Strauß | Die Widmung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 120 Seiten

Strauß Die Widmung

Eine Erzählung
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25110-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Erzählung

E-Book, Deutsch, 120 Seiten

ISBN: 978-3-446-25110-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Traktat über die Trennung, eine Liebesgeschichte und zugleich der ungewöhnliche Versuch, Literatur in ihrer ganz realen Mitwirkung am Lust- und Trauergeschehen eines Menschen zu erfassen.

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1
Nun läuft die Schrift. Es gibt kein Entkommen mehr. Ich habe mich jemandem anvertraut, der sich selbst verleugnet. Der Tag bricht ab, auch er, ohne einen Sinn zu erfüllen. Hört auf, mitten im Spiel, während die halbe Welt noch redet und blättert und packt. Heute keinen Pfennig in bar ausgegeben, da ich wieder mein Zimmer nicht verlassen habe. Ich sagte einmal laut: mein Lockbuch, sagte aber auch: meine Denkzettel für H. Mein Verlassensein von H. nimmt zu. Ich schäme mich, es zu erzählen. Ich schäme mich meiner Handschrift. Sie zeigt mich in voller Geistesblöße. In der Schrift bin ich nackter als ausgezogen. Kein Bein, kein Atem, kein Kleid, kein Ton. Weder Stimme noch Abglanz. Alles ausgeräumt. Statt dessen die ganze Fülle eines Menschen, verschrumpelt und verwachsen, in seinem Krickelkrakel. Seine Zeilen sind sein Rest und seine Vermehrung. Die Unebenheit zwischen Minenaufstrich und blankem Papier, minimal und den Fingerkuppen eines Blinden kaum ertastbar, bildet die letzte Proportion, die noch einmal den ganzen Kerl umfaßt. Wenn gesagt wird, der alte Z. sei einmal ein Schriftsteller gewesen und habe eben nach der ›Unbestimmten Novelle‹ nichts mehr geschrieben, so heißt das nicht, daß er unterdessen nicht geschrieben hat. Er schrieb vielmehr unablässig, doch schrieb er nichts. Er kopierte die Briefe seiner Frau, die ihn vor fünf oder sechs Jahren verlassen hatte, nach fast einem Menschenalter, in dem sie mit ihm ein und dasselbe Zimmer geteilt hatte. Das radikale und liebeskranke Werk, das Z. im Alter schuf, erfüllte sich darin, ihre Handschrift in immer feineren Nachahmungen wiederzugeben. Er lernte, aus der Bewegung ihrer Schrift die Bewegung ihrer Hand sich einzuverleiben, die Bewegung ihres Arms, die Bewegung ihres ganzen Körpers, schließlich die Bewegung ihres Denkens und Fühlens. Ihre Briefe – an Originalen mag es nicht mehr als ein Dutzend gegeben haben – lagen nun in unendlichen, unzähligen Vervielfältigungen vor, die am Ende so vollkommen kopiert waren, daß Z. selber unter ihnen die ursprünglich von seiner Frau geschriebenen Briefe nicht mehr ausfindig machen konnte und sie also eigentlich verloren hatte. In der Tiefe der Sprache wachen die Solözismen, die Sprachschnitzer. Eher sprechen wir verkehrt, bevor wir verstünden, woher es kommt. Meines Wissens sehe ich genauso aus wie der da. Wozu ihn grüßen? Ihn offen anblicken und nicht grüßen. Das wird ihn stärker berühren. In der Übermüdung, in der Erschöpfung bleibt der Blick manchmal etwas zu lange an den Augen des anderen hängen. Es scheint für ihn, der nicht so müde ist, unendlich viel zu bedeuten. Biografiebewußte Menschen, nicht nur die erfolgreichen, sagen gerne: »Es hat mich nie etwas von meinem Weg abbringen können …« Dem kann ich nur entgegnen: es hat mich alles immer und immer aufs neue von meinem Weg abbringen können. Unbeirrt bewege ich mich erst, seitdem die Lage ausweglos ist. Sie überliest mich, fürchte ich, überliest mich. Noch einmal von vorn, in Ergebenheit. Sie nimmt mich mit großen Augen an. Jedoch, wie ich sehe, ist es nur ihr wacher Eigensinn, der mich mustert. »Wie sehr du mir gefällst!« sagt sie und weicht zwei Schritte zurück, da ihr unheimlich wird. So wie ich jetzt meine Tage verbringe, geschieht es unter dem aufgesperrten Auge einer Vermißten. Wenn es mir ein bißchen besser geht, dann richte ich mich auf in ihrem Blick und stelle mich gerade hin. Geht es mir aber schlecht, dann mache ich mich klein und kauere mich unter ihr unterstes Lid. Ich laß mich einfach leben, und das genügt wohl nicht. Die dröhnende Lautsprecherstimme von der Erinnerungstribüne antwortet dem undeutlichen, erregten Zwischenrufer aus der Gegenwartsmenge mit großer Gelassenheit: »Ruhig, mein kleiner Schreihals, ruhig! Bedenke, am Ende wirst du nichts gesagt haben, gar nichts. Denn ich allein werde dir immer Mund und Stimme gewesen sein.« Tagsüber bei geschlossenen Vorhängen, durch die kein Sonnenstrahl eindringt. Meine Untätigkeit. Kein Ausgang. Die lampenbeschienene Art nachzudenken, die nichts anderes ist als eine dankbare Betrachtung meiner fantastischen Dummheit, meiner immer noch trostspendenden Dummheit. Was mein Leben ist, kommt hier als Erscheinung aus dem Jenseits an, die an meinem Tisch rückt und deren entmündigtes Medium ich geworden bin. Was in diesen Séancen geschrieben wird, könnte man gewissermaßen ein Biograf nennen: das Leben hat, nach der Niederwerfung des Subjekts, damit begonnen, seinen Rest selber zu schreiben. Den Sinn eines wissenschaftlichen Versuchs enthüllt erst sein Scheitern. Die Kraft, die eine Liebesbeziehung bewegt hat, kommt erst im Bruch zur größten Wirkung. Eine Frau, die die Trennung einleitet, bedient sich gleichsam der naturwissenschaftlichen Methode, indem sie die Liebe als langwierige Verkettung von Irrtümern entlarvt, keinerlei Metaphysik, also auch kein früheres Glück mehr anerkennt und in jedem verbindenden Element den Rostfraß der Verblendung nachweist. Was das Normale ist, in seiner überwältigenden Macht, bekommt man vielleicht erst beim normalen Scheitern zu spüren, so physisch, so analytisch. Jeder, der einer Trennung oder Zerstörung ausgesetzt ist, erfährt dies als das Negative und als das Besondere, während ihm das Zusammenbleiben als das Positive und das Allgemeine erscheint. In Wahrheit liegen die Verhältnisse jedoch umgekehrt, und das Negative, das Scheitern, die Trennung, der Irrtum machen das Allgemeine aus, wofür allein schon Zahlen und Tatsachen sprechen. So ermittelt schließlich die äußerste Subjektivität des Scheiterns den einzig verläßlichen Erfahrungswert für das Wort ›normal‹, das ja im übrigen ziemlich unnahbar ist. Als Hannah ging, verkaufte ich eine Radierung von Beckmann, die mir als Kunstwerk nie sehr viel bedeutet hat. Ich erbte das Blatt vor Jahren und verwahrte es als Notgroschen in einem Tresor der Bank für Gemeinwirtschaft. Nun brachte mir das kleine Werk des deutschen Expressionisten immerhin ein bescheidenes Vermögen von – Mehrwertsteuer, Versicherungsgebühren usw. abgezogen – DM 24.870. Ich dachte, davon kannst du, arbeitslos, eine Weile leben. (›Du sollst dir deinen Schmerz leisten dürfen!‹) Ich legte alles auf ein Postscheckkonto, das brachte zwar keine Zinsen, aber eine Menge Bequemlichkeiten. Ich konnte mir z.B. mein Geld in bar, durch den Briefträger, ins Haus bringen lassen, ohne mich von meinem Tisch zu rühren; vorausgesetzt, Frau N., die Zugehfrau, half mir und steckte das gelbe Kuvert mit dem Scheck auf dem Nachhauseweg in den Briefkasten. Inzwischen besitze ich nur noch DM 1340,53. Das ist nicht sehr viel. Während ich meine Blätter für H. fülle, sinkt das Konto unaufhaltsam gen null. Wovon mag sie jetzt leben? Welches ist der Sinn der Unterbrechung, die sich mir aufzwingt, wenn ich schreibe, und der ich mich füge, ohne sie zu verstehen? Woher diese stockende Lust? Ansatz, Absatz, aus. Und wieder von vorn: Ansatz, Absatz, aus. Sekundenlang anfangen, um in Sekundenschnelle wieder aufzuhören. Die Trennung scheint sich, eine Familie der Brüche, in alle Lebensverrichtungen auszusiedeln. Überall ist der ›stete Fluß‹ unterbrochen. Die Nahrungsaufnahme nur in unregelmäßigen Brocken, die Ausscheidung behindert, der Schlaf zerrissen von den Alarmpfeifen der Angst, der Entbehrung; infolgedessen bildet das Schreiben (das ich immerhin brauche, damit irgend etwas nach außen kommt und ich nicht ganz durch mich verschluckt werde …) die aufbegehrende Mitte all dessen, was verstopft, geteilt und eingeschnürt ist. Keine andere Form des gewöhnlichen Scheiterns, weder Krankheit noch Ruin oder Versagen im Beruf, findet einen solch tiefen, grausamen Widerhall im Unbewußten wie die Trennung. Sie rührt unmittelbar an den Ursprung aller Angst und weckt ihn auf. Sie greift mit einem Griff so tief, wie überhaupt Leben in uns reicht. Ausgestoßen, in Atemnot, aus einem kurzen, würgenden Schlaf. Die panische Gewißheit: das Herz schlägt nicht mehr, es steht! Jetzt, deine letzte Chance, aufwachen, die Lage begreifen, dein stilles Herz selber massieren! Ich sagte: es ist ganz unmöglich, diesen Zustand länger zu ertragen. Nichts umtreibender, als mit einem Ende des Zwiegesprächs allein zurückzubleiben. Du hörst dich dauernd mit ihr sprechen! Ich habe einmal von der Angewohnheit des Mohave-Indianers gelesen, auch dann noch weiterzusprechen, wenn der Partner sich längst verabschiedet hat und fortgegangen ist. Genau so ergeht es mir. Der Indianer und ich, wir achten die normalen Distanzen nicht; wir glauben, daß unsere Worte den Partner noch erreichen, selbst wenn er nicht mehr zu sehen ist. Niemals habe ich eine größere Freiheit und Sicherheit in der Sprache gefunden als im Dialog, der unter Einfluß eines körperlichen Verlangens geführt wurde. Begehren und Gedächtnis reizten einander, das eine exaltierte im Schutz des anderen. Es ging dabei um gar nichts, es wurde sich anvertraut, das war alles. Der Entzug des Zwiegesprächs wirkt wie der eines Rauschmittels. Die einst stimulierten Organe erkranken, die Intelligenz, die Lust und die Bewegungsfreude, die Stimme. Ich habe mir einen kleinen Satz erfunden, in den ich ab und zu hineinschlüpfe, wenn ich mir nichts mehr vorstellen kann. »Es war schon Morgen, als sie sich trafen, und die Sonne kroch ans Licht und ging zu ihren Füßen auf.« Das ist nichts anderes als früher die Laubsägearbeit. Ein selbstgefertigter Harlekin konnte einen immer noch erheitern, wo der gekaufte längst als kindisch...


Strauß, Botho
Botho Strauß, 1944 in Naumburg/Saale geboren, lebt in der Uckermark. Bei Hanser erschienen neben einer vierbändigen Werkausgabe seiner Stücke zuletzt die Prosabände Mikado (2006), Die Unbeholfenen (Bewußtseinsnovelle, 2007), Vom Aufenthalt (2009), Sie/Er (Erzählungen, 2012), Der Aufstand gegen die sekundäre Welt (Aufsätze, 2012), Die Fabeln von der Begegnung (2013), Kongress (Die Kette der Demütigungen, 2013), Allein mit allen (Gedankenbuch, 2014), Herkunft (2014) und Oniritti Höhlenbilder (2016).

Botho Strauß wurde 1944 in Naumburg / Saale geboren. In Köln und München studierte er Germanistik, Theatergeschichte und Soziologie. Von 1970 bis 1975 war er Dramaturg an der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin, wo er heute als freier Schriftsteller lebt. Sein schriftstellerisches Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet; 1987 wurde ihm der Jean-Paul-Preis und 1989 der Georg-Büchner-Preis verliehen. Seine Theaterstücke gehören zu den meistgespielten an deutschen Bühnen.



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