E-Book, Deutsch, Band 8, 304 Seiten
Symeonidis / Schwarz Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7065-6113-6
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Potential und Grenzen der Vignetten- und Anekdotenforschung in Annäherung an das Phänomen Verstehen
E-Book, Deutsch, Band 8, 304 Seiten
Reihe: Erfahrungsorientierte Bildungsforschung
ISBN: 978-3-7065-6113-6
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Schwierigkeit, Phänomene des (Nicht-)Verstehens (empirisch) angemessen zu erfassen, wird in diesem Band aus einer breiten (inter-)nationalen und (inter-)disziplinären Perspektive erläutert. Wir alle kennen Erfahrungen des Verstehens und Nicht-Verstehens und wir erfahren diese teilweise als schmerzhaft, beunruhigend oder schwierig. Die Herausforderung, (Nicht-)Verstehen verstehen zu lernen, ist eine respektable. In diesem Band finden sich Grundsatztexte zu unterschiedlichen theoretischen Verständnissen der komplexen Phänomene des Verstehens und Nichtverstehens, forschungsmethodologische Erörterungen angemessener Zugänge zu ihrem empirischen Erfassen sowie praktische Beiträge zur genuin pädagogischen Aufgabe, (fachliche und fachdidaktische) Verstehensprozesse in Unterricht, Schule, Lehrer*innenbildung und Universität zu fördern.
Die internationalen Beiträge aus der Schweiz, aus Deutschland, Südafrika und Griechenland helfen in besonderer Weise, Verstehensprozesse und -erfahrungen in Kontexten über Österreich hinausgehend zu diskutieren. Dass der in Innsbruck entwickelte und in Forschungsgruppen in Brixen, Klagenfurt, Wien und Zürich weiterentwickelte Ansatz der phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung für Bildungskontexte über spezifischen Kulturen oder Kontexte hinaus attraktiv ist, ist bemerkenswert. Potential und Grenzen dieses Zugangs werden in vielen Beiträgen nicht nur thematisiert und in unterschiedlichsten theoretischen Ansätzen diskutiert, sondern auch in verschiedensten Bildungskontexten auf seine Wirkmächtigkeit hin erprobt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Dem Phänomen Verstehen auf der Spur
Einführung und Vorwort
Vasileios Symeonidis, Johanna F. Schwarz
„Was aber heißt das: etwas zu verstehen?“ – diese Anspielung auf den titelgebenden Beitrag von Käte Meyer-Drawe zum Phänomen Wahrnehmung (vgl. 2020a, S. 13 ff) eröffnet die folgenden Überlegungen. Diese Frage thematisiert die Schwierigkeit, das Verstehen eindeutig bestimmen zu können und deutet die Vielschichtigkeit der Antwortmöglichkeiten an. Verstehen und Wahrnehmen sind eng miteinander verknüpft und das Verstehen beginnt im Bereich der Wahrnehmung: Indem wir mit unseren Sinnen und mit unserem Leib, Andere und Anderes auffassen und einen Bezug mit der uns umgebenden Welt herstellen, beginnen wir zu verstehen. Die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten für das Verstehen sind allerdings begrenzt; so sind es gerade leibliche, zeitliche, räumliche und relationale Artikulationsweisen von Verstehens- oder (Nicht-)Verstehenserfahrungen, die weitere Ausdrucksmöglichkeiten eröffnen. Die phänomenologische Vignetten- und Anekdotenforschung ist in der Zuwendung zu Erfahrungsdimensionen von Bildungsphänomenen genuin geeignet, den sozusagen noch stummen (Verstehens-)Erfahrungen zum Ausdruck zu verhelfen, in den Grenzen, in denen sie sich zeigen und damit zugänglich werden für eine (wissenschaftliche) Betrachtung (vgl. Husserl zit. nach Waldenfels 2019, S. 9; Merleau-Ponty 1966). Inwiefern ist eine Aufmerksamkeit auf Erfahrung im Vorhaben, sich dem Phänomen Verstehen nähern zu wollen? Verstehen, wie Lernen, Wahrnehmen oder Vertrauen, sind komplexe Phänomen, die nur zugänglich werden in konkreter menschlicher Erfahrung. In dem, was uns an Verstehen gelingt und wie dieses misslingt, in dem was uns dabei widerfährt, was uns irritiert, herausfordert oder befremdet, zeigen sich wichtige Facetten, die ein so komplexes Phänomen bestimmen helfen. Es ist ein wenig so wie die hundert Bezeichnungen für Schnee, die den Inuit zugeschrieben werden. Die Vielfalt der Erscheinungsformen von Schnee sind nicht in einen Begriff zu fassen; die Benennung der subtilen Schattierungen von Schnee zusammengenommen ergeben ein vollständigeres Bild. In diesem Sinne tragen die Anstrengungen der Beitragenden in diesem Band aus den unterschiedlichen Arbeits-, und Forschungskontexten bei, vielfältige Bestimmungen dieses Phänomens zu erreichen. Der Anspruch, etwas verstehen zu wollen, kommt überhaupt erst mit dem Eintritt des Anderen als dem Fremden ins Spiel. Das Verstehen des Anderen ist in Ansätzen wahrnehmbar, weil wir es auf gewisse Weise bezeugen können. Wenn wir von Szenen ausgehen und das tun wir, wenn wir (Mit-)Erfahrung in Anekdoten und Vignetten verdichten, braucht es eine angemessene Sicht- und Deutungsweise, um dem Gehalt dieser Szenen näher zu kommen; sie gleichsam zu verstehen. Verstehen ist im Miterfahren von Erfahrungen ein weitreichender Aneignungsprozess. Dabei steht das pathische Moment – als Brüchigkeiten, Widerfahrnisse oder sinnliche Einschlüsse – im Vordergrund, weil das Affiziertwerden von etwas (Un-)Verstehbarem immer auch ein Ausgeliefertsein bedeutet. Der Umstand, dass ein Verstehen-Wollen oft einem Verfügen-Wollen gleichkommt, das gewaltsame Züge annehmen kann, und dass der Andere nicht verstehbar ist, erhöht die Komplexität dieses Phänomens. Erfahren, Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln sind Vollzüge, die nicht mit sich selbst beginnen, sondern immer schon verspätet sind. Für menschliches Verstehen gilt diese paradoxe Verspätung ebenso. Wenn wir uns unserem Verstehen ausdrücklich zuwenden, hat es bereits begonnen. Käte Meyer-Drawe folgend wird im vorliegenden Band dem Szenischen Verstehen besondere Aufmerksamkeit zuteil. Schon das 4. Internationale Symposium der phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung „Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren“ im August 2019 an der Universität Innsbruck stand im Zeichen des Szenischen Verstehens, weil sich dieses in besonderer Weise mit dem trächtigen Erfahrungsgehalt der Szenen in Vignetten und Anekdoten verbinden lässt. Szenisches Verstehen ist ein Begriff, den Alfred Lorenzer aus psychoanalytischer Sicht geprägt und Wolfram Hogrebe philosophisch vertieft hat (vgl. Meyer-Drawe 2020b, S. 20). Dass wir uns nach vollständigem Verstehen oder Verstanden-Werden sehnen ist verständlich, aber szenisches Verstehen macht deutlich, dass sich dieses eher als Erahntes oder Vermutetes zeigt, denn als gesicherte Erkenntnis (ebd.). Es handelt sich um eine Art Schwelle zwischen Verstehen und (Nicht-)Verstehen, zwischen Verstanden-Werden und der Grenze des Verstehbaren (vgl. Peterlini 2020). Hogrebe, so Meyer-Drawe, erinnert an die Herausforderung, (Verstehens-)Erfahrungen sprachlich adäquat zu artikulieren (vgl. 2020). Vignetten- und Anekdotenschreibende finden sich bei der Suche nach Sprachbildern, welche sinnliche Erfahrungen nicht in eindeutigen Begriffen aufgehen lassen, vor ähnliche Herausforderungen gestellt, wenn sie dem leiblich Wahrgenommenen zum Ausdruck verhelfen wollen. In der Einbeziehung von Blicken, Stimmlagen, Sprechmelodie, Sprechtempo, Sprechpausen, Gebärden, Gesten oder Mimik werden vielschichtige Erfahrungs- und Verstehensmöglichkeiten sichtbar. In den Szenen der Vignetten und Anekdoten werden verschiedenste Beziehungsgefüge deutlich; dies ist ein Verweis darauf, dass wir als leibliche Wesen in soziale Kontexte verstrickt sind, die unser Verständnis für uns selbst und andere maßgeblich bestimmen. Dieser Band der Reihe Erfahrungsorientierte Bildungsforschung gliedert sich in vier Abschnitte. Im Abschnitt Grundlagen schafft Käte Meyer-Drawe mit ihrem Beitrag Szenisches Verstehen nicht nur ein zentrales Verständnis für die weiteren Beiträge, sie stellt auch einen deutlichen Konnex zur phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung her. Malte Brinkmann untersucht in einer grundlagentheoretischen und methodologischen Perspektive das Verhältnis von Verstehen und Beschreiben, wobei er hermeneutische und phänomenologische Zugänge dazu unterscheidet. Michael Schratz diskutiert Schule als Erfahrungsraum für pädagogisches Verstehen und betont die Bedeutung von bildenden Erfahrungen für das Verstehen schulischer Tiefenstrukturen. Im zweiten Abschnitt des Buches – Methodologische Annäherungen an Phänomene des Verstehens – zeigen Evi Agostini und Agnes Bube am Beispiel eines Projektes im Bereich von Universität und Museum, wie die phänomenologische Vignettenforschung dazu beitragen kann, anders wahrzunehmen und anderes zu verstehen. Daniela Lehner und Hans Karl Peterlini schreiben von der Ermöglichung eines leiblichen Ausdrucks unausdrücklicher Erfahrungen (von Unterdrückung) durch performatives, szenisches Nachspielen einer Vignettenszene. Gabriele Rathgeb und Johanna F. Schwarz erörtern die Bedeutung der Miterfahrung in der Vignetten- und Anekdotenforschung als Schlüssel für die Annäherung an das Phänomen Verstehen. Irma Eloff erörtert methodologische Fragen beim Einsatz der Vignettenforschung zur Erfassung psychologischer Erfahrungen zu student wellbeing in Südafrika. Silvia Krenns Beitrag zu Erinnerungsbild und Anekdote als Instrumente zur produktiven Reflexion in der Lehrer*innenbildung leitet über zum dritten Teildes Bandes. Im Abschnitt Phänomene des Verstehens in der Lehrer*innenbildung stellt Silke Pfeifer das Ausstellungs- und Vermittlungsformat Staging Knowledge in seiner Wirkmächtigkeit für die Anwendung in der Lehrer*innenbildung vor. Anja Thielmann erörtert Potential und Grenzen der Vignetten- und Anekdotenforschung für Erfahrungen des Verstehens oder Nicht-Verstehens im Bereich der Berufsbildung. Zur Untersuchung pädagogischer und didaktischer Phänomene an der Universität von West-Mazedonien verknüpfen Vassiliki Papadopoulou und Vasileios Symeonidis die Critical Incident Technique (CIT) mit der phänomenologischen Vignettenforschung. Mishela Ivanova untersucht die Wirkmächtigkeit lernseits orientierter Fallstudien für die Annäherung an studentische Verstehensprozesse. Der vierte und abschließende Teil des Buches stellt Interdisziplinäre Perspektiven auf Phänomene des Verstehens vor. Johannes Odendahl zeigt die Grenzen eines kognitionspsychologischen Verstehensmodells auf, wie es derzeit die deutschdidaktische Theoriebildung bestimmt, und skizziert am Leitfaden der Embodied Cognition einen leib- und emotionsbezogenen Verstehensbegriff mitsamt einigen didaktischen Konsequenzen. Thomas Hoffmann entwirft ein Rahmenmodell Verstehender Diagnostik und votiert für einen pädagogisch produktiven Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Erkrankungen. Niels Anderegg nähert sich dem Phänomen Führung aus phänomenologischer und netzwerktheoretischer Sicht. Alina Knoflach erörtert anhand des forschungsmethodologischen Zugangs der Oral History Phänomene des (Nicht-)Verstehens in Bezug auf religiöse Lebensführung. Julia Ganterer widmet sich dem Thema häusliche Gewalt und fokussiert dabei unterschiedliche Erfahrungsdimensionen. Was aber heißt das: etwas zu verstehen? Genau lässt sich das immer noch nicht sagen, aber die Beiträge dieses Bandes werfen wesentliche Schlaglichter auf unterschiedlichste Facetten dieses rätselhaften Phänomens aus den verschiedensten Bildungs-...