Swierczynski Der Bewacher
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-06812-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, Band 1, 400 Seiten
Reihe: Charles-Hardie-Trilogie
ISBN: 978-3-641-06812-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Tod kennt keine Zufälle
Tödliche, scheinbar zufällige Unfälle fordern täglich Menschenleben. Doch wie viele davon sind Morde, verübt von einer Gruppe von eiskalten Killern, deren Spezialität es ist, jede noch so kleine Spur zu vertuschen? Beim Versuch, eine Unschuldige zu beschützen, gerät Ex-Cop Hardie ins Visier dieser Geheimorganisation, die scheinbar ganz Amerika unterwandert hat. Das Anwesen in Hollywood, das er bewachen soll, wird zur Todesfalle, und er muss alle Register ziehen, um nicht das nächste »Unfallopfer« zu werden.
Duane Swierczynski wurde 1972 in einem Vorort von Philadelphia geboren. Er war Redakteur des Philadelphia City Paper. Neben einer Reihe von Kriminalromanen, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde, schrieb er Sachbücher und Comics. Duane Swierczynski lebt mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner Tochter in Philadelphia.
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Los Angeles – heute EINS
It’s all fun and games until someone loses an eye. REDENSART
Sie war gerade erst nach Los Angeles gezogen, als sie zufällig die Decker Canyon Road entdeckt hatte. Irgendwo bei Malibu war sie vom Pacific Coast Highway abgebogen und einen Berg hinaufgerast, und dann die zwanzig Kilometer übelkeiterregender Serpentinen und Haarnadelkurven bis nach Westlake Village. Es war großartig gewesen! Die Hände am Lenkrad des Sportwagens, den sie sich von ihrer ersten richtigen Filmgage gekauft hatte. Denn das machte man doch, oder? Etwas von dem Geld für ein überteuertes, aufgemotztes Cabrio zu verbraten, das bei hundertzehn Sachen seinen Spoiler ausfährt. Es war ihr egal gewesen, dass sie fast fünfzig Stundenkilometer schneller fuhr als auf dieser Straße angemessen gewesen wäre. Sie genoss die Meeresluft, die ihr ins Gesicht blies, die Vibration der Reifen, die kaum noch den Boden berührten, das Brummen des Fahrzeugs, das ihren Körper umgab, und das Wissen, dass eine falsche Bewegung nach links oder rechts ihr nagelneues Auto mitsamt ihrem nagelneuen Leben auf den Grund einer Schlucht befördern würde. Und Jahre später würden sich die Leute vielleicht fragen: Was ist eigentlich aus dieser hübschen Schauspielerin geworden, die in diesen witzigen romantischen Komödien mitgespielt hat? Damals hatte es ihr Spaß gemacht, die Decker Canyon Road entlangzufahren, denn es hatte das Durcheinander in ihrem Kopf fortgeblasen. Das Leben war auf ein simples, berauschendes Ja oder Nein, Null oder Eins, Leben oder Sterben zusammengeschrumpft. Doch jetzt raste sie die Decker Canyon Road hinauf, weil sie nicht sterben wollte. Die Scheinwerfer kamen immer näher.
Der Scheißkerl hatte angefangen, sie zu jagen, als sie vom Pacific Coast Highway auf die Route 23 gebogen war. Er hatte den Motor aufheulen und das Fernlicht aufblitzen lassen und sich an ihre Stoßstange gehängt. So dass sie gezwungen war, auf über neunzig Sachen zu beschleunigen, während sie zu Gott betete, dass der Platz reichte, um die nächste Haarnadelkurve zu nehmen. Dann, ohne jede Ankündigung, ließ er sich zurückfallen und verschwand … aber nur scheinbar. Die Straße hatte keinen Seitenstreifen. Und auch keine Leitplanken. Offensichtlich wusste er das und wollte ihr solch einen Schreck einjagen, dass sie das Steuer verriss. Ihr Handy lag auf der Mittelkonsole. Dort war es völlig nutzlos. Die Sekunden, die es dauerte, den Notruf zu wählen, wäre sie abgelenkt. Mit möglicherweise fatalen Folgen. Außerdem, was sollte sie denen erzählen? Schicken Sie jemand zur Route 23, zur siebzehnten Haarnadelkurve von der Mitte aus gesehen? Nicht mal die State Police fuhr hier oben Streife, sie verteilte ihre Strafzettel lieber draußen an der Kanan Road oder der Malibu Canyon Road. Nein, sie behielt besser die Straße im Auge und die Hände am Steuer, wie Jim Morrison mal gesungen hatte. Andererseits, Jim war in einer Badewanne gestorben. Die Scheinwerfer blieben hinter ihr. Alle paar Sekunden dachte sie, sie hätte ihn abgehängt oder er hätte es aufgegeben, oder – lieber Gott, bitte bitte bitte – er wäre über eine Bodenwelle gefahren und in die Schlucht gestürzt. Doch jedes Mal, wenn sie glaubte, er wäre verschwunden … tauchte er wieder auf. Wer auch immer hinter dem Lenkrad saß, scherte sich einen Scheiß darum, dass sie sich auf der Decker Canyon Road befanden, wo eine falsche Bewegung mit dem Lenkrad bedeutete, dass man bei Gott die Rechnung bestellen konnte. Inzwischen hatte sie drei Kilometer zurückgelegt; fünfzehn lagen noch vor ihr. Ihren Boxster hatte sie schon lange nicht mehr; sie hatte ihn vor drei Jahren nach einem Unfall in Studio City in Zahlung gegeben. Sie fuhr jetzt einen Wagen, der zu ihrem Alter passte – einen geleasten Lexus. Einen Wagen für Erwachsene. Ein tolles Fahrzeug. Doch als sie jetzt in der Dämmerung um diese unglaublich engen Kurven fuhr, wünschte sie sich ihren Boxster zurück. Die Decker Canyon Road war für zwei Dinge bekannt: für die verrosteten Fahrgestelle, die über die Hügel verstreut waren, und die erstaunliche Tatsache, dass selbst umsichtigen Fahrern übel wurde, die lediglich versuchten, Westlake Village heil zu erreichen. Ihr war kotzübel, allerdings wusste sie nicht, ob es an der Straße lag oder an den Ereignissen der letzten Tage. Vor allem der letzten paar Stunden. Sie hatte kaum etwas gegessen, kaum geschlafen. Ihr Magen fühlte sich ganz rau an. Sie war im Gespräch für einen Film gewesen, der eine todsichere Sache zu sein schien: Produzenten, Regisseur, Autor und Hauptdarsteller waren bereits an Bord, das Ja des Studios war nur noch reine Formsache. Es war zwar nur eine Nebenrolle, doch so einen prestigeträchtigen Film hatte sie seit Jahren nicht mehr gedreht. Mit so einer Rolle würden die Leute wieder auf sie aufmerksam werden: Wow, da spielt sie mit? Ich hab mich schon gefragt, was aus ihr geworden ist. Und dann hatte sich alles in nicht mal einer Stunde zerschlagen. Fast die ganze letzte Woche hatte sie in ihrem Apartment in Venice verbracht, vor sich hingebrütet, hatte kaum etwas gegessen und getrunken, und auch den Fernseher nicht eingeschaltet – Gott bewahre, wenn eine ihrer Scheißproduktionen liefe, oder, noch schlimmer, irgendeine Scheißproduktion, für die man sie nicht hatte haben wollen. Also war sie heute Abend zu einer langen nächtlichen Spazierfahrt aufgebrochen. Genug gegrübelt. Sie hoffte, dass die Meeresluft ihre trüben Gedanken fortfegte. Ja, am besten den Großteil der letzten drei Jahre … Da tauchten die Scheinwerfer wieder auf. Sie kamen auf sie zugeschossen, klebten förmlich an ihrer Stoßstange.
Anzahl der Autounfälle pro Jahr: 43 200.
Sie trat aufs Gaspedal und riss das Lenkrad herum und schaffte mit qietschenden Reifen – knapp – die nächste Serpentine. Der Mistkerl blieb direkt hinter ihr. Am schlimmsten war, dass sie jenseits ihrer Scheinwerfer kaum etwas erkennen konnte und blitzschnell eine Entscheidung nach der anderen treffen musste. Es gab keine freie Fläche, um rechts ranzufahren und ihn vorbeizulassen. Falls er überhaupt vorhatte, sie zu überholen. Sie fragte sich, warum sie annahm, dass es sich um einen Mann handelte. Und dann fiel es ihr wieder ein. Na klar. Sie wusste, dass die Decker Canyon Road irgendwo den Mulholland Highway kreuzte. Ja, dort stand sogar ein Stoppschild. Dort würde sie liebend gerne halten und ihm beide Stinkefinger zeigen, während er vorbeifuhr. Wie weit war es bis dahin noch? Sie konnte sich nicht erinnern. Es war Jahre her, dass sie auf der Straße unterwegs gewesen war. Die Fahrbahn schlängelte, wand und krümmte sich und stieg weiter an, die Reifen klammerten sich an den Asphalt, so gut sie konnten, während die Scheinwerfer hinter ihr auf und ab tanzten und hin und her schlingerten, als würde sie von einer gigantischen elektrischen Wespe verfolgt werden. Schließlich wurde die Straße flacher – etwas, an das sie sich jetzt wieder erinnerte. Von hier verlief sie vierhundert Meter gerade durch ein Tal, dann folgten erneut mehrere halsbrecherische Kurven, hinauf ins nächste Tal. Kurz nachdem sie die ebene Strecke erreicht hatte – … trat sie aufs Gas … 100, 110, 120 … die elektrische Wespe fiel weiter zurück … 130 Ha, fick dich! Sekunden später erreichte der Lexus die nächsten Serpentinen; sie musste jetzt nur noch durch die Kurven schlingern und den Abstand vergrößern. Sie trat auf die Bremse, aber nur leicht – denn sie wollte nicht an Schwung verlieren. Doch mitten in der Kurve tauchten die elektrischen Augen wieder auf. Verdammt! Er blieb direkt hinter ihr, in jeder Kurve, bei jedem Wendemanöver. Es schien, als machte der Wagen da hinten sich über sie lustig. Was du auch tust, ich kann es besser. Als sie in der Ferne schließlich das rot schimmernde Stoppschild am Mulholland Highway erblickte, sagte sie sich, scheiß drauf. Setzte den Blinker. Drosselte das Tempo. Und bog auf den schmalen Randstreifen, der jetzt neben der Straße auftauchte. Los, fahr vorbei. Ich halte. Halte und schreie vielleicht ein bisschen, mir reicht’s. Vielleicht merke ich mir auch dein Kennzeichen. Und rufe doch noch die Highway Patrol an, du rücksichtsloses Arschloch. Rutschend kam sie mit dem Lexus zum Stehen. Zum ersten Mal seit sie den Pacific Coast Highway verlassen hatte, was ihr wie eine Ewigkeit vorkam. Der Wagen, der sie verfolgt hatte, hielt neben ihr. Scheiße. Sie griff nach ihrem Handy und drückte gleichzeitig die Zentralverriegelung. Offensichtlich handelte es sich bei dem anderen Wagen um einen beschissenen Chevy Malibu, ausgerechnet. In irgendeinem hellen Farbton – das konnte man in der Dunkelheit nicht genau erkennen. Der Fahrer stieg aus, sah über sein Dach hinweg zu ihr herüber und forderte sie mit einer Geste auf, das Fenster runterzulassen. Mit dem Telefon in der Hand hielt sie einen Moment inne, dann kam sie seiner Bitte nach. Und betätigte den elektrischen Fensterheber. Die Scheibe fuhr fünf Zentimeter herunter. »Hey, alles okay?«, rief der Mann. Sie konnte zwar sein Gesicht nicht erkennen, doch er hatte eine junge Stimme. »Gibt’s Probleme mit dem Wagen?« »Alles bestens«, sagte sie ruhig. Er ging um die Vorderseite seines Autos herum und kam langsam näher. »Schien, als hätten Sie...