Strauß | Oniritti Höhlenbilder | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Strauß Oniritti Höhlenbilder


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25539-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-446-25539-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Oben die helle Welt, unten das Dunkel: Schon auf dem Weg durch die Stadt gibt es überall Höhleneingänge, auf dem Weg der Liebe, auf dem Weg der Gerechtigkeit, auf dem Weg des Spiels. Wer lebt, der lebt mit Bildern, mit Geschichten, die sich wieder aus Bildern zusammensetzen. Mann und Frau ein Leben lang auf der Suche nach sich selbst. Die Bilder, die Botho Strauß entwirft, die Szenen die er erzählt, sind Graffiti aus der Tiefe des Traums. Und wie im Traum erkennt der Leser in dem, was so rätselhaft erscheint, ganz plötzlich sein eigenes Gesicht. Botho Strauß erkundet unsere gegenwärtige und alte Bilderwelt, entziffert die Schrift auf den Höhlenwänden der Nacht.

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Oniritti Ipse mihi theatrum
Bin mir selbst ’ne volle Bühne … Zum Abschiedsfest führte ein langer leerer Saal. Von Erinnerung gebeugt, von Neugier gerafft, von Schmerzen steif liefen vereinzelte Gäste immer in dieselbe Richtung. Selten waren sie zu zweit, und wenn, dann traute sie Abstand, vermählte sie Entfernung, war Zwischenraum ihr Band. Das Haar vom Kopftuch verhüllt, huschte eine Frau durch den Saal. Später, um Jahre schien’s, schlenderte, vor Verlegenheit pfeifend, ein kleiner Mann hinter ihr her. Sie strebten gleichermaßen in den Hintergrund, angezogen vom Licht eines feierlichen Verschwindens. Dort hinten mußte es sein, wo Rauch und Lichter zitterten, wo das Fest schnell und schneller kreiste, wo das Wirbelauge abfließender Tage dem des Zyklopen glich und die vielen Gäste – einzeln, immer einzeln – den Fängen ihrer Zeit entriß. Doch fühlten die vom Wirbel Gezwängten und Gedrängten sich im letzten Augenblick begnadigt, von der Vision erfüllt, hinauszugehen, in die Höhe zu gelangen, um dort oben im hellen Tag zu verscheinen, sacht verschienen zu sein, in Luft gelöst, entrückt und aerifiziert auf dem Scheitel ihrer Stunden. In Wahrheit wurden sie im selben Augenblick abwärts gesaugt und in den Abyssos geschleudert. Denn dies war ein Theater, auf dem es nur Abgänge gab, alle Wege zu Abgängen wurden und kein Auftritt mehr erfolgte. Die Bühne war ein Raum, den man betrat, um über kurz oder lang im Bühnenhintergrund für immer zu verschwinden. Die gewechselten Worte erfüllten nur den Zweck, darin versteckt einen bestimmten Ruf zu vernehmen. So kam es zu den stillen Figuren, den Personenbegleitern, die jemanden auf einem Lichterfest diskret beiseite nahmen, eine Nachricht flüsterten und nach hinten führten; die sich auch dem heftig Handelnden, dem inbrünstig bekennenden Menschen bescheiden zugesellten, ihn durch einfaches höfliches Beistehen zum Einhalt brachten, zum Schweigen, zur Besinnung, bis er ihnen ohne Widerstreben folgte in den Hintergrund, an den Ort höchster Verborgenheit. Fort von den Spielgefährten der Bühne, von der Bühne selbst, ins Verschwinden eskortiert. Wie ein erlahmter Stürmer, den sein Trainer vom Platz winkt und austauscht, so traten sie ab. Langsame Überquerung eines alten Schauplatzes. Zwei Frauen im schwarzen Gewand und sehr weißhäutig. Fester Arm der einen umschlingt schlanke Taille der anderen. Vorsichtshalber. Um sie notfalls sofort zu packen, aufzuhalten, falls sie sich plötzlich wieder umdreht und, unterwühlt von Kindheit, Pferden, erster Liebe, heftig zurücklaufen will. Deshalb war es Sorge der einen, die Freundin um die Hüfte zu fassen und vorbeugend zurückzuhalten. Lautlos auflachend gab sie ihr einen Hauchkuß auf die weiße Wange beim ersten Anzeichen von Kopfwenden. Doch einige Monate später machten ihr Schwangerschaft und Dehnung es beschwerlich, die immer noch zurückstrebende Freundin am Ausreißen zu hindern. Auf diesem Schauplatz so vieler Jahre! Inzwischen kindtragende Frau, gewölbter Leib unter dem schwarzen Gewand, sich voranschiebend schwerfällig. Ohne das lautlose Auflachen verloren zu haben. Die Schlankgebliebene aber, die schwächere Wache der Schwangeren nutzend, dreht sich plötzlich – ach, kein Halten mehr! –, entwindet sich dem gürtenden Arm der Begleiterin und will endlich zurück. Zurück! Nur endlich zurück! Sie öffnet ihre schwarze Bluse, sie legt ihre weißen Brüste aus und zeigt sie nach rückwärts unter diesiger Sonne. »Wie schön du bist!« ruft es schwach aus altem Hintergrund. »Ach, welch ein Jammer für mich. Sieh nur, nichts bin ich mehr für dich. Nur das Ausschlittern einer Curling-Scheibe auf sonniger Eisbahn bin ich. Ausgeschlittert in meiner Ecke, bleib ich aus dem Spiel. Ach, welch ein Nimmermehr für dich und mich!« Und die Brüstevortragende, Zurückstrebende schreit in den alten Hintergrund, wieder einmal, doch ihr Zorn ist nun ganz frisch: »Was? Er will mich nicht? Mich?! Er? Nicht?« Das ist nun der Augenblick, da die Tragende sich vor der Entsetzten, Zurückrufenden aufbaut, sich ihr entgegenstellt, so daß die Scheltende mit weiterem heftigen Zurück-Voran den gesegneten Leib hätte fortstoßen müssen oder niederwerfen auf das Pflaster des alten Schauplatzes, wovor sie natürliche Hemmung bewahrte. Ja, dies war der Schlußstrich, und der Schlußstrich war lang wie ein Kerosinstreifen am lauen Abendhimmel, und die weiße Haut der Zornentflammten lag abgestreift auf dem Pflaster, verschrumpelt und leer wie das Trikot einer ausgeschlüpften Ballerina. Immer auf der Suche nach dem großen leeren Platz, dem ganz und gar entblößten. La calma es infinita en la desierta plaza. (Machado) Aber auch die Verlorenheit. Simultanfeld mit je geliebten Figuren. Leben in der Draufsicht, Kran-Kamera, bewegte Gleichzeitigkeit. Nicht: Wo kommst du her, wo gehst du hin? Sondern: Wie irrst du umher zwischen geliebten Figuren? So lange schon und immer wieder. Nicht zu sprechen vom Alter, wo die Dauer beginnt, longitudo erwacht und die Länge der Nacht zunimmt. Und die Länge der Liebe und die Länge der Blicke – in der Verwunderung. Aber auch unbarmherzig sich das Kleinliche enthüllt, das man hinter sich brachte und was einmal schwerfiel. Er dachte: Der Schritt ist vollzogen. Ich führe sie, die mir ausriß, von der Haltestelle am Arm zum Auto. Und er half ihr beim Einsteigen und hatte im Sinn die Fahrt nach Hause, im Sinn ihre Küche, im Sinn: Der Schritt ist vollzogen. Er sagte sich: Auch dies ist ein winziges Gewebeteil unserer gemeinsamen Zeit. Und mahnte sich: schlecht. Was hat Zeit mit Gewebe zu tun? Sie ist weder ein Textil noch zellbildende Schicht. Er sah »den Schritt« von sehr weit oben, wie von einer Kran-Kamera hoch aus dem weißen Himmel festgehalten. Er sagte sich: Die meisten Fehler, die wir beim Auffassen von Welt, von Leben, von uns selbst begehen, beruhen auf falschen Metaphern, falschen Vergleichen, falschem bildlichen Denken. Gleichzeitig empfand er deutlich: den Schritt als etwas Festgehaltenes, Isoliertes in der … war das noch Zeit? Oder war es nicht vielmehr der General-Schau-Platz, unermeßlicher, von hoch oben gesehen, von einem finalen Auge überblickt, vor dem sich das Nacheinander und das Weitläufige unzähliger Schritte auf einem einzigen flachen Platz in Gleichzeitigkeit versammelte. Und es waren ihrer beider abertausendmal auf den Erdboden geklopften Schritte, ihr Eigentum an Schritten und Rückwirkungen jedes Schrittes auf den nächsten oder den des anderen…Oh es gab ja in dieser Totalen nichts Festgehaltenes … es wimmelte von Schritten. Dort, wo es wimmelt von Schritten, ist das die Zeit? Aber schon jetzt, auf dem Simultanschauplatz, finden sich die Schritte in versteinerter Form: Syzygielithe, fossile Paartrittsiegel. Matronen, untergehakt, zwei mollige Figuren mit braunen großen Brillen, die Strickjacken über die Schultern gehängt, flanieren am warmen Abend über den Schau-Platz, Großmütter, die hier ebenso gingen, abends zu zweit, als sie noch junge Mädchen waren. Nur daß sie jetzt sich sagen: um uns bildete sich kein Zeitalter, nackt Erinnernde sind wir, ohne das Kleid einer Epoche stehen wir im Freien der wechselnden Zeit. Dort vergessen, hier wiederholen wir was, aber es bilden sich uns von Vergangenheit keine Begriffe. Keine Haltestellen halten uns auf. Ja, wir geraten bei allem Verstehen sofort und unweigerlich in einen Verstehenswust. Wir sind dazu verurteilt, jede Art von Begriff zu verfehlen. Wir verstehen blind drauflos. Wo ein Begriff uns formend hätte bremsen können, stieben die Gedanken wie eine Schar scheuender Pferde auseinander. Falsche Zusammenhänge, eine Welt voll falscher Zusammenhänge. Erst umgarnen sie uns, dann verstricken sie uns, schließlich erdrosseln sie uns! Mit diesem Schädel, der eigentlich viel Nützliches zu leisten imstande wäre, könnten wir … sagen wir … ach, es hält uns ja niemand auf. Man ist ja schon glücklich, daß man gesundes Atmen noch sein eigen nennt. Obwohl es auch kein Zeichen in die Zeit setzt. Es kommt der langsame Mann, bleich und töricht, in alten Hosen und mitten im Sommer trägt er eine Pelzmütze auf dem Kopf. Er fällt auf seinen Wegen um. Ich bin krank, sagt er zu jedem, der ihm aufhilft, die Ärzte wissen nicht, was es ist. Am liebsten liefe ich über zu denen, die unbändig vor Freude, vor Schwärmen einer dem anderen in die Arme fallen, von einem Freund zum nächsten eilen, da jeder Mensch ihnen ein Festgenosse ist. Wenn also heute, jetzt gerade, einer vielleicht in Valencia mit Brüdern, Schwägern, Kindern und Eltern… das seh ich, das fehlt mir, sonntags mit Leuten und mit gut durchblutetem, leichtem Herzen an einem langen Tisch sitzen und mit den Taflern übermütig sein, das fehlt und zehrt an mir. Jedoch: Wär ich dabei, immer würd mich einer auf gewisse Schwächen meiner Gesundheit ansprechen! Wie beneide ich die, die eitle Helligkeit verströmen und jedes Gesicht beleuchten, das ihnen zu Gesicht kommt. Aber, langsam! Jeder lebende Mensch, auch der gesündeste, amüsiert einen Ahnen, der im Jenseits gerade nichts mit sich anzufangen weiß. Das war schon immer so. Bei Indianern und den alten Isländern. Das Haus verheimlicht und versteckt der Straße einen ihrer anspruchsvollsten Passanten. Er habe in den Straßen und Seitenstraßen nichts mehr so recht verstanden. In einer gewissen Straßenbescheidenheit, Straßenunterlegenheit sei er umhergelaufen. Ganz unten zu ebener Erde wohnte er im Stadthaus. Über ihm Stockwerke mit den großen Scheiben, verschmutztes kleines Fenster dagegen bei ihm unten. Vorm Fenster...


Strauß, Botho
Botho Strauß, 1944 in Naumburg/Saale geboren, lebt in der Uckermark. Bei Hanser erschienen neben einer vierbändigen Werkausgabe seiner Stücke zuletzt die Prosabände Mikado (2006), Die Unbeholfenen (Bewußtseinsnovelle, 2007), Vom Aufenthalt (2009), Sie/Er (Erzählungen, 2012), Der Aufstand gegen die sekundäre Welt (Aufsätze, 2012), Die Fabeln von der Begegnung (2013), Kongress (Die Kette der Demütigungen, 2013), Allein mit allen (Gedankenbuch, 2014), Herkunft (2014) und Oniritti Höhlenbilder (2016).



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