E-Book, Deutsch, 512 Seiten
Sullivan Sommer in Maine
2. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12410-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | »Wenn Sie nur ein Buch in die Ferien mitnehmen, dann sollte es dieses sein!« Angela Wittmann, Brigitte
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-608-12410-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
J. Courtney Sullivan ist eine gefeierte Bestsellerautorin und Journalistin. Ihre Bücher wurden in über 17 Sprachen übersetzt und haben über eine Million Exemplare verkauft. J. Courtney Sullivan lebt mit ihrer Familie in Massachussetts.
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Alice
Alice beschloss, eine Pause vom Packen zu machen. Sie zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich in einem der Korbsessel zurück, die von der Meeresluft immer ein wenig feucht waren. Dann blickte sie sich im Zimmer um und sah die vielen Kartons, in denen sie die Familienhabseligkeiten verstaut hatte. Gläser, Salzstreuer und Bilderrahmen– alles sorgfältig verpackt. In jedem Zimmer standen ein paar Kisten, die noch vor der Ankunft der Kinder zum Goodwill-Sozialladen mussten. Sie hatten die Sommer von sechs Jahrzehnten hier verbracht, und Alice staunte, wie viel sich über die Jahre hinweg angesammelt hatte. Mit diesem Durcheinander wollte sie niemanden belasten, wenn sie einmal nicht mehr war.
Am Himmel hingen dicke Wolken. Bald würde es regnen. In Cape Neddick in Maine gewitterte es in diesem Mai fast jeden Nachmittag. Ihr war das egal. Sie ging sowieso nicht mehr zum Strand hinunter. Nach dem Mittagessen setzte sie sich normalerweise mit einem Glas Rotwein auf die Veranda, las stundenlang Romane, die ihr ihre Schwiegertochter Ann Marie im Winter geliehen hatte, und sah die Wellen gegen die Felsen schlagen, bis es Zeit war, das Abendessen vorzubereiten. Sie hatte nicht mehr das Bedürfnis, sich einen Badeanzug anzuziehen, ins Wasser zu springen und im Sand ihre Pediküre zu ruinieren. Stattdessen zog sie es vor, die Szenerie aus der Ferne zu beobachten und wie einen Geist durch sich hindurchziehen zu lassen.
Ihr Alltag in Cape Neddick folgte einer bestimmten Routine. Spätestens um sechs Uhr stand sie auf, um die anstehenden Haus- und Gartenarbeiten zu verrichten. Dann machte sie sich einen Tee und legte den Beutel auf ein Schälchen im Kühlschrank, um sich damit vor dem Mittagessen eine zweite Tasse zu brühen. Um Punkt neun Uhr dreißig stieg sie in den Wagen und fuhr zur Zehn-Uhr-Messe in St. Michael.
Die Gegend hatte sich in den vielen Jahren seit ihrem ersten Sommer in Maine sehr verändert. An der Küste waren riesige Häuser aus dem Boden geschossen, und in den Ortschaften gab es an jeder Ecke elegante Restaurants, Souvenir- und Feinkostläden. Die Fischer waren noch da, aber in den siebziger Jahren hatten sich viele auf den Tourismus umgestellt und boten jetzt Walbeobachtung, Vergnügungsfahrten mit Frühstücksbuffet und dergleichen an.
Aber manches war beim Alten geblieben. In Rubys Gemischtwarenladen und in der Apotheke gingen noch immer um sechs Uhr die Lichter aus. Alice ließ nach wie vor den Autoschlüssel stecken, und auch das Haus schloss sie nicht ab– das tat hier niemand. Der Strand war noch unberührt, und die großen, den Weg zur Kirche säumenden Kiefern sahen aus, als stünden sie dort seit Jahrhunderten.
Auch die Kirche war eine Konstante. St. Michael war eine altmodische steinerne Dorfkapelle mit rotsamtenen Kniebänken und Buntglasfenstern, deren Farben in der Morgensonne strahlten. Sie stand auf dem Hügel hinter der Shore Road, damit die Seefahrer ihr Kirchturmkreuz vom Meer aus sehen konnten.
Alices Platz war in der dritten Reihe links. Sie versuchte, sich die besten Teile von Pfarrer Donnellys Predigten für diejenigen Kinder oder Enkel zu merken, die sie besonders nötig hatten. Leider hörten sie ihr meistens gar nicht zu. Alice folgte den Predigten aufmerksam, sang die vertrauten Kirchenlieder mit und sprach Gebete, die sie seit ihrer Kindheit kannte.
Sie schloss die Augen und bat Gott um Dinge, um die sie ihn schon als Kind gebeten hatte: Er möge ihr helfen, ein guter Mensch zu sein und ein besserer zu werden. Meistens glaubte sie, dass Er sie hörte.
Montags, mittwochs und freitags kam die Legion Mariens von St. Michael nach der Messe im Gemeinderaum der Kirche zusammen, um den Rosenkranz für erkrankte Gemeindemitglieder, die Hungrigen und Bedürftigen der Welt und für die Heiligkeit des Lebens in all seinen Phasen zu beten. Sie sprachen das Ave Maria, tranken koffeinfreien Kaffee und plauderten. Mary Fallon erinnerte daran, wer in der Folgewoche an der Reihe war, für Gebäck zu sorgen, und wer Pfarrer Donnelly bei seinen wöchentlichen Hausbesuchen bei gebrechlichen Gemeindemitgliedern begleiten würde, wo er für eine baldige Genesung betete, die doch nie eintrat. Obwohl es ihr naheging, Männer und Frauen ihres Alters sterben zu sehen, schätzte Alice die Nachmittage mit dem Priester. Er brachte seinen Schützlingen so viel Trost. Pfarrer Donnelly war ein junger Mann, erst vierunddreißig, mit dunklem Haar und einem warmen Lächeln, das sie an Schlagersänger aus den Fünfzigern erinnerte. Der Beruf, den er gewählt hatte, gehörte vergangenen Zeiten an, und seine besondere Art der rücksichtsvollen Anteilnahme hatte sie einem jungen Menschen von heute gar nicht mehr zugetraut.
Wenn sie ihn beim Gebet für ein Gemeindemitglied beobachtete, spürte Alice seine tiefe Hingabe. Heutzutage nahmen sich die meisten Priester keine Zeit für Hausbesuche. Wenn sie fertig waren, lud Pfarrer Donnelly Alice zum Mittagessen ein. Das machte er, das wusste sie genau, mit keiner der anderen Damen der Legion. Er hatte so viel für sie getan. Ab und zu half er ihr sogar im Haus, wechselte die Glühbirne auf der Veranda oder beseitigte nach einem Sturm abgefallene Äste. Vielleicht war diese besondere Aufmerksamkeit eine Folge ihrer kleinen Abmachung, aber was kümmerte sie das.
Pfarrer Donnelly und die sieben Mitglieder der Legion Mariens (von denen tatsächlich fünf Mary hießen) waren zu dieser Jahreszeit die einzigen Personen, mit denen Alice regelmäßig verkehrte. Sie war der einsame Sommerzugang der Legion, die Austauschschülerin, wie sie sich scherzhaft nannte. Die Einheimischen waren Fremden gegenüber misstrauisch. Aber nachdem St. Agnes zwei Jahre zuvor von der Erzdiözese geschlossen worden war, hatten sie sich einverstanden erklärt, Alice für die Sommermonate aufzunehmen.
St. Agnes war ihre Gemeinde in Canton gewesen. Hier waren ihre Kinder getauft und ihr Mann Daniel beerdigt worden. Hier war sie sechs Jahrzehnte lang jeden Tag zur Messe gegangen. Hier hatte sie, als die Kinder noch klein waren, die Sonntagsschule und später die hiesige Legion Mariens geleitet. Gemeinsam mit Abigail Curley, einer jungen Mutter von vier Kindern, die eine fast durchsichtige Haut hatte und eine sanfte, kindliche Stimme, hatte sie die Kampagne zur Rettung der Kirche ins Leben gerufen. Sie hatten fünfhundert Unterschriften gesammelt und mehrere Dutzend Briefe geschrieben. Sogar an den Kardinal.
Bei der letzten Messe hatte Alice leise in ihr Taschentuch geweint. Schließungen wie diese waren an der Tagesordnung, man hörte davon überall. Aber dass es sie treffen könnte, damit hatten sie nicht gerechnet. Abigail Curley und andere Gemeindemitglieder hatten sich geweigert, das Gebäude zu verlassen. Zweieinhalb Jahre später war die Kirche immer noch Tag und Nacht besetzt. Sie blieben, obwohl der Priester längst gegangen war, obwohl es weder Licht noch Heizung gab. Alice versuchte es mit einer Gemeinde in Milton, aber es verband sie nichts mit dem Ort und seinen Menschen. Ihre Sommergemeinde war nun ihre wichtigste Verbindung zum Glauben und zu ihrer Vergangenheit. Die Mitglieder der Legion schienen das zu wissen.
Die Gruppe bestand zum größten Teil aus Witwen, die sich gehen ließen. Sie trugen Jogginganzüge mit klobigen, weißen Turnschuhen und ihre Frisuren waren durchweg katastrophal. Alice war die Einzige, die ihre Figur gehalten hatte. Nur die verflixten Falten deuteten auf die erschreckende Tatsache hin, dass sie dreiundachtzig Jahre alt war. Wie die anderen war auch sie allein. Vielleicht war ihnen die Morgenandacht deshalb so wichtig, weil sie Zeugen dafür brauchten, dass sie noch nicht gestorben waren. Sonst könnte es passieren, dass eine von ihnen am Küchentisch einen Hirnschlag erlitt und es keiner bemerkte.
Ihr Mann Daniel hatte das Grundstück kurz nach Kriegsende 1945 in einer dummen Wette mit seinem ehemaligen Schiffskameraden Ned Barell gewonnen. Ned war ein Trinker, selbst nach den Maßstäben der Marinesoldaten. Er kam aus einem Fischerdorf in Maine, verbrachte nun aber seine Zeit damit, in den edelsten Bars und Casinos Bostons seinen Lohn durchzubringen. Bei irgendeinem Basketballspiel wettete er mit Daniel um fünfzig Dollar. Alice war empört. Sie waren im zweiten Ehejahr, und sie war mit Kathleen schwanger. Aber Daniel beteuerte, dass es eine sichere Sache sei und er die Wette sonst auch nie eingegangen wäre. Dann gewann er.
Aber Ned hatte das Geld nicht.
»Was für eine Überraschung«, sagte Alice, als Daniel es ihr abends erzählte.
Daniel grinste sie nur groß an: »Aber du errätst nie, was er mir stattdessen gegeben hat.«
»Ein Auto?«, schlug Alice mit sarkastischem Unterton vor. Ihr zwölf Jahre alter Ford Coupé soff regelmäßig ab. Mittlerweile hatten sie sich an die Kraftstoffrationierung gewöhnt und gingen sowieso zu Fuß oder nahmen die Straßenbahn. Aber jetzt war der Krieg vorbei, und es stand ihnen ein harter neuenglischer Winter bevor. Alice hatte nicht vor, eine jener Mütter zu werden, die ihr brüllendes Neugeborenes zu beruhigen versuchten, während die anderen Fahrgäste ihr vorwurfsvolle Blicke zuwarfen.
»Besser«, sagte Daniel.
»Besser als ein Auto?«, fragte Alice.
»Ein Grundstück«, sagte Daniel verschmitzt, »ein ordentliches Stück Land in Maine, direkt am Wasser.«
So einfach konnte sie das nicht glauben: »Daniel Kelleher, wenn das ein Witz sein soll…«
»Das würde ich mir nie erlauben, verehrte Dame«, sagte...