E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Tadjer Wenn unsere Träume Tango tanzen
Deutsche Erstausgabe
ISBN: 978-3-641-20623-9
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-20623-9
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Suzanne wohnt in einer kleinen Wohnung über den Dächern von Paris. Sie lebt sehr zurückgezogen - und nur für den Tanz wie ihre Mutter, die einst die berühmte Königin des Tangos war, bis sie bei einem Brand ums Leben kam und Suzanne allein zurückließ. Wenn sie keinen Tangounterricht gibt, besucht Suzanne jeden Tag einen alten Freund ihrer Mutter, der ihr von früher, von Leidenschaft, tanzenden Paaren und der Magie der Musik erzählt. Das sind die einzigen glücklichen Momente in ihrem Leben, bis sie eines Tages von einem Mann angerempelt wird, der gerade zu fliehen scheint - und ihr den Boden unter den Füßen raubt. Es ist Yan, seines Zeichens Dieb - und leidenschaftlicher Tänzer ...
Akli Tadjer ist 1954 in Paris geboren und hat dort Journalismus studiert. Er hat bereits neun Romane geschrieben, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Zwei wurden in Frankreich verfilmt.
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1
Noch drei Stationen – ich bin schon wieder zu spät dran, genau wie letzte Woche. Immer hänge ich zu lange bei Diego herum. Viel zu lange. Wenn er mich beim nächsten Mal in die Arme schließt, als wollte er mich ersticken, und mich in ein paar Tanzschritte rings um sein Bett zieht, während er mit seiner vor Erschöpfung heiseren Stimme »Mi solo refugio« singt, oder mich schon wieder zu einer Runde in den Park einlädt, um mit mir die Sonnenstrahlen am Himmel über La Cerisaie zu zählen, lasse ich mich nicht mehr herumkriegen.
Jaurès.
Die Metro verlässt die Tiefen des Boulevard de La Villette und verwandelt sich unter Eisengeratter und dem Quietschen der Räder auf den Schienen in eine Hochbahn. Menschen drängen sich an meinen Bauch und meinen Rücken, es stinkt nach Schweiß, Shit und ranzigem Fett – und bei diesem von übelkeiterregenden Ausdünstungen begleiteten Radau senkt sich der Abendnebel über das schwarze Wasser des Canal de l’Ourcq.
Die knallvolle Metro fährt stockend an. Ich werde hin und her geschüttelt zwischen einem riesigen Schwarzen mit rotem Fes und einer alten Chinesin mit fettigem Haar, die mir in den Nacken gähnt. Mein Handy piept, ich greife in meine Handtasche und ziehe es heraus. Zwei SMS, eine von Irène, die sich besorgt erkundigt, ob der Kurs weiter stattfindet, und eine von Benoît, der sich über meine häufigen Verspätungen beschwert, seine Nachricht endet mit einem Ausrufezeichen und einem schmollenden Smiley.
Stalingrad.
Man rempelt mich zur Seite, um auszusteigen, dann rempelt man mich zur Seite, um einzusteigen. Aus den Lautsprechern im Waggon dringt die drohende Stimme des Fahrers, er werde nicht weiterfahren, solange das automatische Schließen der Türen behindert werde. Versprochen, ja, ich schwöre es, selbst wenn Diego mein Handgelenk mit seinen von der Arthrose verkrümmten Fingern festhält, wenn er wieder und wieder behauptet, ich sei die hübscheste Tanguera seit der Tangokönigin, von jetzt an werde ich La Cerisaie pünktlich verlassen.
La Chapelle.
Alle drängeln beim Aussteigen. Die Rolltreppe ist kaputt. Die normale Treppe verstopft. Die Taschendiebe sind emsig bei der Arbeit. Ich bahne mir mit den Ellbogen einen Weg durch diese kompakte Menge, in der ich außer Französisch noch Arabisch, Chinesisch, afrikanische Dialekte und das Argot der Banlieue höre.
Draußen nässt feiner Regen mein Gesicht, Tropfen rinnen mir übers Haar und in den Nacken bis hinunter zwischen die Schulterblätter. Ich schlängele mich zwischen den Autos, Motorrollern und Bussen hindurch, die im großen Stau feststecken. Endlich stehe ich an der Ecke Rue Fleury und Boulevard Barbès vor dem Centre Barbara.
Hinter dem Empfangstresen lächelt mir Diakité zu, als er mich so triefnass und mit wirrem Haar eintreten sieht. Er zeigt auf seine dicke Rapperuhr, eine billige Kopie, und sagt, ich sei eine Viertelstunde zu spät dran, da oben werde schon gemeckert.
Treppe? Aufzug?
Treppe.
Indem ich immer drei Stufen auf einmal nehme, hetze ich in die vierte Etage dieses Glas- und Aluminiumbaus. Die Tür zu meinem Unterrichtsraum steht weit offen. Auf den ersten Blick sind es heute Abend kaum mehr als ein Dutzend. Einige schwatzen, andere üben vor den großen Wandspiegeln ihre Schritte; in einer Ecke schmusen Christophe und Cécilia. Ich husche in den Umkleideraum am Ende des Gangs, von dem noch andere Übungsräume abgehen: Stepptanz, Salsa, Zouk, Rock, Zumba. Es gibt wahrhaftig genug Auswahl im Centre Barbara.
Mantel, Schal, Pulli, Schuhe – hastig ziehe ich alles aus, werfe es in den Spind, fluche dabei auf die jagende Zeit, auf mich, auf Diego und schwöre zum x-ten Mal, dass er mich nicht wieder drankriegt.
Ich hole Zero Hour, meine Astor-CD, und die schwarzen Tanzschuhe aus meiner Tasche, ziehe meine weiße Bluse an und knöpfe sie bis zum Brustansatz zu. Dann versuche ich, mein Haar mit dem Handtuch, das ich immer dabeihabe, trocken zu rubbeln und binde es mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammen. Prüfend blicke ich in den Spiegel meiner Puderdose: Ich sehe scheußlich aus. Die Augen sind gerötet, und ich habe tiefe braune Augenringe. Als hätte ich die ganze Nacht mit der Clique im Maquereau Nostalgique, im »Nostalgischen Luden«, gefeiert. Was nicht einmal ganz falsch ist, ich habe dort bis zwei Uhr morgens mit Nina herumgehangen.
Ich suche in der Tasche nach meiner Foundation, um wenigstens die Augenringe zu kaschieren, die mich mindestens zehn Jahre älter aussehen lassen, doch als ich die eher unfreundlichen Stimmen aus dem Übungsraum höre, gebe ich auf.
Ein ungeduldiges »Ah!« empfängt mich. Ich schütze einen Unfall bei der Metro vor: Selbstmord in der Station Laumière. Letzte Woche habe ich einen Blitzstreik der Sicherheitsleute in der Linie 5 erfunden. Vor drei Wochen waren mir angeblich meine Schlüssel durch ein Kanalgitter gefallen. Mein ausweichender Blick und die Art, wie ich hinter dem Rücken die Hände knete, verraten meine Lügen. Sie tun nicht einmal mehr so, als würden sie mir glauben, inzwischen gehe ich ihnen nur noch auf die Nerven.
Ich ziehe meine schwarzen Tanzschuhe an, zupfe die Bluse zurecht, gehe, als wäre nichts gewesen, mitten in den Raum und sage: »So, wir haben genug Zeit vergeudet, jetzt wird getanzt.«
Irène und Patrick kommen schon seit letztem Jahr regelmäßig in meine Kurse, doch alle anderen haben sich gerade erst vom Fieber des argentinischen Tangos anstecken lassen, sie sind Novizen und etwa in meinem Alter, Anfang dreißig. Einige sind schon als Paar gekommen wie Benoît und Anne, die Geschäftsführer des Tiefkühlkostladens, der nur hundert Meter vom Centre Barbara entfernt liegt, oder Elsa, eine quirlige Brünette, und ihr Lebensgefährte Pierre, dessen Besonderheit darin besteht, dass er keine hat. Er gleicht Herrn Mustermann, nur ist er noch mehr ein Allerweltsmensch – was, wenn man es recht bedenkt, dann doch wieder eine Besonderheit ist. Manche sind einzeln gekommen und haben sich entsprechend ihren Neigungen zu Paaren gefunden, wie Christophe, die männliche Schönheit, der die meiste Zeit in die Spiegel sieht, und Cécilia, die weibliche Schönheit vom skandinavischen Typ, die mit ihren Miniröcken, den grellen Strumpfhosen und den roten High Heels verdammt sexy ist. Der Einzige, der nie nach einem Partner gesucht hat, ist Jérémy, ein großer, schlanker – für seine Größe zu schlanker – Student mit schulterlangem rotem Haar und dandyhafter Kleidung. Er hält immer Distanz zur Gruppe, sodass häufig ich diejenige bin, die mit ihm tanzt. Und dann habe ich noch Schüler, die sich zu Beginn des Kurses angemeldet haben und sicher mal am Unterricht teilnehmen, sobald sie Zeit dazu haben.
Ich komme an Benoît und Anne vorbei und begrüße sie mit einem Nicken. Sie zucken mit den Schultern und sehen auf die Uhr, die über dem Regal mit der Stereoanlage hängt.
Heute Abend kümmern wir uns noch einmal um die Grundlagen. Wir werden den Abrazo üben. Zunächst zeige ich ihn ohne Musik, damit wir uns auf die Übung konzentrieren können. Mit herausgedrückter Brust und erhobenem Kinn, die Schultern und Ellbogen schön locker, umarme ich einen imaginären Partner und führe ihn mit dem Oberkörper. Nie mit den Armen. Nie mit den Händen. Alles kommt von innen. Ich drehe mich mehrmals um mich selbst, damit mich alle sehen können, dann fange ich noch einmal ganz langsam an und zerlege die Bewegungen. Schließlich frage ich, ob alle es gesehen, verstanden und sich gut gemerkt haben.
Alle nicken, manche entschieden, andere eher vage, einige senken nur die Lider. Bevor sie auf die Tanzfläche kommen, erinnere ich sie daran, dass der Tango der Tanz der Leidenschaft ist und dass ich in ihren Augen den Funken, die Flamme und den verheerenden Brand sehen will.
Elsa und Pierre versuchen es als Erste, doch es geht schnell schief. Sie ist nicht die Achse des Paars. Klar, er lädt ihr ja auch sein gesamtes Gewicht auf. Ich korrigiere ihre Haltung. Sophie, die Schüchterne in der Gruppe, und ihr Liebster, Jean, ein Koloss mit der Statur einer Frittenbude, bekommen es besser hin. Benoît schimpft mit Anne, die blass wird, schwankt und ihr letztes bisschen Selbstbewusstsein verliert. Für die anderen ist es ein Augenschmaus, kommentiert mit unterdrücktem Lachen und vielsagenden Knieberührungen.
Ich bitte um Ruhe und zeige mit dem Finger auf Jérémy, der allein vor einem Spiegel übt. Er mag es nicht, wenn er mit mir tanzen muss. Er hat Angst, sich lächerlich zu machen, aber er weiß, wenn er es ablehnt, diese Figur mit mir vorzuführen, macht er sich noch lächerlicher. Also kommt er etwa so schwungvoll auf mich zu, wie ein Verurteilter zum Schafott geht. Ich lege die CD ein und drücke auf die Play-Taste.
Bei den ersten Tönen nehme ich ihn in die Arme. Seine Rippen ziehen sich zusammen, es ist der Druck meiner Brüste auf seinen knochigen Oberkörper, der ihn stört, das spüre ich. Er verkrampft seine schlanken Finger an meiner Taille, löst den Körper von meinem und dreht den Kopf weg, um meinem Blick nicht zu begegnen. Ich ziehe ihn wieder an mich und flüstere ihm zu: »Ganz ruhig, Jérémy. Mach einfach mit. Ich kümmere mich um alles.«
Nach einigen verqueren Schritten gibt er sich endlich hin, ich führe ihn wie ein Kind, und er folgt meinen Schritten. Wir sind synchron.
Ich danke ihm, entlasse ihn wieder in sein Einzeltänzerschicksal und gehe dann zwischen meinen Schülern umher. Bei den Begabtesten recke ich zustimmend die Daumen, ich korrigiere Elsas Haltung, Pierres...