Suter / Widla | Niemals aus Liebe | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 296 Seiten

Suter / Widla Niemals aus Liebe

Männergewalt an Frauen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-03855-286-4
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Männergewalt an Frauen

E-Book, Deutsch, 296 Seiten

ISBN: 978-3-03855-286-4
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In der Schweiz wird alle zwei Wochen eine Frau von ihrem Ehemann, Lebensgefährten oder Ex-Partner getötet. Jede Woche überlebt eine Frau einen versuchten Femizid. Warum werden Männer zu Tätern von häuslicher oder sexualisierter Gewalt an Frauen? Warum töten sie?? Miriam Suter und Natalia Widla gehen dieser Frage nach im Hinblick darauf, was die Schweiz tut, um solche Verbrechen zu verhindern, und was noch getan werden muss. In Gesprächen mit verschiedenen Fachpersonen aus Justiz, Politik oder Psychologie und durch die Auseinandersetzung mit aktuellen Fällen von verurteilten Gewalttätern versuchen sie zu ergründen, welche Männer sich hinter dem Begriff «Täter» verbergen, welche psychologischen und gesellschaftlichen Mechanismen Gewalt befördern und welche präventiven oder kurativen Massnahmen bestehen.? Zu den Gesprächspartner:innen gehören Markus Theunert vom Schweizer Männer- und Vaterverband, die forensische Diagnostikerin Nahlah Saimeh, die Soziologin und Aktivistin Melanie Brazzell, die Strafrechtsprofessorin Nora Markwalder, Bundesrat Beat Jans und viele weitere.

Miriam Suter, 1988 in Brugg geboren, aufgewachsen im Fricktal, lebt und arbeitet heute in Aarau und Zürich. Sie ist freischaffende Journalistin und Autorin und produzierte zusammen mit der Slam-Poetin Lisa Christ den feministischen Podcast «Faust&?Kupfer».
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... oder doch?


Während wir dieses Buch geschrieben haben, wurden in der Schweiz 31 Frauen getötet. Sie mussten sterben, weil sie ihren Ex-Partner verlassen wollten. Weil sie zu erfolgreich in ihrem Job waren. Weil sie abends alleine unterwegs waren. Weil sie schlichtweg in einer patriarchalen Gesellschaft lebten.

So könnte dieses Buch beginnen. Aber wir möchten es so anfangen: Während unserer Arbeit an diesem Buch haben in der Schweiz 31 Männer Frauen getötet. Sie haben sie umgebracht, weil diese Männer ihre Ex-Partnerin als ihr Eigentum ansehen, das sich nicht von ihnen trennen darf. Weil sie ihren Selbstwert über ihre Karriere definieren, weil sie unter dem Druck, Alleinernährer zu sein, zerbrechen und mit niemandem darüber sprechen. Oder weil in ihren Augen ihre Partnerin nicht erfolgreicher sein darf als sie. Weil sie schlichtweg in einer Welt leben, die von Männern für Männer geschaffen wurde.

Wir schreiben dieses Buch in einer Zeit, in der auf Social Media gerade Videos mit der Frage viral gehen, ob Frauen nachts allein im Wald lieber einem ihnen unbekannten Mann oder einem Bären begegnen würden. Eine grosse Mehrheit entscheidet sich für den Bären. Das Tier, so der Tenor, sei berechenbarer. Einem Bären könne man klar signalisieren, dass man in Ruhe gelassen werden möchte, und wenn diese Grenze einmal etabliert ist, wird sie respektiert. Bei einem Mann sei man sich da nicht so sicher.

Vor der Bärenfrage gab es bereits einen anderen Trend auf Social Media. Frauen erzählten davon, wie sie einander nach dem Ausgang die Nachricht schickten: «Schreib mir, wenn du zu Hause bist», um sicher zu sein, dass die Freundin unversehrt daheim angekommen ist. Dass ihr auf dem Weg dorthin niemand etwas angetan hat. Ganz normal halt, das gehört zu einem Frauenleben dazu. Genau wie die Screenshots von Instagram-Profilen von Männern, die Frauen einander vor einem One-Night-Stand schicken. Um sich zu vergewissern: Der würde mir doch sicher nichts antun – oder?

Erinnerungen:

Mit 15 nachts auf der Parkbank der Schulanlage einen Finger in dir spüren, obwohl du mehrmals Nein gesagt hast. Trotzdem weitermachen, weil: Du hast ja am Anfang Ja zum Knutschen gesagt. Dich danach so lange waschen, bis die Haut rot wird.

Mit 16 zitternd im Bus sitzen, während eine Gruppe junger Männer den Ausgang blockiert.

  • Wie heisst du?

  • Ich habe einen Freund.

  • Sag deinem Freund, ich ficke dich schon noch, du Schlampe.

Mit 17 in einem menschenleeren Wäldchen zwischen Club und Bahnhof morgens um vier hochgehoben und geküsst werden, obwohl du das nicht willst. Merken, dass du noch schwächer bist, als du dachtest. Denken: Im Notfall gebe ich nach.

Mit 24 im Auto eines Hotelangestellten sitzen, der dich nur schnell an den Bahnhof fahren wollte, dann aber anfängt, dir zwischen die Beine und an die Brüste zu fassen. Und wie versteinert dasitzen, weil du weisst, dass er die Tür verriegelt hat und es schlimmer für dich enden würde, wenn du dich jetzt wehrst.

Immer, jedes einzelne Mal denken: Ach was, das ist doch kein Übergriff. Unterbewusst wissen: Das würde ihn zum Täter machen. Und einer wie er ist doch kein Täter. Und: Was bin ich dann?

Kein Opfer sein wollen. Kein Opfer sein können.

Mit 23 erzählt die Freundin vom Blick aus dem Kinderzimmer auf die Mutter mit ihren gebrochenen Knochen und den blauen Handgelenken.

Mit 24 den Hashtag #metoo auf Facebook teilen und sehen, wie ihn alle Freundinnen teilen, jede einzelne. Denken: Das kann doch nicht sein. Realisieren: Doch, kann es.

Mit 25 von der Freundin hören: Er hat unserer Mutter gedroht, dass er uns umbringt. Zahlen will er aber auch ein Jahrzehnt später immer noch nicht.

Mit 28 mitbekommen, wie die Nachbarn streiten. Schläge hören und Schreie. Oder bilde ich es mir ein? Ich will nicht übertreiben. Aber sie schreit. Oder doch nicht? Dann Stille. Endlich Stille.

Mit 29 erfahren, dass die Frauenhäuser in der Schweiz voll sind.

Mit 30 im Gerichtssaal sitzen und denken: Das könnte mein Vater sein, mein Partner, mein bester Freund. Der sieht aus wie sie, der spricht wie sie, der ist kein Monster. Oder doch?

Mit 34 vor einer Lesung an einer Wand einen Sticker sehen: «stealthing is abuse»1. Endlich ein Wort gefunden haben für das, was passiert ist. Was er getan hat. Oder?

Wie sieht ein Täter überhaupt aus? Ein Mörder, ein Vergewaltiger, einer, der seine Ehefrau spitalreif prügelt? Von was werden diese Bilder beeinflusst? Und von wem? Vielleicht sehen wir mehrere verschiedene Figuren, wenn wir an Sexualstraftäter denken, an Mörder, an Frauenschläger. Vielleicht sind sie völlig unterschiedlich und vielleicht haben sie auch etwas gemeinsam, vielleicht haben sie vieles gemeinsam.

Die Bilder, die wir vor unserem inneren Auge sehen, wenn wir an das Wort «Täter» denken, haben sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Nicht nur, aber vor allem mit der Arbeit an unserem ersten Buch «Hast du Nein gesagt? Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt» und schliesslich noch einmal mit der Arbeit an diesem Buch.

Früher aber, da waren Täter für uns schwer greif bar. Abstrakt. Und sie waren mitunter auch gar keine Täter, sondern Protagonisten in Romanen, Filmen und Zeitungsartikeln: Helden und coole Typen.

Wir waren beide zeitweilig besessen vom Song «Where the Wild Roses Grow» von Nick Cave and the Bad Seeds und Kylie Minogue. Wir verloren uns in den schwülstigen Liedzeilen, die damit enden, dass der Ich-Erzähler die Frau, Eliza Day, nach drei Tagen voller intensiver Liebe und Sex an den Fluss hinabführt und mit einem Stein erschlägt, weil er ihre schiere Schönheit nicht erträgt – oder vielleicht auch die Tatsache, dass er diese Schönheit nicht besitzen kann:

On the third day he took me to the river
He showed me the roses and we kissed
And the last thing I heard was a muttered word
as he knelt above me with a rock in his fist […]
and I kissed her goodbye, said, «All beauty must die»

Später trat Falco in unsere Leben und mit ihm natürlich «Jeannie», der Skandal-Hit, das Lied, das zumindest für uns und zum damaligen Zeitpunkt die äussersten Grenzen dessen absteckte, was Kunst darf und soll – und wir fanden das gut. In dem Lied besingt der Ich-Erzähler die Entführung eines Mädchens, Jeannie, und deutet auch den sexuellen Missbrauch an ihr an. Ein wohliger Schauder ergriff uns jedes Mal, wenn Falco am Ende des Lieds brüllte:

Jetzt hör’ ich sie, sie kommen
Sie kommen dich zu holen
Sie werden dich nicht finden
Niemand wird dich finden, du bist bei mir

Noch später dann arbeitete Natalia in der Jugendabteilung eines grossen schwedischen Bekleidungsgeschäfts. Im hauseigenen Musikmix liefen grosse Pop-Hits und Deutschrap der 2000er- und 2010er-Jahre, Lieder, die Emotionen wecken und zum Shoppen anregen sollten, aber nicht anstössig oder provokativ sind. Zumindest nicht offenkundig. Zu keinem Lied hat Natalia mehr Teenagermädchen in den Garderoben und vor den Spiegeln auf der Ladenfläche die Wörter mitsingen hören als zum Megahit «Love the Way You Lie» von Eminem und Rihanna. Darin besingen der Rapper und die Sängerin eine toxische Paarbeziehung, die immer wieder in Gewalt eskaliert, gefolgt von Entschuldigungen, gebrochenen Versprechungen und Liebesschwüren. Gegen Ende des Lieds rappt Eminem voller Wut und Leiden(schaft):

You swore you’ve never hit ’em, never do nothing to hurt ’em
Now you’re in each other’s face
If she ever tries to fucking leave again
I’m a tie her to the bed and set this house on fire

Die «andere Seite», also diejenige der geschlagenen Frauen, suchen wir in unseren musikalischen Erinnerungen derweil oft vergeblich. Bis auf ein Beispiel, das Miriam seit ihrer Teenie-Zeit begleitet: «Du hast den Farbfilm vergessen» von Nina Hagen. Getarnt als heiterer Pop-Hit über einen gemeinsamen Urlaub am Strand und die triste Einöde, die im ddr-Daheim auf einen wartet, könnte man den Songtext auch ein bisschen anders deuten. Zum Beispiel, wenn Nina melancholisch singt:

Hoch stand der Sanddorn am Strand von Hiddensee
Micha, mein Micha, und alles tat so weh
Dass die Kaninchen scheu schauten aus dem Bau
So laut entlud sich mein Leid in’s Himmelblau
So böse stampfte mein nackter Fuss den Sand
Und schlug ich von meiner Schulter deine Hand
Micha, mein Micha, und alles tat so weh
Tu das noch einmal Micha, und ich geh

Dass Micha den Farbfilm vergessen hat, bedeutet auch, dass die Erinnerungen bloss in Schwarz-Weiss festgehalten werden konnten. Und auf...



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