E-Book, Deutsch, 148 Seiten
Theuriet Gérards Heirat
1. Auflage 2017
ISBN: 978-80-272-3790-6
Verlag: Musaicum Books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 148 Seiten
ISBN: 978-80-272-3790-6
Verlag: Musaicum Books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In 'Gérards Heirat' von André Theuriet tauchen Leser in die Welt der französischen Provinz des 19. Jahrhunderts ein. Der Roman erzählt die Geschichte von Gérard, einem jungen Mann aus bescheidenen Verhältnissen, der sich in die wohlhabende Erbin Rica verliebt. Doch ihre unterschiedlichen sozialen Positionen stellen Hindernisse dar, die überwunden werden müssen. Theuriets literarischer Stil ist geprägt von einer nostalgischen Atmosphäre und detaillierten Beschreibungen der Landschaft und Charaktere. Das Buch zeichnet sich durch seine feinfühlige Darstellung von Liebe, sozialen Unterschieden und den Zwängen der Gesellschaft aus, die sowohl traditionelle als auch realistische Elemente vereint. André Theuriet war ein französischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, der für seine Romane über ländliche Lebensweisen und romantische Erzählungen bekannt war. Sein eigenes Leben auf dem Land spiegelt sich in seinen Werken wider und verleiht ihnen Authentizität und Tiefe. 'Gérards Heirat' ist ein fesselnder Roman, der Liebhaber klassischer Literatur anspricht und Einblicke in die sozialen Strukturen und Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts bietet. Mit seiner eindringlichen Charakterdarstellung und mitreißenden Handlung ist dieses Buch eine hervorragende Wahl für Leser, die sich durch emotionale Geschichten und historische Settings begeistern lassen.
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Am anderen Morgen – es war ein Rasiertag – saß der Herr von Seigneulles in einem mit Leder bezogenen Lehnsessel mitten in seiner Küche zwischen seiner Dienerin Marie und seinem Barbier Magdelinat. Marie hatte ein helles Holzfeuer angezündet, um das zum Seifenschaum bestimmte Wasser etwas zu erwärmen, und die Flamme warf ihren lichten Schein auf die Beschläge des Bratspießes, auf die blanken Reihen der Pfannen und Kupferkessel und auf die mit Porzellan beladene Anrichte. Ein Sonnenstrahl drang durch die Gardinen aus rotem Kattun und umwob die weißen Haare des Herrn von Seigneulles und das verwitterte bartlose Gesicht Magdelinats, der das Rasiermesser über den schwarzen Lederriemen zog, mit einem rosigen Schimmer. Der Barbier war ein schmeichlerischer, kriechender Schönredner und nebenbei tückisch wie eine Wespe und furchtsam wie ein Hase. Er kannte zuerst die kleinsten Skandalgeschichten, die sich in Juvigny ereigneten, und verstand es, dieselben mit boshaften Glossen zu würzen und ihnen, je nach dem Gaumen seiner Kunden, einen mehr oder weniger gepfefferten Geschmack zu geben. Herr von Seigneulles war der einzige, der die Geschichten des Barbiers schlecht aufnahm, und Magdelinat grollte ihm deshalb im geheimen. Er hatte schon beim Aufstehen das Abenteuer vom »Weidenball« erfahren und hätte es für sein Leben gern dem Chevalier aufgetischt, um dessen hochmütiges, absprechendes Wesen etwas zu dämpfen. Er konnte kaum den Mund halten, fürchtete aber andererseits die stürmischen Zornesausbrüche des Herrn von Seigneulles; während er sein Rasiermesser abzog, sann er hin und her, um einen sinnreichen Ausweg zu finden, der ihm ermöglicht hätte, seine Lust zu büßen, ohne Gefahr zu laufen, sich mit seinem Kunden zu entzweien. An jenem Tag schien der alte Gardeoffizier sich weniger als je auf eine Unterhaltung mit dem Perückenmacher einlassen zu wollen. Er war schon sehr übellaunig aufgewacht; sein mageres Gesicht war streng, die grauen Augen starrten fest vor sich hin, die Brauen waren finster zusammengezogen und die Adlernase schien noch spitziger als sonst zu sein. Er that den Mund nicht auf und blieb selbst für die Schmeicheleien seiner beiden Lieblingskatzen unempfindlich, die sich vergeblich an seinen langen Beinen rieben und ein leises, kurzes Miauen dabei hören ließen.
»Wo ist mein Sohn?« fragte er plötzlich. Marie antwortete, daß Herr Gérard, der schon in aller Frühe in den Wald gegangen sei, gesagt habe, er wisse nicht, ob er bis Mittag zurück sei, und man solle mit dem Essen nicht auf ihn warten. Herr von Seigneulles brummte unzufrieden vor sich hin.
»Herr Gérard,« sagte freundlich der Barbier, »ist ein hübscher junger Mann und verspricht ein höchst angenehmer Tänzer zu werden.«
»Woher wissen denn Sie das?« sagte Herr von Seigneulles trocken.
»O, ich weiß es nur vom Hörensagen!«
»Was soll das heißen mit Ihrem Hörensagen? ... Mein Sohn hat noch nie einen Fuß in einen Ballsaal gesetzt, und ich glaube nicht, daß er auf dem Marktplatz Luftsprünge macht.«
Magdelinat hustete zurückhaltend, während er seinen Seifenschaum in dem Barbierbecken schlug.
»Kennen der Herr Baron vielleicht den jungen Laheyrard?«
»Diesen Tölpel, der das Horn bläst und mich im Schlafen stört? ... Gott sei Dank, nein! und ich habe auch nicht die geringste Lust, ihn kennen zu lernen.«
»Herr Laheyrard ist auch ein hübscher Tänzer, und dazu noch ein lustiger Bursche, der vor nichts zurückschreckt.« Herr von Seigneulles machte eine ungeduldige Bewegung, und Magdelinat beeilte sich, ihm mit seinem Pinsel über Kinn und Wangen zu fahren; aber als das Gesicht des Chevaliers mit einer dicken Lage Schaum beschmiert und er so außer stand gesetzt war, zu sprechen, in jenem kritischen Augenblick, in dem der Kunde dem Barbier vollständig preisgegeben ist, fing der hinterlistige Magdelinat wieder an: »In der ganzen Stadt spricht man von nichts als von dem Handel, den der junge Laheyrard gestern auf dem ›Weidenball‹ hatte. Stellen Sie sich vor, gnädiger Herr, daß er gestern abend fünf oder sechs bösartigen Tölpeln standhielt, die einem jungen Mann, der mit den dortigen Gebräuchen noch unbekannt und zum erstenmal auf dem Ball war, Angelegenheiten machen wollten! Ist es zu glauben? Mit einem reizenden Jungen Streit zu suchen, nur weil er von Adel ist und sein Vater Karl X. betrauert! ...«
Er wurde von dem Chevalier, der seinen Arm so fest hielt, wie ein Schraubstock, heftig unterbrochen. »Seinen Namen!« schrie Herr von Seigneulles durch den wogenden Schaum. »Es war Gérard, nicht wahr? Zum Kuckuck! Verschonen Sie mich mit Ihrer Geheimniskrämerei und reden Sie offen heraus!«
»Au! au! Lassen Sie mich los!« stöhnte der erschrockene Barbier, »ich war nicht dort ... Man hat allerdings unbestimmt auch von Herrn Gérard gesprochen, aber ich bestätige nichts ... Halten Sie sich ruhig, Herr von Seigneulles, Sie könnten sich sonst an meinem Rasiermesser verletzen ...«
»Erzählen Sie mir alles!« entgegnete der Chevalier mit finsterer Miene.
Der boshafte Friseur ließ sich nicht lange bitten. Ohne auf die Grimassen Mariens zu achten, die ihm hinter dem Lehnsessel drohend die Faust zeigte, spann er seine Erzählung bis zu Ende weiter und verweilte insbesondere bei dem von Gérard getanzten Kontertanz, bei seiner Bewunderung für die kleine Regina und dem Auftritt mit den schwarzen Handschuhen, und schloß mit dem siegreichen Dazwischentreten von Marius Laheyrard. Herr von Seigneulles hörte ihm zu, ohne sich zu rühren; die Muskeln seines Gesichts waren schlaff, seine Stirne düster geworden, und die Augen glänzten nur noch trübe. Er schien so verdrießlich zu sein, daß Magdelinat fürchtete, er sei doch zu weit gegangen und die Sache dadurch zu verbessern suchte, daß er hinzufügte, alles in allem sei Regina ein ganz hübsches Mädchen, und mancher möchte an Gérards Stelle sein.
»Genug!« zürnte der finstere Chevalier, »glauben Sie denn, mein Sohn sei fähig, sich an diese Arbeiterin zu hängen?«
»Ha, wenn das auch wäre,« erwiderte der Barbier lachend, »solange ein junger Mann mit heiler Haut nach Hause kommt, braucht man sich um das übrige nicht zu kümmern.«
»Aber er kann das junge Mädchen ins Gerede bringen!« rief Herr von Seigneulles entrüstet.
»Bah! Regina ist schlau genug! Im übrigen sind das ihre Sachen und kann für Herrn Gérard doch nicht in Betracht kommen.«
»Herr ... Magdelinat,« sagte der Chevalier so verächtlich, als er konnte, »diese Moral mag bei euch Krämern in der unteren Stadt gelten; aber hier, bei mir, herrscht der Grundsatz, daß man für den Schaden aufkommt, den man stiftet. Die Seigneulles haben stets tadellos gelebt, und mein Sohn wird auf dieses junge Mädchen Rücksicht nehmen. Ich will nicht, daß er auf einen anstößigen Vergleich oder noch Schlimmeres eingeht. – Marie,« fügte er hinzu, während er sich stolz, erhob und sein Kinn abtrocknete, »Marie, sage Baptist, er solle Bruno satteln!«
Herr von Seigneulles ging hinaus, ohne Magdelinat, der, von Mariens Vorwürfen überhäuft, seine sieben Sachen zusammenpackte, auch nur noch eines Blickes zu würdigen.
Als Bruno gesattelt war, kam der Chevalier in seinem langen braunen Ueberrock, den breitränderigen Hut auf dem Kopf, in den Hof hinab, bestieg sein altes Pferd und trat seinen täglichen Spazierritt an. Jeden Morgen machte er, nachdem er seinen Anzug vollendet und die Siebenuhrmesse gehört hatte, einen zweistündigen Ritt in die Umgegend. Aufrecht im Sattel sitzend, verlor er nicht einen Zoll breit von seiner stattlichen Größe und ritt so im Schritt durch die Straßen Juvignys. So oft er an einem der gipsenen Muttergottesbilder vorbeikam, welche die Häuser der Weingartner zieren und die am Marienfest mit einer blauen Traube geschmückt werden, versäumte er es nie, Bruno anzuhalten und fromm das Haupt zu entblößen. Er mußte in sehr ernste Gedanken versunken sein, denn an diesem Tag bemerkte er weder die rebumwachsenen Häuser, noch die Madonnenbilder. Er hatte das Haupt gesenkt und grübelte bekümmert über Magdelinats Klatscherei nach.
»Also ist Gérard der Ansteckung doch nicht entgangen,« dachte er. »Ich habe ihn vergeblich überwachen und fromm erziehen lassen und ihm den Anblick einer leichtfertigen, gottlosen Welt vorenthalten – es hat nichts genutzt! ... Elendes Jahrhundert!« fuhr er fort und versetzte Bruno, der sich die Zerstreuung seines Herrn zu nutze gemacht und begonnen hatte, die jungen Triebe einer Hecke abzugrasen, einen Hieb mit der Reitgerte, »Zeitalter ohne Grundsätze und ohne Ehrfurcht, deine Verderbnis teilt sich selbst den nach den heiligsten Grundsätzen gebildeten Seelen mit! Sich auf einem solchen Balle bloßzustellen! Hat Gérard denn gar kein Schamgefühl? ... Es ist schrecklich, Söhne zu haben! Sobald sie ihre zwanzig Jahre fühlen, gleichen sie jenen Weinen, die zur Zeit der Traubenblüte in Gärung treten und die Flaschen zersprengen, wenn man nicht aufpaßt ... Zum Kuckuck, sind denn die Herzen der jungen Männer stets dieselben?«
Mein Gott, ja, alle sind gleich! Und wenn Herr von Seigneulles, der einen von Lindenbäumen begrenzten Rain entlang ritt, nur umgeschaut hätte, so würde er gesehen haben, daß in der Schöpfung selbst das geringste Tierchen den zwanzigjährigen Jünglingen glich, und denselben Versuchungen zur Beute fiel; die ganze Natur trug das Zeichen dieser Erbsünde. Unter dem honigreichen Laubmerk der Lindenbäume verfolgten sich prächtige, perlmutterglänzende Schmetterlinge, zu zwei und zwei; grüne Libellen schaukelten sich paarweise auf den Stengeln der Weiden, und jenseits der Hecke küßten die Schnitter...




