E-Book, Deutsch, Band 5, 268 Seiten
Reihe: Kajsa Coren
Teige Die Frau, die verschwand
3. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8412-1600-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Norwegen-Krimi
E-Book, Deutsch, Band 5, 268 Seiten
Reihe: Kajsa Coren
ISBN: 978-3-8412-1600-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine mysteriöse Klinik und tödliche Geheimnisse.
Die Journalistin Kajsa zieht sich auf eine Insel bei Oslo zurück. Dort erhält sie Besuch von einem Mann, der ihr von einer vermissten Frau namens Julia erzählt. Wenig später wird dieser Mann tot aus dem Meer gezogen. Der Fall der Verschwundenen, von dem er berichtete, liegt Jahre zurück und wurde nie aufgeklärt. Kajsas Spürsinn ist geweckt: Was hat es mit der Klinik auf sich, in der Julia oft war? Und warum kehrt ausgerechnet jetzt ihre Mutter, eine Psychiaterin, auf die Insel zurück?
Bestsellerspannung aus Norwegen: der fünfte Fall für Kajsa Coren.
Trude Teige, Jahrgang 1960, ist eine bekannte Journalistin und TV-Moderatorin. Mit ihren Krimis und historischen Romanen gehört sie zu den erfolgreichsten Autorinnen Norwegens. Sie hat drei erwachsene Kinder und lebt mit ihrer Familie am Oslofjord. Gabriele Haefs übersetzt aus dem Schwedischen, Norwegischen, Dänischen, Englischen, Niederländischen und Irischen, wofür sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat. Sie lebt in Hamburg. Andreas Brunstermann übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Norwegischen und Englischen. Er hat u.a. Roy Jacobsen, Jan-Erik Fjell und Jørn Lier Horst ins Deutsche übertragen. Er lebt in Berlin.
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2
Losvika, 14.März2016
Kajsa Coren ließ beim Kinderwagen die Bremsen einrasten. Dann hob sie sich den dreieinhalb Jahre alten Sohn Jonas auf die Hüfte, warf sich die Tasche über die Schulter und betrat das Hotel von Losvika.
Warum um alles in der Welt hatte sie sich zu diesem Treffen mit einem Fremden bereiterklärt, der nicht verraten wollte, worüber er mit ihr zu sprechen wünschte, überlegte sie, als sie Jonas auf den Fahrstuhlknopf drücken ließ.
Sie klopfte an die Tür von Nummer 210 und öffnete sie, als eine Stimme »Herein« sagte. Neugier, dachte sie, und: Man kann nie wissen. Es war schon häufiger vorgekommen, dass jemand sich an sie gewandt hatte, ohne gleich einen Grund zu nennen. Einige Male hatte das durchaus zu interessanten Reportagen geführt.
Der Mann stand vor einem der großen Fenster und schaute hinaus auf den Fjord. »Es ist schön hier draußen am Meer«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
Er sprach das Wort »schön« auf eine Weise aus, die für sie schwedisch klang, weit hinten im Mund, mit sehr viel Atem.
»Ja, das stimmt allerdings«, sagte sie und blieb abwartend bei der Tür stehen.
Erst jetzt drehte er sich halbwegs um, schaute sie über seine Schulter hinweg an.
»Sie kommen ursprünglich von hier, nicht wahr?«, fragte er in einem Gemisch aus Norwegisch und Schwedisch.
»Ich bin hier geboren, aber wir sind nach Ostnorwegen umgezogen, als ich zehn war. Vor zwei Jahren bin ich mit Mann und Kindern zurückgekehrt.«
Er winkte sie zu sich, reichte ihr die Hand. »Göran Nordin, freut mich. Und wer ist der kleine Knabe?«, fragte er mit Blick zu Jonas, der verlegen sein Gesicht an Kajsas Brust schmiegte.
»Wild und schön«, sagte der Mann dann und wandte sich wieder der Aussicht zu. »Vor allem bei Wind.«
Erst jetzt sah sie, dass sein halbes Gesicht entstellt war. Seine gesamte Stirn, Teile der Nase und die eine Wange waren von rötlichem Narbengewebe bedeckt. Das linke Augenlid hing herab und ließ ihn wehmütig aussehen. Es war schwierig, sein Alter zu schätzen, vielleicht Anfang dreißig. Er war groß, an die eins neunzig. Er hatte sich die Haare abrasiert, bis auf ein knotiges Feld an der Seite, das eine Fortsetzung des Narbengewebes im Gesicht war. Sein Ohr war deformiert, fast aller Knorpel war verschwunden. Das Kinn war von einem dichten, gepflegten Bart bedeckt, und er trug eine moderne Brille mit dünner, schwarzer Fassung.
Das Losvika Hotel war aus Glas und Schiefer gebaut und passte sich der Landschaft an der Küste von Sunnmøre hervorragend an. Es hatte heftige Auseinandersetzungen um diesen Bau gegeben, viele hatten das Hotel für einen hässlichen Eingriff in die schöne Natur gehalten. Aber die Proteste waren immer leiser geworden, je weiter die Bauarbeiten fortschritten.
Kajsa schaute auf das Gartenrestaurant des Hotels hinab, das gleich unter dem Fenster lag. Es war Mitte März. Hier draußen am Meer kam der Frühling frühzeitig, aber in diesem Jahr war er bisher kühl und feucht gewesen, deshalb waren draußen noch keine Möbel aufgestellt worden. Mit Ausnahme einer an einem Steg vertäuten Schmack gab es im Gästehafen des Hotels keine Boote. Die Aussicht war großartig. Der weite Fjord verengte sich in nördlicher Richtung zwischen zwei Inseln. In der Ferne, im Osten, ragten die zackigen Gipfel der Sunnmørsalpen in den Himmel. Ein leichter Dunst trieb langsam über der Wasseroberfläche.
»Boot«, sagte Jonas und zeigte darauf.
Ein kleines Fischerboot umrundete die Landspitze gleich unterhalb des Hotels, dicht gefolgt von einer Schar Möwen. An Deck stand ein Mann in orangem Ölzeug und nahm Fische aus. Er warf den Abfall ins Meer, zur Begeisterung der Möwen. »Glauben Sie, er ist glücklich?«, fragte Göran Nordin und zeigte auf den Mann im Boot.
Kajsa schaute verstohlen zu ihm hinüber, überrascht über diese Frage. »Wer weiß?«
»Ja, wer weiß«, wiederholte er leichthin. »Sogar hier draußen, wo alle einander kennen, weiß man nicht, ob der Nachbar glücklich ist.«
»Nein, so ist es wohl«, erwiderte Kajsa.
Göran Nordin stemmte die Hände auf die Fensterbank.
Kajsa fiel auf, dass er am kleinen Finger einen Goldring mit einem türkisen Stein trug. Der Mann passte mit seiner schlichten maskulinen Eleganz in dieses modern eingerichtete Zimmer.
»Worüber wollten Sie mit mir sprechen?«, fragte sie und setzte Jonas auf den Boden.
»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte er und zeigte auf einen braunen Sessel. »Möchtest du eine Limo?«, fragte er Jonas und nahm eine Cola aus der Minibar. Jonas kletterte auf den Sessel. »Was sagst du zu dem Herrn?«, fragte Kajsa, als Nordin ihm die Flasche reichte.
»Danke«, sagte der Dreijährige verlegen.
Sie zog ein Papiertaschentuch hervor und wischte ihm über die Nase. Er war wegen einer Erkältung an diesem Tag nicht im Kindergarten.
»Kaffee?«, fragte Göran Nordin und ging hinüber zu einer kleinen Espressomaschine, die am Rand des Schreibtisches stand. Kajsa nahm dankend an und beobachtete ihn im Spiegel an der Wand, während er eine Kapsel in die Maschine legte.
»Ende Oktober 2002 ist aus Enden in Flatbygda eine junge Frau verschwunden. Sie wurde nie gefunden.« Er reichte ihr eine Tasse.
Julia, dachte Kajsa. Sie hatte lange über den Fall berichtet, hatte nachts wachgelegen und das ernste Gesicht vor sich gesehen, den verlegenen Blick auf dem der Vermisstenmeldung beigefügten Foto. Jede Journalistin hat nach einigen Jahren einen solchen Fall, der sie niemals loslässt. Erlebnisse, die sich festbrennen. Kajsa hatte mehrere. Dramatische Wahlnächte, einen Minister mit argen Problemen, ein führender Geschäftsmann, der wegen Steuermauscheleien seinen Posten aufgeben musste. Aber nichts davon konnte sich mit den schrecklichen Schicksalen normaler Menschen messen; die lasteten mit einem ganz anderen Gewicht auf ihr. Und nichts, worüber sie berichtet hatte, hatte sie so schwer bedrückt wie die Sache mit Julia. Vielleicht lag es daran, dass sie sich Julia so leicht als Kind vorstellen konnte, das im Sommer hier am Meer barfuß durch Gras und Ebbestreifen sprang, wie Kajsa es selbst getan hatte.
Aller Wahrscheinlichkeit einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Niemals gefunden. Gab es ein schrecklicheres Schicksal?
Nachdem sie mit Karsten und den Kindern hergezogen war, hatte sie mehrmals mit dem Gedanken gespielt, Zeugen von damals aufzusuchen, noch einmal mit allen zu sprechen, vielleicht einen Dokumentarfilm zu drehen, etwas herzustellen, das andere dazu bringen könnte, sich doch noch an etwas zu erinnern – oder etwas zu erzählen, was auf dem Gewissen lastete. Sie sah noch immer allerlei Bilder vor sich, wenn der Fall erwähnt wurde, sie waren wie Szenen aus einem Film: die Leute mit den gelben Reflexwesten, die am Meer suchten, in Bootshäusern, Schuppen, an den Berghängen. Junge Mädchen, die einander auf dem Schulhof weinend umarmten; ältere Menschen, die sich im Laden zueinander vorbeugten und mit gedämpften Stimmen über die Sache sprachen.
»Der Fall Julia?«, fragte sie überrascht.
»Ich wollte fragen, ob Sie wohl bereit wären, mit Leuten zu reden, mit Zeugen von damals.«
»Aber warum …?«
»Wenn ich das richtig verstanden habe, dann haben Sie damals über Julias Verschwinden berichtet?«, unterbrach er sie. »Ich habe versucht, Sie über Kanal 4 zu erreichen, ich habe mit Ihrem Chef gesprochen, und der hat mit Ihre Telefonnummer gegeben.«
Das also war die Erklärung. Er hatte sich darüber informiert, wer über den Fall berichtet hatte, und dann hatte er sie gefunden. Noch dazu in der Gemeinde, in der Julia verschwunden war.
»Ja«, sagte sie. »Ich wurde einen Tag, nachdem Julia vermisst gemeldet worden war, nach Vestøy geschickt, und ich habe an den ersten Tagen über die Suchaktion berichtet. Aber was …«
»Es war sicher ein Vorteil, sich hier auszukennen?«
Kajsa erzählte, dass sie damals seit vielen Jahren nicht mehr in Vestøy gewesen war. »Außerdem liegt der Ort, wo Julia verschwunden ist, auf der anderen Seite der Insel. Da kenne ich mich nicht besonders gut aus.«
»Was wissen Sie noch über den Fall?«
»Das meiste, glaube ich, so etwas vergisst man nicht«, sagte Kajsa. »Julia hatte ein Jugendtreffen im Gebetshaus besucht und war früher gegangen als die anderen. Sie ist nie nach Hause gekommen. Es wurde überall gesucht, aber keine einzige Spur wurde gefunden. Eine Woche nach ihrem Verschwinden – da war ich nicht hier, sondern war von einem Kollegen abgelöst worden – wurde ihr Bruder Allan festgenommen. Ein Nachbar, sogar ein Freund des Bruders, hatte bei der Polizei ausgesagt, er habe Julia und ihren Bruder am fraglichen Abend gegen halb zwölf auf der Straße ein Stück von ihrem Haus entfernt gesehen.«
»Aber der Bruder wurde nach einigen Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt«, sagte Nordin.
Jonas wollte auf Kajsas Schoß, und deshalb hob sie ihn hoch. »Ja, aber trotzdem glaubten viele, dass er etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hatte.«
»Haben Sie mit Julias Familie gesprochen?«, fragte Göran.
»Nein, da hatte die Presse keinen Zugang. Alle haben es natürlich versucht, aber sie wollten mit niemandem reden. Ihre Mutter hat sich nie zu dem Fall geäußert, und ihr Vater war nicht hier, die Eltern waren geschieden. Aber wozu wollen Sie meine Hilfe denn nun genau?«
...