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Straub | Nullzone | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 370 Seiten

Straub Nullzone


2. Auflage 2025
ISBN: 978-3-9505435-8-2
Verlag: Elster & Salis Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 370 Seiten

ISBN: 978-3-9505435-8-2
Verlag: Elster & Salis Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zweiundzwanzig Stockwerke in einem schiefen Gemeindebau-Hochhaus, ein futuristisches Neubauprojekt mit KI und drei Menschen, die ihr Leben neu ordnen. In der 'Nullzone' prallen die Lebensentwürfe der Hausmeisterin Elfi, des Paketboten Rachid und des Zukunftsforschers Gabor aufeinander. Isabella Straub erzählt eine sehr unterhaltsame Geschichte, bei der man laut auflachen muss, die aber auch existenzielle Fragen aufwirft: Gibt es ein Grundrecht auf Wohnen? Und wie viel brauchen wir eigentlich zum Leben?

Isabella Straub, 1968 in Wien geboren, lebt und arbeitet in Klagenfurt und Wien. Die ehemalige Journalistin und Werbetexterin studierte Germanistik und Philosophie. Sie veröffentlichte bisher drei Romane bei Blumenbar: 'Südbalkon', 'Das Fest des Windrads' und 'Wer hier schlief'. Die Autorin wurde vielfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet, u.a. erhielt sie 2022 den Österreichischen Literaturpreis für Erzählungen und war 2019 Finalistin des Alfred Döblin-Preises sowie 2011 Gewinnerin des deutschen Kurzgeschichtepreises (Jury- und Publikumspreis).
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GABOR


Gabor Sperlings liebste Zeitform ist die vollendete Zukunft: das Futurum exaktum. Ein Loch in der Membran des Raum-Zeit-Kontinuums; ein kosmischer Spalt, durch den der Protonenstaub des Künftigen weht. In neunzig Tagen werde ich ein neuer Mensch geworden sein.

„Aufsetzen“, sagt die Ärztin.

Gabor setzt sich auf.

„Und jetzt vorbeugen. Husten.“

Er beugt sich vor. Hustet.

„Fester.“

Er hustet fester.

„Luft anhalten!“

Gabor hält die Luft an. Wie einfach die Anweisungen, wie leicht, ihnen zu folgen. Der kalte Kuss des Stethoskops. Er wölbt den Rücken, will es besonders gut machen. Sein Blick fällt auf den Bauch, auf das Fett, das sich träge in alle Richtungen ausdehnt. Auf den halb verborgenen Nabel, einen mit drahtigen Haaren umwachsenen Krater, der mit den Jahren größer zu werden scheint. „Gibt es Leute, die sich den Nabel zunähen lassen?“, fragt er.

„Wie kommen Sie denn darauf?“

„Angenommen, jemand möchte mit seiner Mutter nichts mehr –“

„Luft anhalten.“

Die Internistin heißt Doktor Irma Stockhauser-Urfahr. Ein langer, umständlicher Name für diese kleine, klare Frau. Sie hat die dramatischsten Wangenknochen, die Gabor je untergekommen sind: glatt und rund wie Tischtennisbälle. Einmal beobachtete er seine Frau Sonia dabei, wie sie zwei runde Kissen durch einen Schlitz in ihren BH schob und anschließend ihre Brüste im festen Gerüst zurechtrückte. Möglicherweise, denkt Gabor, gibt es auch in den Wangen von Doktor Stockhauser-Urfahr einen unscheinbaren Schlitz, durch den sie jeden Morgen die Bälle hinein- und dann vorschiebt, bis sie an ihrem Platz einrasten.

Wenig später sitzt er der Ärztin in Hemd, Hose und wiedererlangter Würde gegenüber. Zwischen ihnen ein mächtiger Glasschreibtisch. Zahltag.

„Ihr viszerales Fett bereitet mir Sorgen“, sagt die Ärztin, den Blick auf den Bildschirm geheftet. „Damit ist nicht zu spaßen, Herr Sperling. Herzinfarkt, Schlaganfall, Thrombose.“

Seinen Namen sagt sie immer dann, wenn es ernst wird. Ihr Kreatininwert ist grenzwertig, Herr Sperling. Ihre Leberwerte müssen wir im Auge behalten, Herr Sperling. Wenn sie vor einem größeren Eingriff warnt, fügt sie ein „Doktor“ hinzu. Ihre Mitralklappe ist undicht, Herr Doktor Sperling.

Jetzt also das Fett. Viszeral, kapital, phänomenal, denkt er. Nur nicht auf die Baustellen fokussieren, die gesunden Anteile im Blick behalten. „Ich bin dabei, mich zu ändern“, sagt er. „In drei Monaten werde ich ein neuer Mensch geworden sein.“

„Ein neuer Mensch?“ Sie sieht ihn über den Rand ihrer Lesebrille an. „Ihre Zuversicht möchte ich haben.“

Er nimmt es nicht persönlich. Still lächelt er das Lächeln des Möbelhaus-Buddhas. Was ihn betrifft, gibt es nicht mehr viel, was er haben möchte. Er ist in die Phase des Abstoßens eingetreten. Weg, weg, weg, alles raus, hin zu den Gestaden des einfachen Lebens. Viszeral, frugal, kolossal. Das ist es, was zählt: ein Ziel zu verfolgen, dem man sich täglich einen Schritt nähert. „Ich meditiere“, sagt er und richtet sich auf. „Zen.“

„Das ist wunderbar“, sagt sie, „dreht die Zeit aber nicht zurück. „Darf ich fragen, wie alt Sie sind?“

Unter anderen Umständen hätte er mit einem Scherz geantwortet. Ich bin im Jahr des Pfaus geboren. Nun aber, da sie die Worte Schlaganfall und Herzinfarkt ausgesprochen, jedem Witz von vornherein das Wasser abgegraben hat, sagt er bloß „einundsechzig“ und kann es selbst kaum fassen. Sechzig plus eins. Siebzig weniger neun. Mit einem Bein im Grab. Aber noch ist sein Pulver nicht verschossen. In neunzig Tagen werde ich ein neuer Mensch geworden sein. Das Futur 2 ist auf seiner Seite. Die Grammatik wird ihn retten.

Die Ärztin drückt ihm einen Becher in die Hand. „Den lassen Sie danach auf dem Brett am WC stehen, wenn ich bitten darf.“

Er widersteht dem Impuls, den Arm auszustrecken und ihre Wangen zu betasten. „Ich gebe mein Bestes“, murmelt er.

Gabor ist schon auf dem Weg zur Tür, als sie sagt: „Und was den Nabel betrifft –“ Er dreht sich um. „Manche lassen ihn korrigieren. Aber zunähen? Davon habe ich noch nichts gehört.“

„Das war eher eine philosophische Frage“, sagt er.

„Philosophische Eingriffe führen wir hier nicht durch.“

ELFI


Elfi Hrbalas liebste Zeit ist die Gegenwart. Sie ist mächtig, weil sie in die Zukunft schwappen kann. Wenn Elfi ahnt, dass sie Herrn Gabelzier bei den Glascontainern antreffen wird und er dann tatsächlich davorsteht in seinen braunen Hosen und dem Shetland-Pullover, dann ist die Gegenwart im Augenblick der Ahnung in die Zukunft geschwappt.

„Guten Tag, liebe Frau Elfi! Ich hoffe, ich habe die Flaschen richtig eingeworfen!“

„Keine Sorge, Herr Gabelzier, Sie sind ein mustergültiger Flaschenentsorger.“

Manchmal ist die Gegenwart ein Moment des Friedens, in dem sich die Zeit in sich selbst faltet. Jetzt zum Beispiel.

Jetzt.

Und jetzt.

Und jetzt.

Und jetzt sitzt Elfi am Küchentisch in ihrer Dienstwohnung und stapelt Waschraummünzen zu Türmchen. Acht, neun, zehn … eins, zwei, drei … neun, zehn. Elfi geht ganz in diesem Zählen auf. Wenn sie zählt, zählt nichts anderes, schon gar nicht die Vergangenheit und der Schmerz, den sie verursacht. Ihre Freundin Adelheid hat sie einmal gefragt, woran sie denkt, wenn sie das Treppenhaus wischt.

„An nichts“, hat Elfi geantwortet.

„Das gibt’s nicht“, hat Adelheid gesagt, „man denkt immer an was!“

„Das Nichts ist ja auch was. Es ist das, was übrig ist, wenn man alles andere entfernt hat.“

Und im Entfernen, da kennt sie sich aus, die Elfi Hrbala. Wenn die Welt eine Rechnung ist, dann ist sie das Minuszeichen. Das Meisterin in Hausmeisterin hat sie immer schon als Verpflichtung angesehen. Sie entfernt Kaugummis von Aufzugwänden und Handläufen, den Müll, der aus übervollen Tonnen quillt vom Kellerboden, Zigarettenstummel von Grün- und Grauflächen und sich selbst, wenn sie in ein Gespräch gerät, das sich um die Zukunft des Hauses dreht. Was lässt sich schon über die Zukunft sagen? Die Fenster kann man putzen, aber das Fenster, von dem aus man in die Zukunft sieht, bleibt immer trüb. Natürlich gibt es Gerüchte im Haus, denn ohne Gerüchte kann so ein Haus nicht existieren. Die Gerüchte halten es zusammen. Und die meisten reden doch nur, weil es Gymnastik für den Mund ist. Zwölf, dreizehn, vierzehn.

Adelheid ist keine, die Gerüchte verbreitet. Sie leidet am Messie-Syndrom, das ihre ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Eigentlich leidet sie an ihrer Kindheit, die als Messie-Syndrom wieder an die Oberfläche gespült wurde, aber Syndrom klingt besser als Kindheit, denn die hat ja jeder. Solange Adelheids Mann noch lebte, konnten sie das Syndrom gemeinsam zurückdrängen, aber seit Erichs Tod gibt es kein Halten mehr. Ihre Wohnung wuchert zu, bald wird sie darin verloren gehen.

Auch ohne Messie-Syndrom neigen Menschen dazu, alles an sich zu raffen, denkt Elfi. Sie horten Waschraummünzen, obwohl das streng untersagt ist. Wer eine Münze bei Frau Elfi holt, muss sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden im Waschraum aktivieren. Hausordnung Punkt zwölf, Paragraf vier. Elfi Hrbala hortet nichts. Sie ist jederzeit bereit, alles zu verlieren. Viel ist ohnehin nicht mehr übrig.

RACHID


Rachid mag die Vergangenheit, wenn sie lange vorbei ist, sagen wir: hundertfünfzig Millionen Jahre. Stegosaurier, die Gänseblümchen fressen – das ist lässig. Was er nicht leiden kann: die nahe Vergangenheit, vor allem, wenn Daria darin vorkommt. Oder sein Vater.

Als er am Morgen in die Halle kommt, steht so ein Spaghetti-Sultan vor seiner Rutsche. Arme, dünn wie Paketschnüre. Ein Don Lauch, den man maximal zum Markenablecken abstellen kann. Dumpfe Vorahnung. Hubmann tippt ihm auf die Schulter. „Das ist Jo, du lernst ihn ein. Am Ende der Woche ist er fit für sechzig Pakete. Verstanden?“

Sechzig? Ist das Kindergarten, oder was? Dass die Neuen Welpenschutz haben, stößt ihm übelst auf. Ihn hat man doch auch nicht geschont! Vom ersten Tag an: Gib ihm! Heute fährt er täglich zweihundertzehn Pakete aus, den Lieferwagen gerammelt voll. Da heißt es um sechs Uhr früh Tetris spielen, um den ganzen Mist zu verstauen.

„Rachid ist unser bestes Pferd im Stall“, sagt Hubmann zu Jo.

Jo glotzt.

Rachid wiehert. Ein total gestörtes Geräusch, das aus seinem Mund kommt.

Jo sagt: „Eindeutig ein Pferd.“ Hubmann lacht.

Sie fahren raus in Rachids Rayon. Der Himmel beige wie Recycling-Klopapier.

„Wie ist er so?“, fragt Jo.

„Wie ist wer?“

„Hubmann. Als Chef so.“

Rachid reibt sich das Kinn mit zwei Fingern. Der letzte Typ, den er auf seine Tour mitgenommen hat, war nach zwei Tagen wieder bei Mami. „Du hast ihn ja gesehen“, sagt Rachid.

„Also ist er nett?“

Nett? Alta. „Such dir was anderes, Bruder“,...


Straub, Isabella
Isabella Straub, 1968 in Wien geboren, lebt und arbeitet in Klagenfurt und Wien.
Die ehemalige Journalistin und Werbetexterin studierte Germanistik und Philosophie.
Sie veröffentlichte bisher drei Romane bei Blumenbar: „Südbalkon“, „Das Fest des Windrads“
und „Wer hier schlief“. Die Autorin wurde vielfach mit Preisen und Stipendien
ausgezeichnet wie z.B. dem FM4 Wortlaut-Literaturpreis und dem Walter-Serner-Preis.



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