E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Takano 13 Stufen
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-18319-6
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-641-18319-6
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bestsellerautor Kazuaki Takano erzählt eine fesselnde Geschichte voller unerwarteter Wendungen und falscher Fährten bis hin zum furiosen Showdown. Am Beispiel der in Japan noch angewandten Todesstrafe stellt er die Frage nach Schuld und Reue, nach dem Recht auf Vergeltung. Dabei erzeugt seine vielschichtige Erzählweise eine außergewöhnliche Spannung, die den Leser bis zur letzten Seite nicht loslässt.
Kazuaki Takano, geb. 1964 in Tokio, arbeitet in Hollywood und Japan als Drehbuchautor. Für seine Romane erhielt er renommierte Preise. 'Extinction' stand in Japan monatelang auf den Bestsellerlisten und wurde u.a. als bester Thriller des Jahres ausgezeichnet.
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2
Vier Stunden waren vergangen, seit er das Gefängnis Matsuyama verlassen hatte und in Tokyo angekommen war. Die unterschiedlichen Landschaften waren in atemberaubendem Tempo an ihm vorbeigezogen, und er war voller Freude über die wiedergewonnene Freiheit.
Als Erstes hatte er verwundert festgestellt, wie niedrig die Mauern des Gefängnisses, in dem er so lange eingesperrt gewesen war, von außen wirkten. Die fünf Meter hohen Schutzwälle aus Beton sahen nun nicht mehr so gigantisch aus, von innen hingegen hatten sie überdimensional in die Höhe geragt und fast den ganzen Himmel verdeckt.
Auch die weitläufigen Straßenfluchten versetzten ihn in Erstaunen. Als er aus dem Fenster des Taxis schaute, das ihn zum Flughafen brachte, machte die Skyline von Matsuyama mit all den Hochhäusern einen überwältigenden Eindruck auf ihn. Zwar hatten sie in der gestrigen letzten Trainingsstunde für ihre Entlassung auch die Stadt besichtigt, aber nun sah über Nacht alles komplett anders aus. Welche Wirkung musste dann erst Tokyo auf ihn haben?
Als sie am Flughafen mit dem Check-in fertig waren, fragte ihn sein Vater: »Möchtest du einen Sake?«
Jun’ichi schüttelte den Kopf, entgegnete aber spontan: »Mir ist eher nach was Süßem.«
Sie gingen zur Café-Lounge und bestellten für ihn einen Flan und einen Eisbecher mit Schokoladensoße.
Toshio schaute seinem Sohn entgeistert dabei zu, wie er gierig die Süßspeisen verschlang.
Als Jun’ichi sich satt gegessen hatte, erhaschte er flüchtig einen Blick auf die vielen jungen Frauen, die durch die Halle an ihm vorübergingen. Es war Juni, und sie alle liefen in leichter Sommerkleidung herum. Die beiden verließen die Café-Lounge, und Jun’ichi ging den ganzen Weg bis zum Gate mit gesenktem Kopf, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben.
Sobald sie an Bord des Flugzeugs waren, begann es in seinem Bauch schmerzhaft zu rumoren, und er rannte mehrmals zur Toilette. Nachdem er zwei Jahre lang als Hauptmahlzeit immer nur Mischreis als Kalorienzufuhr zu sich genommen hatte, reagierten seine Eingeweide geradezu panisch auf die Zuckerattacke von zuvor. Trotzdem war er guter Dinge. Welche Befreiung, endlich unbeobachtet in einer Einzelkabine seine Notdurft verrichten zu können.
Vom Flughafen Haneda aus nahmen sie den Zug und mussten einmal umsteigen, um nach Otsuka zu gelangen. Die Station lag im Nordwesten Tokyos auf der Yamate-Ringbahn. Der nächste Bahnhof Ikebukuro mit dem Einkaufsviertel war bequem zu Fuß zu erreichen.
Dort befand sich ihr neues Heim, das Jun’ichi nun zum ersten Mal sehen würde. Die Eltern hatten ihm vor einem halben Jahr in einem Brief mitgeteilt, dass sie umgezogen seien. Jun’ichi hatte sich absichtlich nicht näher danach erkundigt, weil er sich die Vorfreude auf das neue Zuhause bis zu seiner Entlassung bewahren wollte. An einem unbekannten Ort zu leben, wo er seine Vergangenheit hinter sich lassen und sich eine neue Existenz aufbauen konnte, erschien Jun’ichi eine günstigere Option für die Zukunft zu sein.
Vor ihm erstreckte sich ein Kreisverkehr mit sternförmig abgehenden Straßen, als er aus der Ticketsperre am Bahnhof Otsuka trat. Hier herrschte reges Treiben: Er sah jede Menge Banken, Restaurants, Business-Hotels und Passanten, die kreuz und quer liefen. Auch die Leuchtreklamen der Sexshops stachen ihm ins Auge. Ihm gefiel das quirlige Leben auf den Straßen.
Doch nach weiteren fünf Minuten, die er seinem Vater hinterhergeschlendert war, wurde es immer stiller um ihn herum. Offenbar lag es an dem Wohnbezirk, in den sie nun gelangten. Nach weiteren zehn Minuten Fußweg fühlte er sich zunehmend beklommen. Er grübelte, ob er vielleicht etwas übersehen hatte, irgendein Problem, das er nicht hatte wahrhaben wollen. Von einer dunklen Vorahnung erfasst, trottete er weiter.
Schließlich verkündete Toshio, der ebenfalls immer einsilbiger geworden war: »Die nächste Querstraße ist es, dann sind wir da.«
Als sie nach wenigen Schritten um die Ecke bogen, blickte Jun’ichi auf eine kahle Brandmauer. Auf dem verwitterten Putz hatten sich über die Jahre Dreckschlieren gebildet. Es gab kein Tor, sondern nur eine unscheinbare Tür, die als Eingang direkt vom Bürgersteig in die Diele führte. Der Grundriss maß vielleicht zwanzig Quadratmeter. Jedenfalls war es für ein Einfamilienhaus eine äußerst dürftige Behausung.
»Na dann, herein mit dir«, sagte Toshio, den Blick gesenkt. »Das ist dein neues Zuhause.«
Jun’ichi wollte seinen Vater nicht in Verlegenheit bringen. Er durfte sich nichts anmerken lassen, sondern einfach nur eintreten.
Jun’ichi öffnete die Tür und rief: »Hier bin ich!« Er stand sofort in der Küche, wo seine Mutter Yukie gerade einen Salat zubereitete. Sie drehte sich zu ihm um.
Ihre Augen weiteten sich vor Freude. Ihr rundliches Gesicht mit dem willensstarken Ausdruck in den Augen, über denen sich dichte Brauen wölbten, hatte sie ihrem Sohn vererbt.
»Jun’ichi!«
Yukie wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging langsam auf ihn zu. Tränen liefen ihr über die Wangen.
Jun’ichi stellte erschrocken fest, wie sehr sie in der Zwischenzeit gealtert war, ließ sich jedoch weiterhin nichts anmerken.
»Ich bin euch sehr dankbar für alles«, sagte er. »Endlich wieder daheim.«
Die drei begannen bereits am späten Nachmittag ihr Wiedersehen zu feiern. Der Tisch in dem winzigen Wohnzimmer war festlich gedeckt. Das Mahl bestand aus drei verschiedenen Hauptspeisen: Rindfleisch, gegrilltem Fisch und einem chinesischen Gericht.
Jun’ichi wunderte sich, dass sein acht Jahre jüngerer Bruder Akio sich nicht blicken ließ, verlor jedoch darüber kein Wort, solange die Eltern es nicht von sich aus erwähnten.
Toshio und Yukie wirkten beide anfangs sehr befangen. Es schien so, als wüssten sie nicht so recht, was sie mit ihrem siebenundzwanzigjährigen, vorbestraften Sohn reden sollten. Das einsilbige Gespräch plätscherte vor sich hin, bis sie schließlich auf Jun’ichis Zukunftspläne zu sprechen kamen.
Er selbst hatte eigentlich vorgehabt, schon am nächsten Tag seinem Vater in dessen Betrieb zu helfen, doch seine Eltern rieten ihm, erst mal eine Woche auszuspannen. Jun’ichi beschloss, ihrem Vorschlag zu folgen. Doch eine ganze Woche nur herumhängen wollte er auch nicht. Seitdem er das heruntergekommene Haus gesehen hatte, ließ ihn der Gedanke nicht mehr los, dass zwischenzeitlich einiges vorgefallen sein musste, das sie ihm verschwiegen hatten.
Nach dem Abendessen führte ihn Yukie in den ersten Stock. Sie stiegen die steile knarrende Treppe hoch und gelangten zu einem engen Korridor, von dem zwei kleine Zimmer abgingen. Als Jun’ichi die ihm zugeteilte Kammer erblickte, wurde seine Freude über die wiedergewonnene Freiheit endgültig zunichtegemacht. Dieses Kabuff war nicht größer als seine Zelle im Gefängnis.
»Es ist zwar klein, aber es wird schon gehen, nicht wahr?«, fragte Yukie leichthin.
»Ja«, erwiderte Jun’ichi, stellte seine Sporttasche, die er vom Gefängnis mitgebracht hatte, ab und setzte sich auf den bereits ausgerollten Futon.
»Das Haus ist in jeder Hinsicht sehr komfortabel«, sagte Yukie, die in der Tür stehen geblieben war. »Es ist so alt, dass man sich nicht groß drum kümmern muss. Lediglich ein paar Zimmer putzen, mehr nicht.«
Doch je mehr sie redete, desto deutlicher war aus ihrer Stimme die Verzweiflung herauszuhören, auch wenn ihre Miene das Gegenteil zum Ausdruck zu bringen versuchte.
»Der Bahnhof liegt so weit weg, dass man kaum Verkehrslärm hört. In einer Viertelstunde ist man im Einkaufsviertel. Und Sonnenlicht kommt auch ein bisschen herein.«
Allmählich schienen ihr die Argumente auszugehen, und am Schluss murmelte sie nur noch: »Nun ja, wir wohnen ein wenig beengter als früher.«
»Sag mal, Mutter«, versuchte Jun’ichi das Thema zu wechseln, da er befürchtete, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde. »Was ist mit Akio?«
»Akio ist ausgezogen. Er lebt jetzt allein in einem Apartment.«
»Wo wohnt er denn genau?«
Yukie zögerte erst, nannte ihm dann aber die Adresse.
Mit der Anschrift und einer Wegskizze in der Hand verließ Jun’ichi kurz nach sechs Uhr abends das Elternhaus.
Es war bald Mittsommer, und draußen schien noch die Sonne. Trotzdem fürchtete er sich davor, allein durch die Straßen zu gehen. Ihm kam es vor, als rasten die Autos in einem Wahnsinnstempo an ihm vorbei, und es gab noch ein weiteres Problem, das alle auf Bewährung entlassenen Häftlinge betraf. Falls er sich bis zur Vollendung seiner Haftzeit, die erst in drei Monaten abgegolten war, einer Gesetzesübertretung schuldig machte, würde er zurück in den Knast müssen. Nicht einmal ein Verkehrsdelikt durfte er sich erlauben. Er spürte das Gewicht des Bewährungsausweises, des sogenannten »Vorstrafenpasses«, den er ständig bei sich tragen musste.
Mit der Bahn gelangte er mit einmal Umsteigen in zwanzig Minuten nach Higashi-Jujo, wohin sein Bruder inzwischen gezogen war. Akio wohnte in einem Apartment in einem zweistöckigen Holzhaus. Jun’ichi stieg die Außentreppe hinauf und klopfte an die letzte Tür, worauf ein apathisch klingendes »Ja« von drinnen ertönte. Er hatte die Stimme seines jüngeren Bruders seit zwanzig Monaten nicht mehr gehört.
»Akio? Ich bin’s!«, rief er vom Eingang aus. Sein Bruder schien hinter der Tür innezuhalten. »Willst du mir nicht aufmachen?«
Eine Weile herrschte Stille. Die Tür wurde einen kleinen Spalt geöffnet, und Akios...