E-Book, Deutsch, 285 Seiten, E-Book Epub
Teffy / Ebert Champagner aus Teetassen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8412-0808-8
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Meine letzten Tage in Russland
E-Book, Deutsch, 285 Seiten, E-Book Epub
ISBN: 978-3-8412-0808-8
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Bericht einer abenteuerlichen Flucht voller Schrecken und Komik. Teffy (1872-1952) war die berühmteste Satirikerin des Zarenreichs. Sie verkehrte in den exklusivsten Salons und saß mit Rasputin an einem Tisch. 1918 brach sie aus dem hungernden Moskau zu einer Lesereise nach Kiew auf. In Wirklichkeit jedoch floh sie wie andere Aristokraten, Künstler und gutbetuchte Bürger vor den Bolschewiki. Es wird eine Reise voller Gefahren für Leib und Leben und ein Abschied für immer. Eine grandiose Trouvaille in deutscher Erstübersetzung.
Nadeshda Lochwizkaja alias Teffy (1872-1952) war die berühmteste Satirikerin des Zarenreichs. Sie verkehrte in den exklusivsten Salons und saß mit Rasputin an einem Tisch. 1918 brach sie aus dem hungernden Moskau zu einer Lesereise nach Kiew auf. In Wirklichkeit jedoch floh sie wie andere Aristokraten, Künstler und gutbetuchte Bürger vor den Bolschewiki. Es wird eine Reise voller Gefahren für Leib und Leben und ein Abschied für immer.
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1
Moskau. Herbst. Kälte.
Mein Petersburger Dasein war liquidiert. Die Zeitschrift Russkoje slowo war eingestellt worden. Es gab keinerlei Aussichten für die Zukunft.
Das heißt, eine Aussicht hatte ich. Sie erschien jeden Tag in Gestalt des schielenden Odessaer Impresarios Guskin, der auf mich einredete, mit ihm nach Kiew und Odessa zu reisen, wo er für mich literarische Abende organisieren wolle.
Er argumentierte düster: »Haben Sie heute Weißbrot gegessen? Nu, morgen werden Sie das schon nicht mehr. Jeder, der kann, geht in die Ukraine. Aber niemand kann. Doch ich bringe Sie hin, ich zahle Ihnen sechzig Prozent von den Bruttoeinnahmen, im Hotel Londonskaja ist telegrafisch das beste Zimmer reserviert, direkt am Meer. Die Sonne scheint, Sie lesen ein, zwei Erzählungen, bekommen Geld dafür, kaufen sich Butter und Schinken, sind satt und sitzen in einem Café. Was haben Sie zu verlieren? Erkundigen Sie sich ruhig nach mir– mich kennt jeder. Mein Pseudonym ist Guskin. Ich habe auch einen richtigen Namen, aber der ist furchtbar schwierig. Bei Gott, fahren wir! Sie bekommen das beste Zimmer im Hotel International.«
»Sagten Sie nicht, im Londonskaja?«
»Nu, im Londonskaja. Was haben Sie gegen das International?«
Ich lief herum, mich zu beraten. Tatsächlich wollten viele in die Ukraine.
»Dieser Pseudonym, dieser Guskin, ist irgendwie seltsam.«
»Wieso seltsam?«, erwiderten Erfahrene. »Nicht seltsamer als andere. So sind sie alle, diese kleinen Impresarios.«
Die Zweifel beendete Awertschenko. Wie sich herausstellte, würde er mit einem anderen »Pseudonym« nach Kiew fahren. Ebenfalls zu einem Gastspiel. Wir beschlossen, zusammen aufzubrechen. Mit Awertschenkos Pseudonym reisten außerdem zwei Schauspielerinnen, die Sketche aufführen sollten.
»Nu, sehen Sie!«, triumphierte Guskin. »Jetzt müssen Sie sich nur noch um die Ausreisegenehmigung kümmern, dann läuft alles wie Brot mit Butter.«
Ich muss erwähnen, dass ich öffentliche Auftritte hasse. Ich kann mir nicht einmal erklären, warum. Ist eben ein Tick von mir. Und dann auch noch Pseudonym Guskin mit seinen Prozenten, die er »Perzente« nannte. Aber alle ringsum sagten: »Sie Glückliche, Sie können weg von hier!«, »Sie Glückliche– in Kiew gibt es Kuchen mit Creme.« Oder sogar nur: »Sie Glückliche– mit Creme!«
Alles lief darauf hinaus, dass ich mich auf den Weg machen musste. Alle um mich herum suchten nach Möglichkeiten für eine Ausreise, und wer es nicht tat, weil er nicht auf Erfolg hoffen konnte, der träumte zumindest davon. Leute, die sich Hoffnungen machten, entdeckten bei sich überraschend ukrainisches Blut, ukrainische Bande und Verbindungen.
»Mein Vetter besaß ein Haus in Poltawa.«
»Ich heiße eigentlich nicht Nefedin, sondern Nechwedin, von Chwedko, das kommt aus dem Kleinrussischen.«
»Ich liebe Zibulja1 mit Speck!«
»Die Popowa ist schon in Kiew, auch die Rutschkins, die Melsons, die Kokins, die Pupins, die Fiks, die Spruks. Alle sind schon dort.«
Guskin entfaltete Geschäftigkeit.
»Morgen um drei bringe ich den schlimmsten Kommissar der Grenzstation zu Ihnen. Ein Tier. Er hat gerade das ganze Ensemble der Fledermaus ausgezogen. Bis auf den letzten Faden geplündert.«
»Na, wenn sie schon Mäuse ausziehen, wie sollen wir da durchkommen!«
»Darum bringe ich den Mann her, zum Kennenlernen. Seien Sie nett zu ihm, bitten Sie ihn, uns passieren zu lassen. Heute Abend gehe ich mit ihm ins Theater.«
Ich begann, mich um die Ausreise zu kümmern. Zuerst in einer Institution, die für Theaterbelange zuständig war. Dort erteilte mir eine sehr verträumte Dame mit einer Frisur à la Cléo de Mérode, die dick mit Schuppen bestäubt war und von einem angelaufenen Kupferreif zusammengehalten wurde, die Erlaubnis zur Gastspielreise.
Dann folgten viele, viele Stunden in einer endlosen Schlange in einer Art Kaserne oder Baracke. Schließlich nahm ein Soldat mit Bajonett meine Papiere entgegen und brachte sie zu seinem Vorgesetzten. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und heraus kam »er persönlich«. Wer er war, weiß ich nicht. Aber er war, wie man damals sagte, »bis an die Zähne bewaffnet«.
»Sind Sie die und die?«
»Ja«, bekannte ich. (Leugnen war jetzt ohnehin zwecklos.)
»Die Schriftstellerin?«
Ich nickte stumm. Ich fühlte, dass alles verloren war– sonst wäre er nicht herausgeschossen gekommen.
»Also, seien Sie so gut und schreiben Sie Ihren Namen in dieses Heft. So. Setzen Sie das Datum dazu.«
Ich schreibe mit zitternder Hand. Weiß das Datum nicht mehr. Auch das Jahr nicht. Eine erschrockene Stimme hinter mir flüstert es mir zu.
»So-o!«, sagt »er persönlich« finster. Runzelt die Stirn. Liest. Und plötzlich verzieht sich sein drohender Mund zu einem schiefen Lächeln. »Das ist für mich… Ich wollte gern ein Autogramm!«
»Sehr schmeichelhaft!«
Die Genehmigung war erteilt.
Guskin entfaltete eine immer eifrigere Geschäftigkeit. Er schleppte den Kommissar an. Der Kommissar war grässlich. Kein Mensch, sondern eine Nase in Stiefeln. Es gibt Kopffüßer, und er war ein Nasenfüßer. Eine riesige Nase auf zwei Beinen. In einem Bein saß vermutlich das Herz, im anderen fand die Verdauung statt. Die Beine steckten in gelben Schnürstiefeln bis über die Knie. Offenkundig hatte der Kommissar eine Schwäche für diese Stiefel und war stolz auf sie. Ja, das war seine Achillesferse. In diesen Stiefeln saß sie– also wetzte die Schlange ihren Giftzahn.
»Man hat mir gesagt, dass Sie die Kunst lieben…«, holte ich weit aus und… unterbrach mich plötzlich, naiv und ganz Frau, als könnte ich den Impuls nicht beherrschen: »Ach, was für wundervolle Stiefel!«
Die Nase wurde rot und schwoll leicht an.
»M-m… die Kunst… ich liebe das Theater, auch wenn ich bisher selten…«
»Entzückende Stiefel! Sie haben geradezu etwas Ritterliches. Ich glaube, Sie sind überhaupt ein außergewöhnlicher Mensch!«
»Nein, wieso denn…«, verteidigte sich der Kommissar schwach. »Sagen wir, ich schwärme von Kindesbeinen an für die Schönheit und für Heldentum… für den Dienst am Volk…«
Die Begriffe »Heldentum« und »Dienst« waren für meine Angelegenheit gefährlich. Im Namen dieses Dienstes war die Fledermaus geplündert worden. Ich musste mich eher auf die Schönheit stützen.
»O nein, leugnen Sie es nicht! Ich spüre in Ihnen eine zutiefst künstlerische Natur. Sie lieben die Kunst, Sie fördern ihr Eindringen in die Volksmassen. Ja, in die Massen, in die Menge, in die Breite. Ihre Stiefel sind wundervoll… Solche Stiefel trug höchstens Torquato Tasso… wenn überhaupt. Sie sind genial!«
Der letzte Ausruf entschied die Sache. Zwei Abendkleider und ein Flakon Parfüm würden als Produktionsinstrumente die Grenze passieren dürfen.
Am Abend ging Guskin mit dem Kommissar ins Theater. Es lief die Operette Katharina die Große, die Autoren waren Lolo und ich…
Der Kommissar wurde weich, war gerührt und ließ mir ausrichten, dass »die Kunst tatsächlich etwas für sich« habe und dass ich alles ausführen könne, was ich bräuchte, er werde »schweigen wie ein Fisch auf dem Eis«.
Danach habe ich den Kommissar nicht mehr gesehen.
Die letzten Moskauer Tage verliefen wirr und chaotisch.
Aus Petersburg kam Kasa-Rosa, die Sängerin am Starinny teatr gewesen war. In diesen denkwürdigen Tagen offenbarte sie eine verblüffende Fähigkeit: Sie wusste, wer was hatte und wer was brauchte.
Sie kam herein, blickte mit ihren schwarzen Augen enthusiastisch in den Raum und sagte: »An der Ecke Kriwo-Arbatski-Gasse, im Laden von Surow, gibt es noch anderthalb Arschin Batist. Den müssen Sie unbedingt kaufen.«
»Aber ich brauche keinen.«
»O doch. In einem Monat, wenn Sie zurückkommen, wird es nirgendwo mehr welchen geben.«
Ein andermal kam sie außer Atem angerannt.
»Sie müssen sich sofort ein Samtkleid nähen lassen!«
»?«
»Sie wissen selbst, dass Sie unbedingt eins brauchen. An der Ecke Moskatelnaja verkauft eine Hausfrau einen Vorhang. Sie hat ihn gerade erst runtergerissen, ist noch ganz frisch, mitsamt den Nägeln. Das wird ein wundervolles Abendkleid. Das brauchen Sie unbedingt. Eine solche Gelegenheit kommt nie wieder.«
Ihr Gesicht war ernst, fast tragisch.
Ich habe eine schreckliche Abneigung gegen die Wendung »nie wieder«. Selbst wenn man mir zum Beispiel sagte, ich würde nie wieder Kopfschmerzen haben, wäre ich wahrscheinlich erschrocken.
Ich beugte mich Kasa-Rosa und kaufte den exklusiven Samt mit sieben Nägeln.
Seltsam waren diese letzten Tage.
Um eine Aufführung der Csárdásfürstin zu sehen, liefen wir durch die nächtlich schwarzen Straßen, in denen Passanten ermordet und ausgeraubt wurden, wir saßen in schäbigen Cafés voller Leute in zerrissenen, nach nassem Hund riechenden Mänteln und hörten jungen Dichtern zu, die Gedichte rezitierten und dabei heulten wie hungrige Wölfe. Diese jungen Dichter waren damals in Mode, und selbst der hochmütige Brjussow war sich nicht zu...