überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-95890-256-5
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit Johano Strassers Leben sind viele Ereignisse der deutschen Zeitgeschichte eng verbunden: die 68er Bewegung, die neue Ostpolitik Willy Brandts und der sozial-liberalen Koalition, die Neuorientierung der Linken in der Kohl-Ära, die Frage nach dem linken Humanismus in den Schröder-Jahren und die neuen Herausforderungen durch eine ungeregelte Globalisierung und Digitalisierung. Als mutiger (Vor-)Denker, brillanter Autor und überzeugter Humanist verbindet er in seiner Autobiografie politische Analyse mit seiner interessanten Lebensgeschichte, schildert Begegnungen mit Weggefährten und Freunden wie Willy Brandt, Heinrich Böll, Günter Grass, Patrick Süskind und beschäftigt sich mit der aktuellen Krise der SPD, in deren Grundwertekommission er seit beinahe 40 Jahren Mitglied ist. Aus frühen Erfahrungen in einer internationalistischen Familie – die Eltern waren Esperantisten und Pazifisten – entwickelt er seine politischen, philosophischen und religiösen Überzeugungen. Was dabei herauskommt, ist eine Geschichte der Bundesrepublik von den Anfängen unter Adenauer bis in die Gegenwart aus dem subjektiven Blickwinkel engagierter Zeitgenossenschaft, nicht aufdringlich belehrend, sondern durchaus selbstkritisch und mit Humor erzählt. Sein Credo: Politisches Engagement ist weder Lebensverfehlung noch Zeitvergeudung. Es kann sogar Spaß machen und ist allemal gesünder, als zu resignieren. Die überzeugende Bilanz eines Mannes, der seine Fahne nie nach dem Wind gehängt hat.
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1Ein ambivalentes Erbe
Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört eine Szene, die sich im Flur unseres Hauses in der niederländischen Provinzhauptstadt Leeuwarden abspielte. Ich kann damals nicht viel älter als drei Jahre gewesen sein. Es war später Nachmittag oder früher Abend, mein Vater kam heim von der Schreibstube. So hieß das Büro, in das ihn, der dem Pass nach Österreicher war, die deutschen Besatzer gesetzt hatten. Ich hörte ihn, rannte aus dem Wohnzimmer in den Flur, um ihn zu begrüßen, da sah ich gerade noch, wie er hastig den großen Bauernschrank schloss, der dort stand. Ich hatte sofort das Gefühl, dass er etwas vor mir versteckte, und als er im Wohnzimmer saß und den Leeuwarder Courant, die örtliche Zeitung, las, schlich ich in den Flur, öffnete die Schranktür und fand ein Gewehr. Merkwürdigerweise hat mein Vater, als ich ihn Jahrzehnte später – wir waren längst in Deutschland – darauf ansprach, immer bestritten, ein Gewehr bei sich geführt zu haben. Die Deutschen hätten ihn dienstverpflichtet, sagte er, aber zum Glück nicht zum Kriegsdienst, sondern in der Standortverwaltung, und als Angestellter in der Standortverwaltung habe er kein Gewehr tragen müssen. Entweder täuscht mich meine Erinnerung – ich habe als Kind tatsächlich lange Schwierigkeiten gehabt, Traum und Wirklichkeit auseinanderzuhalten – oder ihm war die Sache so peinlich, dass er sie auch Jahrzehnte danach nicht wahrhaben wollte. Meine Geburtsstadt Leeuwarden. Zuletzt bin ich Mitte der Achtzigerjahre fast zwei Wochen dort gewesen, als ich für meinen Roman Der Klang der Fanfare recherchierte. Ich war in der Camminghastraat, wo ich in einem der einstöckigen Häuser aufgewachsen bin, sah die Anlagen des Prinsentuin, das alte Gemäuer des Oldehove und das Haus meines Großvaters am Groentemarkt. Genau gegenüber – eine Kupfertafel weist darauf hin – das Geburtshaus von Margaretha Geertruida Zelle, besser bekannt als Mata Hari, der Tänzerin, die in allen Hauptstädten Europas den Menschen den Kopf verdrehte und schließlich als deutsche Spionin von den Franzosen verhaftet und am 15. Oktober 1917 in Vincennes bei Paris von einem zwölfköpfigen Erschießungskommando hingerichtet wurde. In einer solchen Stadt bin ich geboren, einer Stadt, in der die Menschen über ihre Verhältnisse träumen, in die Welt hinausgehen und Wunder wirken. Aber dann, wenn der Applaus verklungen ist, werden sie von der großen Welt wieder ausgespien, weil sie, wo immer sie sind, Fremde bleiben, weil auch nach vielen Jahren in den Metropolen ihr neugieriger Provinzlerblick sie verrät. Meine Eltern waren Esperantisten und Pazifisten. Sie glaubten daran, dass durch die Verbreitung der von Ludwik Zamenhof erfundenen Kunstsprache Esperanto alle ethnischen, religiösen, kulturellen Gräben überwunden werden und die Menschen auf der ganzen Welt friedlich miteinander leben könnten. Oder, wenn sie vielleicht auch nicht felsenfest daran glaubten, so hielten sie es doch für einen Versuch wert. Kennengelernt haben sich meine Eltern auf einem Esperanto-Kongress in Paris Ende der Zwanzigerjahre. Nach der Heirat lebten sie einige Jahre in Frankreich, zunächst in Avignon, später in Mulhouse im Elsass. In Mulhouse kamen zwei meiner Brüder zur Welt. Dann zog die Familie nach Holland um, wo ich am 1. Mai 1939 und ein weiterer Bruder drei Jahre später geboren wurden. Nach dem Krieg landeten wir alle in Norddeutschland; hier kam als letztes Geschwister im kalten Winter des Jahres 1947 schließlich noch ein Mädchen dazu. Den drei Söhnen, die vor dem Zweiten Weltkrieg geboren waren, gaben meine Eltern Esperantonamen: Roberto Amato, Ludoviko Bennato und Johano Roberto. Aber als der Zweite Weltkrieg ausbrach, gingen nicht nur ihre pazifistischen Hoffnungen zu Bruch, sondern auch ihr Glaube an die völkerversöhnende Kraft des Esperanto bekam Risse. Der im Krieg geborene vierte Sohn wurde nach der holländischen Königin Wilhelm genannt, die nach dem Krieg geborene Tochter nach der französischen Nationalfigur Marianne. Johano Strasser im Alter von 2,5 Jahren in Holland Warum, als die Ideale des Esperanto für meine Eltern ihren Glanz verloren, Wilhelm und Marianne? Setzten meine Eltern nun plötzlich auf die Kraft der Nationen, der niederländischen und der französischen? Und warum zogen sie dann, als der Krieg zu Ende gegangen war, mit der ganzen Familie nach Deutschland, wo Menschen wie sie, die in der Tradition der Aufklärung und des Kosmopolitismus standen, von den nationalen Kräften doch nicht viel erwarten konnten? Ich habe sie merkwürdigerweise nie danach gefragt, damals nicht und auch später nicht. Und nun ist es zu spät, denn meine Eltern leben nicht mehr. Mein Vater ist mit 87, meine Mutter mit 98 Jahren in Kalifornien gestorben. Was wir Erinnerung nennen, ist eine seltsame Mischung aus dem, was uns das Leben mitgegeben hat, und dem, was wir träumend, uns selbst und andere täuschend, hinzufügen. Manche entwickeln, wenn sie älter werden, von sich aus eine Neigung, das eigene Leben im Rückblick zu erfassen, sich die einzelnen Stationen, die Höhen und Tiefen, die charakteristischen Details zu vergegenwärtigen und daraus eine Geschichte zu formen: eine Biographie. Vielleicht bin ich immer noch nicht alt genug, vielleicht ist es auch die für meine holländisch-friesisch-norddeutsche Herkunft typische Scheu, sich allzu intensiv mit sich selbst zu befassen, die mich zögern lässt. Ich habe bisher mein Leben immer nur als Fundus benutzt, als Fundus für argumentativ verwendbare Erfahrungen und als Fundus für Geschichten, in die ich meine literarischen Figuren verwickelte. Auf die Idee, es als ein mehr oder weniger sinnreiches, zusammenhängendes Ganzes zu sehen und daraus eine Biographie zu formen, bin ich lange nicht gekommen; und eine Autobiographie zu schreiben, noch dazu der üblichen Art, habe ich auch jetzt nicht im Sinn. Aber sagen das nicht die meisten von sich, wenn sie daran gehen, ihr Leben aufzuschreiben? Als Schriftsteller gibt man, ob man es will oder nicht, in jedem Buch, in jedem Satz, in jeder Zeile eines Gedichts ein Stück von sich selbst preis. Auch dann, wenn man mit dem Ich ein Versteckspiel treibt, sich mal diese, mal jene Maske aufsetzt. So gesehen, ist alles Schreiben autobiographisch. Auch kann ich mich nicht der Erkenntnis entziehen, dass viele meiner Ansichten und Einstellungen, politische, moralische, religiöse oder lebensphilosophische, ihre besondere Ausprägung und einen Großteil ihrer Überzeugungskraft aus dem beziehen, was mir im Leben widerfahren ist. Weil dies so ist, mag es vielleicht sinnvoll sein, dem Zusammenhang zwischen diesen Überzeugungen und dem, was ich mein Leben nenne, an einigen zentralen Punkten genauer nachzugehen, freilich ohne dabei dem unter Verfassern von Autobiographien verbreiteten Irrtum zu verfallen, dass alles, was mir zugestoßen ist, schon deswegen mitteilenswert ist, weil es mir zugestoßen ist. Ich, der ich Philosophie studiert und in diesem Fach promoviert habe, unterschätze nicht den Einfluss von Theorien und Theoretikern auf meine moralischen, philosophischen, religiösen und politischen Grundüberzeugungen. Zu gut erinnere ich mich, welchen nachhaltigen Eindruck die Lektüre von Büchern auf mich hatte: ganz früh so unterschiedliche wie die Forsyte Saga von Galsworthy, die ich mit zwölf Jahren verschlang, und Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts, später dann die Schriften Immanuel Kants, die Bekenntnisse des Augustinus, Montaignes Essais, Camus’ Der Mensch in der Revolte und nicht zuletzt die Schriften von Marx und Engels. Aber, das ist mir im Laufe der Jahre immer klarer geworden, alle in diesen Büchern versammelten Ideen hätten mich wohl nicht so sehr ergriffen, wenn der Boden dafür nicht durch Herkunft, Erziehung und Lebenserfahrung bereitet worden wäre. Als ich während des Philosophiestudiums zum ersten Mal Kants kleine Schrift Zum ewigen Frieden las, war ich längst im Kopf Kosmopolit und vom Gefühl her Europäer. Unsere Verwandten – Tanten, Onkel, Nichten und Neffen – lebten in Frankreich, in Italien, in Österreich und Holland, meine beiden älteren Brüder waren in die USA ausgewandert und wohnten mittlerweile mit ihren Familien in Kalifornien. Als ich, bis dahin Inhaber eines österreichischen Passes, Mitte der Sechzigerjahre Deutscher wurde, hatte das unter anderem einen ganz praktischen Grund: Ich wollte endlich auch einmal an den deutschen Leichtathletikmeisterschaften teilnehmen können. Hätte es die Möglichkeit gegeben, ich hätte wohl lieber einen europäischen Pass erworben oder zumindest die österreichische als zusätzliche Staatsangehörigkeit behalten. Wie sehr ich schon damals Deutscher war, wurde mir erst im Laufe der Jahre richtig bewusst. Als ich wenig später Friedrich Engels’ Die Lage der arbeitenden Klasse in England las, ließ mich das Thema der sozialen Gerechtigkeit und der politischen...