E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Strobel Der Trakt
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-400654-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Psychothriller
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-10-400654-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Arno Strobel liebt Grenzerfahrungen und teilt sie gern mit seinen Leserinnen und Lesern. Deshalb sind seine Thriller wie spannende Entdeckungsreisen zu den dunklen Winkeln der menschlichen Seele und machen auch vor den größten Urängsten nicht Halt. Seine Themen spürt er dabei meist im Alltag auf und erst, wenn ihn eine Idee nicht mehr loslässt und er den Hintergründen sofort mit Hilfe seines Netzwerks aus Experten auf den Grund gehen will, weiß er, dass der Grundstein für seinen nächsten Roman gelegt ist. Alle seine bisherigen Thriller waren Bestseller. Arno Strobel lebt als freier Autor in der Nähe von Trier.
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1
Als Sibylle sah, wie ihr Junge auf den Beifahrersitz des fremden Autos gezogen wurde, erstarrte sie. Einen Moment lang dachte sie, ihr Herz würde aufhören zu schlagen. Sie hörte noch den erstickten Schrei, den Lukas ausstieß, bevor ein tätowierter Arm aus dem Inneren des Wagens auftauchte und die Tür mit einem Ruck zuzog. Sibylle registrierte, dass die blaue Tätowierung über den gesamten Unterarm bis auf den Handrücken reichte. Als der Wagen Sekunden später mit quietschenden Reifen davonschoss, fiel die Starre endlich von ihr ab, und schreiend rannte sie los.
Das Heck des Wagens wurde schnell kleiner. Ihre Lunge brannte, sie sog japsend die Luft ein und hatte doch das Gefühl, den Sauerstoff nicht schnell genug in den Brustraum pumpen zu können. Das Bild der Straße vor ihr bekam unscharfe Schlieren und verschwamm schließlich zu einem konturlosen Durcheinander. Mit einer schnellen Bewegung wischte sie sich mit dem Unterarm über die Augen und konzentrierte sich ganz auf den stampfenden Rhythmus ihrer Beine. Sekunden später war das Fahrzeug hinter einer Straßenbiegung verschwunden, und mit ihm ihr Kind.
»Lukas …« Sibylle blieb stehen. Sie spürte ein unangenehmes Ziehen an verschiedenen Stellen des Kopfes und der Brust. Das Brennen in ihren Lungen hatte aufgehört, und auch der Schmerz in den Beinen war verschwunden.
Alles war mit einem Mal seltsam irreal. Ihre Wahrnehmung wurde wie an einem langen, bis zum Äußersten gedehnten Gummiband weggerissen von der fürchterlichen Szene und trudelte für einen kurzen Moment durch die Halbwelt zwischen Traum und Wirklichkeit.
Irritiert öffnete Sibylle die Augen und schüttelte den Kopf, um ihre erstarrten Gedanken wieder in Gang zu setzen. Sie lag in einem abgedunkelten Raum, der von einem grünen Lichtschimmer durchzogen wurde.
Ein Traum. Sie hatte nur geträumt, aber die Erleichterung darüber stellte sich nur zögernd ein, denn das dumpfe Gefühl der Angst hatte sie noch immer nicht ganz aus seinem brutalen Griff entlassen. Und sie wusste nicht, wo sie sich befand.
Sie drehte den Kopf zur Seite, ihr Blick fiel auf zwei Monitore, die neben dem Krankenhausbett, in dem sie lag, auf einem Gestell aufgebaut waren. Helle Punkte wanderten auf grünem Hintergrund nervös von links nach rechts und zogen dabei Schweife hinter sich her wie kleine Kometen. Aus jedem der Geräte wuchs seitlich ein Strang, der sich nach wenigen Zentimetern in unzählige dünne Kabel zerfaserte, die direkt neben ihrem Oberkörper unter der Bettdecke verschwanden. Sie hob den Kopf an und spürte wieder dieses Ziehen, von dem sie aufgewacht war. Vorsichtig tastete sie ihre Kopfhaut ab und stellte fest, dass einige der Kabel dort angebracht waren. Eine unsichtbare Hand legte sich um ihre Kehle und drückte zu. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie spürte, wie eine dumpfe Panik unter der Oberfläche ihres Bewusstseins zu brodeln begann, schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, gleichmäßig zu atmen, den Strom durch ihre Lungen gedanklich zu verfolgen, zu spüren, wie der Sauerstoff ihrem Körper Ruhe und Kraft gab.
Der Druck um ihren Hals lockerte sich ein wenig. Sie hoffte inständig, dass er zu Hause bei seinem Vater war, was immer mit ihr auch geschehen sein mochte.
Sie musste einen Unfall gehabt haben, das war die einzige Erklärung.
Vorsichtig richtete Sibylle sich auf, wobei eines der Kabel wie eine dünne, kalte Schlange unangenehm über die nackte Haut ihres Rückens huschte, dort, wo das Krankenhaushemd auseinanderklaffte. Mit einem Gefühl des Schauderns schlug sie das weiße Laken zurück. Ihre Beine waren nackt, Verletzungen waren keine zu erkennen. Sie bewegte die Zehen und die Füße, zog die Beine an und streckte sie wieder aus. Dann hob sie das Leinenhemd an und betrachtete ihre kleinen, nackten Brüste und die Saugnäpfe darunter, an denen vier der Kabel endeten. Auch hier – keine Verletzung. Der Slip, den sie trug, war blütenweiß. Nachdem sie schließlich mit den Fingerspitzen beider Hände vorsichtig ihr Gesicht abgetastet und auch dort nichts Ungewöhnliches festgestellt hatte, ließ sie sich langsam wieder auf das Kissen sinken.
Dieser furchtbare Traum fiel ihr wieder ein und jagte ihr augenblicklich einen heißen Strom durch den Körper. War es am Ende gar kein Traum gewesen? War sie vor Erschöpfung zusammengebrochen, nachdem sie dem Wagen nachgerannt war, in dem dieser Kerl mit der Tätowierung ihr Kind entführt hatte?
Sie riss die Augen auf. Binnen Sekunden legte sich ein Schweißfilm auf ihre Stirn. Die Panik, die kurz zuvor schon einmal im Anmarsch gewesen war, kehrte mit Riesenschritten zurück.
Sie musste sich zusammenreißen und sich an Einzelheiten erinnern. Aber die Bilder blieben bruchstückhaft, verwaschen. Und da war etwas anderes, das sich in ihrer Erinnerung einen Platz ganz vorne erkämpfen wollte.
Den Blick gegen die Decke gerichtet, auf die sich der grüne Schimmer der Monitore als phosphoreszierender Film gelegt hatte, versuchte sie sich darauf zu konzentrieren, was sie zuletzt getan hatte, bevor sie in diesem Zimmer aufgewacht war? sie spürte, dass die Erinnerung zum Greifen nah war, es hatte nichts mit Lukas zu tun.
Wieder schloss sie die Augen, und da endlich huschten erste Szenen an ihrem Inneren vorbei, schemenhaft noch und zu schnell, als dass sie sich an einer von ihnen festhalten konnte. Doch dann, ganz langsam, kristallisierten sich erkennbare Fragmente heraus und reihten sich zu einer Sequenz aneinander.
Sie blinzelte.
Sibylles Atem ging schneller, während sie krampfhaft versuchte, sich weiter zu erinnern. Sie hörte sich selbst aufstöhnen und riss die Augen wieder auf.
Was war in dem Park geschehen? War sie überfallen worden? Hatte man sie vielleicht sogar … Mit einer hastigen Bewegung tauchte ihre Hand unter die Bettdecke, strich über ihren flachen Bauch nach unten, dorthin, wo sie vielleicht Schmerzen haben musste, falls …
Es fühlte sich alles unversehrt an.
Sie zog ihre Hand zurück, spürte dabei aber einen stechenden Schmerz dort, wo das Laken über den Handrücken rieb. Sie hob die Hand und betrachtete den fast kreisrunden Bluterguss mit dem kleinen, dunklen Punkt in der Mitte, wo offenbar eine Infusion nicht sauber angelegt worden war.
Sie lag also ohne erkennbare Verletzungen in einem Krankenhaus und hatte offensichtlich an einer Infusion gehangen. Kein Mensch war weit und breit, den sie hätte fragen können, nicht einmal Johannes. Überhaupt – wenn sie überfallen worden war oder einen Unfall gehabt hatte –, wieso stand Hannes nicht besorgt an ihrem Bett, für den Fall, dass sie aufwa… –
Aber wo waren die Ärzte und Schwestern, die sich um kümmerten? Und wie spät mochte es eigentlich sein?
Die Klingel. An jedem Krankenhausbett gab es eine Klingel. Sie suchte über, hinter und neben sich nach einem Knopf oder etwas, das nach einer solchen Vorrichtung aussah. Sie fand nichts dergleichen und ließ sich in das Kissen zurücksinken.
Was war das für ein seltsames Krankenzimmer, in dem sie lag? Ohne Fenster und ohne eine Möglichkeit für den Patienten, sich bemerkbar zu machen?
dachte sie und stöhnte ungewollt laut auf. Die imaginäre Hand an ihrem Hals drückte wieder zu, und dieses Mal meinte sie es ernst. Die Luft, die Sibylle in kurzen, schnellen Zügen einsog, konnte nicht mehr bis in die Lungen vordringen. Einem Impuls folgend wollte sie aufspringen und sich alles vom Körper reißen, sich von allem Ballast befreien in der Hoffnung, dann wieder durchatmen zu können. Das Geräusch einer Tür, die geöffnet wurde, ließ sie erschrocken herumfahren. Auf der rechten Seite des Raumes zeichneten sich vor einer Lichtflut die dunklen Umrisse einer Gestalt ab. Es sah gespenstisch aus, wie ein Scherenschnitt, aber zumindest war sie nicht mehr alleine. Der Druck auf ihre Kehle wurde schwächer, das Gefühl des Erstickens ebbte ab.
»Sie sind wach, wie schön«, sagte eine dunkle, angenehme Männerstimme, während die schwarze Gestalt sich in Bewegung setzte. Zwei Sekunden später erkannte Sibylle mit klopfendem Herzen das schmale Gesicht eines etwa fünfzigjährigen Mannes unter einem vollen, schwarzen Haarschopf. Er lächelte sie an.
Die fast zierliche Gestalt, die nicht so recht zu der sonoren Stimme passen wollte, war in den weißen Kittel eines Arztes gehüllt, der mindestens zwei Nummern zu groß war. Die...




