Strauß | In der Nähe | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Strauß In der Nähe

Vom politischen Wert einer ostdeutschen Sehnsucht
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12376-0
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Vom politischen Wert einer ostdeutschen Sehnsucht

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-608-12376-0
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Glück eines Menschen hängt daran, in der Nähe von anderen zu sein.  Wir leben in Zeiten der Entfernung. Die politischen Lager, die großen Machtblöcke der Welt, die Stadt vom Land - alles entfernt sich voneinander. Umso wichtiger wird der Blick aus der Nähe. Wo ist im Zeichen medial befeuerter Selbstgerechtigkeit noch Gemeinschaft möglich? In seinem ersten Sachbuch findet Simon Strauß eine überraschende Antwort: in der Kleinstadt. Hier begegnen sich die Menschen als Gegenüber, hier müssen Konflikte ausgetragen und Kompromisse gefunden werden. Hier lernt man die Demokratie noch einmal neu kennen. Was macht ein gutes Zusammenleben aus? Am Beispiel der Kleinstadt Prenzlau erkundet Simon Strauß, wie Gemeinschaft gelingen kann, wann sie scheitert und welche politische Bedeutung es hat, in der Nähe zu sein. Welche Kraft hat der gemeinsame Glaube an einen physischen Ort? Gibt es noch so etwas wie einen geteilten Himmel oder greift inzwischen jeder nur noch nach den eigenen Sternen? Ein Buch, das das Wissen des Autors um die ersten städtischen Bürgerschaften in der Antike mit seiner Neugier für die Probleme unserer Gegenwart verbindet. Seine Beobachtungsgabe mit seiner Begeisterungskraft. Die Bedeutung von Nähe wird hier zuerst emphatisch gedacht - und dann real betrachtet. »Simon Strauß macht hier Ernst mit der Erkenntnis, dass Gesellschaft immer vor Ort passiert. Das gilt erst Recht für Ostdeutschland. Wer wissen will, wie hier die Menschen ihre Gesellschaft machen, muss dieses Buch lesen.« Heinz Bude »Die Wahrheit ist immer konkret, aber nie einfach. Simon Strauß gelingt mit seinem sehr persönlichen Buch eine exemplarische Erzählung über ostdeutsche und gesamtdeutsche Lebensverhältnisse seit 1945.« Dirk Oschmann

Simon Strauß, geboren 1988, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte in Basel, Poitiers und Cambridge. Er ist Mitgründer der Gruppe »Arbeit an Europa«. 2017 promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er lebt in Berlin und der Uckermark, ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschienen von ihm Sieben Nächte (2017),  Römische Tage (2019) und Zu Zweit (2023).
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Kapitel 1

Geteilter Himmel?


Sehnsucht nach Nähe entsteht auch aus Angst vor dem Fremden. Dem Sich-fremd-Fühlen in einer Welt, die man aus den Augen zu verlieren scheint. Jemand aus der Ferne kann dem, der sich nach Nähe sehnt, als Gefahr erscheinen – auch wenn der seine Sehnsucht vielleicht stärker teilt als sein langjähriger Nachbar.

Die Kehrseite von Prenzlaus Nähe-Bedürfnis ist eine Skepsis gegenüber dem Fernen und Fremden. Gegenüber dem, was in Berlin besprochen und bestimmt wird, was aus jener viel beschworenen Blase kommt, die ohne Bodenhaftung in hoher Luft zu schweben scheint und aus der nur verschwommen auf den Alltag der Menschen herabgeschaut wird. Das ist das eine Fremde.

Das andere Fremde sind die Geflüchteten. Menschen aus ferner Welt, mit unbekannten Prägungen und Kulturen, die als Bedrohung wahrgenommen werden, sobald sie in der Nähe sind. Die in einer Kleinstadt besonders auffallen, selbst wenn sie der Zahl nach gar nicht viel Raum und Aufmerksamkeit beanspruchen. Aber gerade dort, wo sonst alles ähnlich und übersichtlich scheint, führt das Besondere zu Aufregung.

Beide Fremdheiten sind in Prenzlau eng miteinander verwoben, denn die hohe Luft Berlins wird für den erzwungenen Zuzug der Flüchtlinge verantwortlich gemacht. Und damit für einen äußeren Eingriff in das Gepräge der städtischen Gemeinschaft.

In Prenzlau sorgt das für großen Unmut. Er ist so groß, dass im Herbst 2023 eine außerordentliche Kreistagssitzung einberufen wird, auf der man sich heftig über die Errichtung eines zweiten Flüchtlingsheims in der Stadt streitet. Auf der Tagesordnung steht nüchtern, dass es um die »Unterbringung von leistungsberechtigten Geflüchteten« und die Umnutzung eines Prenzlauer Bürogebäudes »als vorläufige Aufnahmeeinrichtung mit Verteilfunktion« geht. In Wahrheit aber geht es um viel mehr: nämlich um die Gretchenfrage, wie direkt Demokratie wirken kann und sollte.

Am 27. September 2023 tritt um 14 Uhr in einem Plenarsaal mit hohen Spitzbogenfenstern das Uckermärker Regionalparlament zusammen. Der Versammlungsraum im Innenhof des ehemaligen Kasernengebäudes an der Karl-Marx-Straße 1 ist bis auf den letzten Platz besetzt. Wer zu spät kommt, muss stehen. Einer, der früh genug gekommen ist, um einen öffentlichkeitswirksamen Platz in der ersten Reihe der Besuchertribüne zu besetzen, ist der rechtsextreme Compact-Herausgeber Jürgen Elsässer. Im dunklen Anzug sitzt er da und genießt die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Dass er an diesem heiklen Sitzungstag nach Prenzlau gekommen ist, zeugt von seinem Gespür für populistische Gelegenheiten.

Unter für Prenzlauer Verhältnisse außerordentlichem öffentlichen Interesse wird die 28. Sitzung der 6. Wahlperiode des Uckermärker Kreistags eröffnet.

Vor dem Eingang übertragen Lautsprecher das Geschehen nach draußen in den Innenhof. Einige Dutzend Bürger haben sich hier versammelt, um die Entscheidung des Kreistags über das Flüchtlingsheim mitanzuhören. Unwirsche Gestalten sind das, Männer mit kurzgeschorenen Haaren und Wikingerketten um den Hals. Einer trägt seine Aussichtslosigkeit auf der breiten T-Shirt-Brust (»Game Over«), ein anderer hat sich seine politischen Forderungen auf den Hemdrücken gedruckt (»Flüchtlingsheim nein, Öl aus Russland ja«). Aber es sind auch junge Männer im schwarzen Anzug gekommen, die falten ihre Hände, als würden sie beten. Und wer weiß, vielleicht tun sie ja genau das – warum auch sollten Fremdenfeinde nicht an Gott glauben?

Die wenigen Frauen, die gekommen sind, sitzen rauchend auf den hinteren Bänken in der Sonne. Aus der Entfernung beobachten einige Streifenpolizisten das Geschehen. Eine Stimmung wie vor der Zeugnisvergabe. Die Schüler warten ungeduldig auf das Urteil ihrer Lehrer. Nur, dass sie in diesem Fall dazu bereit scheinen, das Ordnungsprinzip von Autorität und Gehorsam durchaus infrage zu stellen.

15 700 Unterschriften gegen die Errichtung eines zweiten Flüchtlingsheims in Prenzlau hat die Uckermärker AfD im Vorfeld dieser Kreistagssitzung gesammelt. Knapp 16 000 Stimmen in einer 19 000 Einwohner Stadt – das ist beachtlich, auch wenn längst nicht alle Unterschriften aus Prenzlau selbst, sondern eine Vielzahl auch aus den umliegenden Dörfern stammen und am Ende nur 13 030 von ihnen gültig sind. Auch die Prenzlauer Stadtverordneten und ihre Verwaltungsspitze, namentlich der parteilose Bürgermeister Hendrik Sommer, sind entschieden gegen ein neues Flüchtlingsheim. Der Konflikt lautet: Stadt gegen Landkreis.

Die Frage des Bürgerbegehrens ist suggestiv gestellt: »Sind Sie dagegen, dass infolge des Beschlusses des Kreistages Uckermark vom 18.04.2023 in der Brüssower Allee 91 in 17291 Prenzlau eine zusätzliche Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende und Flüchtlinge errichtet und betrieben wird?« Das Ja liegt nahe, vor allem, weil genau am anderen Ende der Stadt an der Berliner Straße 28 gegenüber der Grabow-Schule auf einem ehemaligen Kasernengelände schon seit den Neunzigerjahren eine Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete existiert. Interessanterweise gab es in Prenzlau schon damals hitzige Debatten um den Standort, der ursprünglich im Stadtzentrum vorgesehen war, aber nach zahlreichen Bürgerprotesten an den Stadtrand verlegt wurde.

Kurz vor dem Ortsausgangsschild befindet sich jetzt auch der designierte Standort für das zweite Heim: gelegen im Gewerbegebiet Ost an der Brüssower Allee, in jenem limbohaften Bereich zwischen Stadtrand und Landstraße, noch nicht ganz außerhalb, aber auch längst nicht mehr innerhalb dessen, was einem bei dem Begriff »Stadt« vor Augen steht. Es ist, als ob man die institutionalisierte Form der Mitmenschlichkeit von vornherein aus dem Gesichtsfeld der Stadtbevölkerung verbannen wollte, als ob man Prenzlau die Rolle des schützenden Exilortes nicht recht zutrauen würde.

Wobei der Standort auch etwas mit Paragrafen zu tun hat, genauer mit § 246 des Bundesbaugesetzbuchs. Er legt in Verbindung mit einer vom Bundestag 2022 getroffenen Sonderregelung die »erleichterte Unterbringung von Geflüchteten in Gewerbegebieten« fest.

Die Listen des Bürgerbegehrens gegen das Flüchtlingsheim liegen an verschiedenen Orten aus, an Tankstellen, in Sonnenstudios und Fußpflegepraxen, genau an jenen Ankerpunkten des Alltags also, die der Spielleiter in Thornton Wilders Theaterstück stolz präsentiert: Man kann gegen das Prenzlauer Flüchtlingsheim im Friseursalon oder im Tattoostudio, in der Hoffleischerei, in der Feldküche oder in der Fahrschule unterschreiben. Durch das Auslegen der Listen auf ihren Verkaufstresen und in ihren Wartezimmern identifizieren sich die Orte dabei nicht nur mit dem Anliegen der AfD, sondern werden dadurch implizit auch zu ständigen Vertretungen der Partei. Zu dezentralen Abzweigen vom Gesinnungskorridor, die der AfD eine Aura von Bodenständigkeit und Volksnähe verleihen.

Auch in meiner Autowerkstatt liegt die Unterschriftenliste gegen das Flüchtlingsheim aus. Der Kfz-Mechaniker, ein wortkarger Mann Mitte fünfzig, nimmt Tag für Tag die Autos der Anwohner zur Reparatur entgegen. Nur selten vertröstet er einen Kunden auf die nächste Woche, im Regelfall kann man sein Auto gleich nach dem Anruf vorbeibringen und am Folgetag wieder abholen. Während man in Berlin oder anderen Großstädten inzwischen Monate auf einen Werkstatt-Termin warten muss, hat man sich hier, im Osten, auch in Zeiten des Kapitalismus noch etwas von der Mentalität unmittelbarer Nachbarschaftshilfe bewahrt. Die Nähe als kleine Geste des Widerstands – zumindest in meiner Autowerkstatt. Dort, wo jetzt die Unterschriftenliste gegen das Prenzlauer Flüchtlingsheim und ein Aufkleber für den Erhalt des Schwedter PCK-Werks nebeneinander liegen. Das Dafür und das Dagegen, das Ja und das Nein in offener Eindeutigkeit Seite an Seite. Das ist an sich schon ein Bruch mit dem großstädtischen Habitus des Abwägens und Aushandelns, dem sich in Widersprüchen und Ambivalenzen gefallenden Modus des spätmodernen Politikbewusstseins.

Die Frage ist nur: was anfangen mit der Klarheit? Mit Blick auf die komplizierten juristischen Rahmenbedingungen einer kommunalen Verwaltung, die immer dann lästig erscheinen, wenn man etwas schnell durchsetzen will, auf die man sich aber blind verlässt, wenn man selbst vor Gericht steht oder eine Anklage erhebt.

Wohin also mit den 13 030 Stimmen? Mit dem eindeutigen Widerwillen der Stadtbevölkerung gegen die Aufnahme weiterer Flüchtlinge? Genau darum geht es bei dieser Kreistagssitzung.

Punkt 6 auf der Tagesordnung läutet die Einwohnerfragestunde ein. Zwei junge Männer springen auf, der eine trägt ein silbernes Kruzifix um den Hals, der andere hat die blonden Haare zum Scheitel gekämmt wie ein strebsamer Schuljunge aus den Fünfzigerjahren. Der Mann mit dem Kruzifix ist Klaus-Martin Bastert. Noch ist er bloßer Schriftführer des AfD-Kreisverbandes Uckermark. Aber bald schon wird er zum Fraktionsführer der AfD im Kreistag aufsteigen und wichtige Funktionen in der Prenzlauer Kommunalpolitik wahrnehmen, unter anderem dem Aufsichtsrat des größten städtischen Wohnungsunternehmens vorstehen und als stellvertretender Vorsitzender den Hauptausschuss der Stadtverordnetenversammlung leiten. Aus der Gegend kommt er nicht. Er ist – wie so manch anderer, der sich in dieser Partei für die Belange der Ostdeutschen starkmacht – ein Zugezogener aus Westdeutschland. Das merkt man an seinem Zungenschlag, an seiner Körperhaltung und vielleicht auch an seinem Kruzifix. Etwas Starres, Abwehrbereites geht von ihm aus. So, als rechne er jeden Moment damit, sich für seinen Zuzug rechtfertigen zu müssen.

Sein Sitznachbar dagegen wirkt entspannt, fast frohgemut: Felix Teichner,...


Strauß, Simon
Simon Strauß, geboren 1988, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte in Basel, Poitiers und Cambridge. Er ist Mitgründer der Gruppe 'Arbeit an Europa'. 2017 promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er lebt in Berlin und der Uckermark, ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschienen von ihm Sieben Nächte (2017),  Römische Tage (2019) und Zu Zweit (2023).

Simon Strauß, geboren 1988, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte in Basel, Poitiers und Cambridge. Er ist Mitgründer der Gruppe 'Arbeit an Europa'. 2017 promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er lebt in Berlin und der Uckermark, ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschienen von ihm Sieben Nächte (2017), Römische Tage (2019) und Zu Zweit (2023).



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