Strauß Niemand anderes
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25115-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-446-25115-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die ineinander verschränkten Geschichten und Überlegungen beschreiben die Menschen einer Gesellschaft, die 'unablässig ihre Wehwehchen besprechen muß, jedenfalls solange ihr größeres Leid erspart bleibt und sie selbst nichts Größeres vorhat'. Das Buch ist gegen die überall spürbar werdende Erschöpfung geschrieben, menschliche Sitten und Unsitten überhaupt noch wahrzunehmen, gegen 'unsere tiefe Profanie'. Es ist aber auch zugleich ein Versuch, der Gleichgültigkeit zu entgehen.
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Monotropie
Sie wollte eben vorbeigehen. Nur zufällig, weil er nicht schnell genug wegsah, trafen sich ihre Blicke und zerrissen die Schleier des feinen Desinteresses, der zivilen Bemerkensscheu, die zwei fremde Menschen umgibt. ›Was ist? Wie siehst du mich an?‹ Ein Zögern nur, und das Gesicht verliert seine geschäftige Benommenheit, seine eiligen, verschlossenen Absichten. Es öffnet sich, es entblößt seine Gegenwart, seinen wehrlosen Ernst und die dunkle Frage, deren Antwort nur eine lange Geschichte geben kann, das Fragen-Entsetzen: ›Wer bist du?‹ Die Tiefenfrage aber erkundigt nicht den anderen. Sie richtet sich ungläubig an etwas Offenbares. Etwas in uns erkennt blitzschnell, ohne zu begreifen, weiß ohne Erfahrung. Man ist sich absolut sicher, doch nirgends sonst könnte Sicherheit beunruhigender sein. Wie der Heilkundige im Auge die verborgenen Organe inspiziert, erschaut der ursprüngliche Blick das ganze Mögliche zwischen zwei Menschen. Dabei hatte er sie schon einige Zeit angesehen und sich zu ihr in ein Verhältnis gesetzt, solange sie ihn nicht bemerkte. Wie empfindlich wünschte er, sie zu umgeben, sie zu genießen, ohne von ihr gesehen, angesprochen, ja sogar berührt zu werden! Die schöne Lethargie, in welcher ihre Geschichte rund um ihren Körper ruhte, dahindämmerte, sollte und durfte auf keinen Fall gestört werden. Diese Unerwecktheit, dieser öffentliche Schlafzustand ihrer Identität, ihrer Probleme und Verhältnisse war nämlich ihre sinnlichste Anmutung, und dies zur Schau gestellte Desinteresse, aus dem Schlaf des Ichs geweckt zu werden, war zugleich ihr heftigstes Signal. Eine solche vielleicht unbewußte, vielleicht höchst durchtriebene Aufzäumung von Passivität konnte ihn weitaus stärker fesseln als irgendein gefälliges Körperbewußtsein, als die üblichen Galanterien des Selbstgefühls beim fließenden Gebrauch von Händen, Haaren und Hüfte. ›Ich will ja nur wissen, wie sie fremd ganz aus der Nähe ist.‹ Die Sphäre der Intimität, wenn die Blicke jenes Betteln um Gewißheit bekommen, wäre schon nicht mehr die seine gewesen. Sie hingegen dachte immer: Derjenige, der hinter dir für eine Sekunde sich umblickt, der war’s. Nicht der ist es, der sich dir gegenüber lang und breit niederläßt. Nur in der Sekunde des Verpassens erscheint der Einzige. Sie wollte schon vorbeisehen. Jetzt verschwanden sie voreinander in der Erscheinung. Groß und furchtsam sahen sie sich, dunkel und nah, kaltblütig und fromm, jetzt und vorzeiten, scheu und habsüchtig, fremd und urbekannt. Verläßlich und wild, flehend-befehlend, und das eine als das andere. Dann fallen die Worte. Und mit ihnen wir. Der Blick enthält noch in Spuren ›Hintergrundstrahlung‹ von Urzeit und Fülle. Mit den Worten beginnt die Vertreibungsgeschichte. Die Fremde, die Frau in der Tür, die mit ernstem, fast erbostem, nur halb aufgerichtetem Auge über die Schwelle tritt, den Blick unter der Augenhöhe des Mannes anhaltend, der ihr die Tür öffnet, unter dem Meeresspiegel des Anblicks, wie der Fernsehsprecher, der unter der Kamera Text abliest und unser Auge um quälende Haaresbreite verfehlt – an ihr, der Fremden, spricht zuerst der kurzfristig gebeugte Stolz, und mit leicht gesenktem Kopf sagt sie nichts anderes als: eigentlich werf ich ihn in den Nacken! Da ich die Schwelle überwinden muß, und du mir den Eintritt gewährst, ist schon zuviel Macht vorgesprungen, als daß es noch ein leichtes sein könnte zwischen uns. Deine Stellung als jemand, der mich empfängt, beugt mich für einen Augenblick. Dieser flüchtige Akt einer Erlaubnis wird um so sicherer zu meinem Sieg führen. Du empfängst mich nur ein einziges Mal! Der erste Blick ist hier einer, der nicht sieht, sondern sich zeigt. Die Welt vor dem Lächeln, dem Gruß. Alle Hoffnung liegt darin verschlungen mit bitterer Erfahrung. Wir waren bereits, sagt der gedrungene Aufblick, ich komme zurück. Jede ernste Geschichte geht hervor aus dem Nu ihres Durchlittenseins. Sie sitzt da mit leicht geöffneten Knien unter dem zimtfarbenen Sommerkattun, beißt auf den Rücken des Zeigefingers. Sie sieht dich, weil du ihr Fremder bist, ingrimmig an. Mit dem Ingrimm und der Kälte des Begehrens. Wie du auch handeln wirst, sie handelt von nun an. Dies jedenfalls behauptet das Auge. Aber es erzählt ja die ganze Geschichte, die kommen wird. Daher schimmert in seiner Kühle auch Ende, Kränkung und Schmerz. Ach, Blitze des Gewahrens! Der ›wahren‹ Person? Schleier trägt sie nicht über oder um sich, sondern durch und durch. Auch Haut und Herz sind Schleier. Was wir gewahren, ist nichts Bloßes, keine Rohwahrheit. Die Enthüllung selbst ist nur eine Illusion unter anderen. Der Blitz wirft ein geisterhaftes Licht über das Land oder über ein Gesicht. Und doch ist es allein der andere, der uns erhält. Mögen wir ihn noch so sehr mit eigenen Einbildungen und Illusionen ausstopfen oder umgarnen, gerade indem wir durch ihn so viele Reflexe von uns selbst empfangen, erfahren wir doch, daß der andere zuletzt ein Unantastbarer, ein Unerweichlicher ist. Wir haben sein absolutes Gegenüber, seine unbezweifelbare Anwesenheit zu ertragen oder dürfen sie erwarten, ersehnen, ihrer gewiß sein. Um seine Ausschließlichkeit zu würdigen, nehmen wir ihm sogar die Genus-Differenz und nennen ihn oder sie: der andere. Wir abstrahieren in der Philosophie wie in der Liebe den Nächsten zum Einzigen. Sein ebenso verläßliches wie unerfindliches Gegenüber erzeugt lebenslang den Effekt der Monotropie, die eine kurze Phase des frühkindlichen Verhaltens bestimmte: das natürliche Verlangen des Säuglings, sich nur an und mit Hilfe einer Person zu orientieren, nur den einen anderen zu erkennen und wiederzuerkennen, gleich ob er ein väterliches oder ein mütterliches Gesicht hat. Der andere bleibt für uns die erträgliche Einübung in die schroffe, ichlose Materie der übrigen Welt. Wahrscheinlich gilt in der Liebesbegegnung die befriedigte Eigenliebe viel weniger als die Wiederaufwärmung jenes Blicks, aus dem man sein Urvertrauen gewann. Der andere ist da, unbezweifelbar gegenüber. Mag sein Eintritt in die Geschichte auch mit der Gewalt einer Epiphanie geschehen (Lévinas), so macht ihn doch erst sein Verweilen in ihr verehrungswürdig. Erst dann, und nur in der Liebe erfahren wir, was der andere auch ist: der unterste Ahnungsträger des ›Ganz Anderen‹, der kleinste Unerfindliche aus jener Sphäre, in welcher er sein Geschlecht ins Neutrum verliert, wie auch seinen Namen und sein Gesicht. »Alle meine Überzeugungen«, schreibt er, »liegen zerschollen auf dem Grund der Monotropie. Ich sehe nur die Zugehörigkeit des einen zum anderen; oder das, was sie unterbricht, stört, gefährdet. Alles: Sehnsucht und Erinnerung, Ablehnung und Befürwortung, Leid und Glück ergeben sich aus der Erfüllung oder den Mängeln solcher Verzweiung. Deshalb heilige und übertreibe ich das Paar und hasse seine Deformation wie eine Blasphemie, ganz besonders aber die grundsätzliche Entstellung, die ihm durch die beleidigende und grausame Tatsache zugefügt wird, daß es für die meisten Menschen viel mehr als nur einen anderen gibt auf der Welt. Für mich aber gibt es nur den anderen. Er ist mir so ursprünglich und radikal vorgesetzt wie dem großen Rousseau das gesellschaftslose Individuum. Auf der Spitze meines Ideals dreht sich freilich ein verneinendes Absolutum: die Unfruchtbarkeit von Adam und Eva. Meine Religion reicht nur zurück bis zum Augenblick der Erkenntnis. Ihr Anfang ist der Sündenfall. Mein Glaube beginnt mit der Hintergehung Gottes. Nur ohne Eden bin dir begegnet. Nur im Fallen, nur in der Vertreibung habe ich jene Umklammerung erfahren, die mir jeden Sinn für eine höhere, letzte Verheißung geraubt hat. Nur ohne Eden werde ich dich wiedersehen. Ich weiß wohl, daß dies eine unhaltbare und absurde Religion ist, gewiß sogar eine frevelhafte Abirrung, die darauf hinausläuft, den Sündenfall zu verherrlichen, da aus ihm erst, aus dem unaufhörlichen Sturz der Lichtfunke des Paars entsprang. Aber ich spüre doch nur zu deutlich, daß mich Glück und Fluch mit einem einzigen Bannstrahl getroffen haben.« Dieser Mann ist ein Riese, ein Oger der Intimität. Er bannt und verschlingt sein Gegenüber. Er wird indessen zum Zwerg, wenn er sprechen soll, ohne jemanden mit beiden Augen fixieren zu können. Er ist ein Meister der Zwiesprache, doch verliert er den Faden, verwirrt sich, verstummt, sobald mehr als ein Augenpaar auf ihn gerichtet ist. Er ist unfähig zum Monolog wie zur Conference. Nichts lähmt ihn mehr als ein Gespräch zu zweien, in dem widertönt, was allenthalben den Äther erfüllt. Sprache als soziales Geräusch. Öffentlichkeit auf den Lippen des Einzigen tut weh. Es beängstigt ihn die Magie, der unbeschränkte Einfluß und Unterstrom der öffentlichen Subjektivität, der konformen Befindlichkeiten, die noch der Einsamste von sich gibt, eine Sprache, mit der er sich um so besser ›identifizieren‹ kann, als sie ihn sicher davor bewahrt, zu erfahren, wer er ist. Nun ist es noch leicht, dem allgemeinen Gewäsch zu mißtrauen, sehr schwer aber, Vertrauen in die eigene Rede zu finden. Der Intimist sucht solch ein Vertrauen wiederherzustellen. Er ist davon überzeugt, daß die Sprache der allverbundenen Öffentlichkeit es verhindert, den anderen zu erkennen oder wiederzufinden. Da die Menschen jedoch kaum ihre Neigung, sich zu zweit zu begegnen und einzurichten, ändern werden, bleibt hier eine Menge zu tun. »Ohne Du, aber auch ohne Ich marschieren die Gebündelten, die von links, die das Gedächtnis abschaffen wollen, und die von rechts, die es regulieren wollen,...