E-Book, Deutsch, 310 Seiten
Taskinen Die Kathedrale
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7017-4511-1
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 310 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4511-1
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Satu Taskinen, geboren 1970 in Helsinki. Studium der Philosophie und Germanistik an der Universität Helsinki. Taskinen arbeitet als Autorin und Journalistin. Nach mehreren Jahren in Deutschland und in den Niederlanden lebt sie seit 1999 in Wien. Für ihren in Wien spielenden Debütroman 'Täydellinen paisti' (dt: 'Der perfekte Schweinsbraten') erhielt sie 2011 den Großen Finnischen Preis für das beste belletristische Debüt des Jahres und wurde 2012 für den European Book Prize nominiert. Für ihren zweiten Roman 'Katedraali' (2014) erhielt sie den Toisinkoinen-Preis der Universität Helsinki.
Autoren/Hrsg.
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Prolog
Am Unglücksort
Zu entgleisen ist viel erbarmungsloser und weit furchtbarer als gegen eine Wand zu prallen, sagte der eine Mann, er war klein, breit und philosophisch.
Das mag sein. Aber das ist keine Antwort auf eine ganz normale Frage, und ich müsste jetzt hier mal durch, Entschuldigung, sagte der andere Mann, er war lang, schmal und ungeduldig.
Ein Unfall war passiert, ein Auto war mitten auf der Straße in eine Baugrube gerutscht, Neugierige versammelten sich am Ort des Geschehens.
Ist Hilfe unterwegs?, wurde gefragt. Ja, die kommt schon, hören Sie nur. Sirenengeheul näherte sich aus mehreren Richtungen gleichzeitig, in irgendeiner Zentrale war wohl sicherheitshalber eine Art Großalarm ausgelöst worden. Bleiben würde, wer als Erster eintraf.
Auch Donner grollte. Die Frau des philosophischen Mannes mochte keinen Donner, der jagte ihr Angst ein. Sie verspürte eine wilde, mit Ehrfurcht gemischte Erregung, die ihr Herz schneller schlagen ließ und ihr Blut so stark in Wallung brachte, dass sich die Wangen röteten und die Achseln schweißfeucht wurden.
Es grollte erneut. Die Frau versuchte sich zu beruhigen: Kein Grund zur Sorge, es hat im Frühjahr ständig gedonnert, auch im Winter, im Herbst, ein ganzes Jahr lang. Nur selten wurde ein Unwetter daraus, es donnerte einfach nur. Doch dann meldeten sich andere Gedanken: vielleicht war es pures Glück gewesen, dass noch nichts Schlimmes passiert war, wo doch andererseits alles immer größer und heftiger ausfiel und häufiger auftrat, und außerhalb der Stadt schlug der Blitz auch schon mal in Passanten ein. Davon konnte man in der Zeitung lesen, zuletzt war ein 42-jähriger Mann von guter körperlicher Verfassung ums Leben gekommen. Oder waren das Zeitungen gewesen, die man nicht hätte lesen sollen? Wie viel Lüge war eigentlich erlaubt? Wie viel durfte jemand lügen, ohne dass er dafür ins Gefängnis kam, gab es so ein Gesetz überhaupt?
Der philosophische Mann dachte: Man muss abwarten, bis sich die Situation klärt.
Seine Frau dachte: Die Sirenen heulen, auch die Verkehrsbetriebe haben eigene Notfallfahrzeuge, die halten vor dem Blumengeschäft und dem Lebensmittelgeschäft, dem Call Shop, der Drogerie und der Pizzeria Azzurro, eine wahre Armada. Seine Frau beobachtete alles, sie war interessiert wie ein wachsames Tier, sie wusste auch, dass sie interessiert war wie ein wachsames Tier: die Hände raus aus den Taschen, als die Beobachtung, die Kartierung begann. Die Unfallhelfer näherten sich mit rhythmischen Schritten, sie schritten stets rhythmisch aus.
Der ungeduldige Mann dachte nervös: Wie lange wird das dauern? Die Straßenbahnen bildeten bereits eine Schlange.
Aber Straßenbahnen können nicht überholen, die Fahrer können ihre Fahrgäste nur bitten auszusteigen, sie können sich nur den Schweiß von der Stirn wischen und bedauern, mehr können sie nicht tun, wenn ein Auto mit schrecklichem Getöse in die Grube zwischen den Schienen gerutscht ist.
Die Polizei verbot den Leuten, die Straße an dieser Stelle zu überqueren, in einer Stadt gab es immer auch andere Wege.
Der ungeduldige Mann dachte: Ja, zum Glück, die gab es. Aber nicht alle Leute gehorchten, und die Polizei wiederholte das Verbot. Man musste entweder warten oder umkehren und einen anderen Weg nehmen, also vergessen Sie den Hut. Den Hut?, wunderte sich der ungeduldige Mann. Irgendjemandem war anscheinend bei diesem Wind und dem ganzen Chaos der Hut abhanden gekommen, ein guter Hut. In Australien fuhr man mit dem Traktor über solche Hüte, das war die dortige Art der Qualitätskontrolle.
Ich will die Grube sehen, sagte der ungeduldige lange Mann, aber der philosophische Mann und seine Frau verdeckten die Sicht. Eindeutig abgerutscht, aus der richtigen Bahn geworfen, geradezu entgleist, sagte der Philosoph und wich keinen Zentimeter. Er sprach mit starkzahnigem, sicherem Mund, sein Gebiss hatte im Laufe der Jahre eine eigene, leicht schiefe Form angenommen.
Seine Frau dachte bei sich, wie wach sie sich doch jetzt fühlte und wie schwer morgens immer das Aufwachen gewesen war, es sei denn, man konnte anschließend noch liegen bleiben und erneut einschlafen, und genau das konnte sie jetzt. Hätte man also besser aufpassen müssen, was man sich wünscht?
Der lange ungeduldige Mann musterte das Ehepaar: Wer war dieser Herr eigentlich? Müsste man ihn kennen? Gut, jetzt stehen wir also hier. Dass man hier warten musste und nicht mal über die Straße gehen durfte, daran war jemand anderer Schuld, vergessen Sie den Hut.
Der kleine philosophische Mann stand mit den Schuhspitzen am Rand der Grube, er hatte die Situation mit zwei Worten richtig eingeschätzt, steckte die Hände in seine Taschen, rührte sich nicht.
Der ungeduldige Mann dachte ärgerlich bei sich: Komme ich hier wirklich nicht mehr weiter, das kann nicht sein. Vielleicht konnte die Frau des philosophischen Mannes helfen. Wortreiches Bedauern usw., ich sollte jetzt wirklich weiter usw. Müssen wir jetzt wirklich miteinander streiten? Die Frau blickte in die Grube, war sie taub?
Die Frau sagte sich: Man hätte eben gleich einen anderen Weg nehmen müssen, man hat ja schon vom Anfang der Straße aus gesehen, was los war: die Menschenmenge, die Autoschlange, die aufgestauten Straßenbahnen. Es wäre einfacher, wenn ich nicht immer und bei jeder Sache unbedingt so unglaublich störrisch sein müsste. Esel. Ich sollte meine Augen benutzen. Esel. Esel. Esel.
Der ungeduldige Mann begann zu provozieren und zu scherzen, um die Aufmerksamkeit des Ehepaares zu gewinnen: Dürfte ich Ihren Mann vielleicht ein wenig schubsen? In Paris werden die Autos im Leerlauf geparkt.
Die Frau erstaunt: In Paris?
Ja, in Paris.
Die Frau: Schubsen? Meinen Sie das etwa im Ernst? Sehen Sie denn nichts? Was ist mit Ihnen? Sie wirken blass. Sind Sie krank?
Ihr Mann wich immer noch nicht, keinen Zentimeter. Vergessen Sie es, dachte der ungeduldige Mann, alles war nur ein Scherz, natürlich wird niemand in die Grube fallen.
Mein Vater, sagte der philosophische Mann. Mein Vater kam mal von der Straße ab, ein Unfall, der diesem ganz ähnlich war. Als Mann vom alten Schlag beschleunigte er in der Kurve, obwohl er natürlich vom Gas hätte gehen müssen. Er wusste schon, bevor die endgültige Kollision passieren würde, dass – der Mann wandte sich an seine Frau, für sie waren seine Gedanken und Worte stets bestimmt –, denk nur, ein Mensch, der sein Leben lang gewöhnt war zu handeln, konnte nichts weiter tun, als dazusitzen und mitsamt seinem Auto in den Graben zu fahren.
Er lachte kurz und sah seine Frau an. Sie hielt mit der einen Hand ihre Handtasche, die andere presste sie fest um den Regenschirm, dessen Spitze zum Himmel aufragte, erwartete sie sich davon jetzt Unterstützung und Sicherheit?
Das Stimmengewirr ringsum schwoll an, je mehr Publikum sich einfand. Und die Leute waren hilflos, ein halb in der Grube liegendes Auto, als wäre plötzlich die Straße unter ihm verschwunden, was ja tatsächlich der Fall war, und – auch das stand in der Zeitung! – einmal grasten acht Kühe nebeneinander auf dem Feld, da schlug der Blitz in sie ein. Es passiert so allerlei.
Der Philosoph sagte: Allerdings bin ich mir bei dieser Art von Unfällen nicht ganz sicher, es gibt ja so viele verschiedene Arten, vom Weg abzukommen. Oft hat der Mensch ja eine gewisse Vorahnung, manch einer sagt hinterher, ich wusste, dass das passieren würde, und ärgert sich, dass er nichts dagegen unternommen hat, obwohl es ihm vielleicht noch möglich gewesen wäre. Der Philosoph hatte es sich anscheinend zur Aufgabe gemacht, alle Dinge grundsätzlich zu überprüfen und die Ergebnisse dann den anderen mitzuteilen.
Der ungeduldige schmale Mann dachte ein wenig missbilligend: Die beiden Eheleute zählen sich offenbar zu den führenden Köpfen dieses Spektakels.
Die Frau sagte: Wenn und wenn und wenn, hör doch auf, das alles ist schlimm genug. Sie drückte den Arm ihres Mannes.
Sie dachte: Tiere, die nebeneinander stehen, suchen gegenseitigen Schutz. Wenn der Blitz einschlägt, bringt das Nebeneinanderstehen keinen Nutzen, im Gegenteil.
Der schmale Mann gestand sich ein, dass er die beiden andererseits verstehen konnte: Der Philosoph sprach von seinem Vater, der Vater war in seiner Rede gegenwärtig. Immer gab es Menschen, die gegenwärtig waren, und von ihnen redete man. Immer gab es einen Verursacher für alles. Immer mehr Menschen strömten herbei. Eine Straßenbahn nach der anderen musste anhalten, und wenn sich die Türen öffneten, stiegen aus den Waggons natürlich weitere fragende Fahrgäste, von denen sich einige im Halbkreis um die Grube versammelten, um zu schauen, andere waren im Handumdrehen verschwunden, wählten alternative Routen, nicht alle hatten Zeit, sie alle waren irgendwohin unterwegs, auf der Welt passierten täglich fast dieselben Sachen.
Und immer noch hörte man nur die Stimme des philosophischen Mannes, vielleicht war es seine Eigenschaft oder sein unabänderlicher Charakterzug,...




