E-Book, Deutsch, Band 2, 320 Seiten
Theurillat Eistod
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8437-0191-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2, 320 Seiten
Reihe: Ein Kommissar-Eschenbach-Krimi
ISBN: 978-3-8437-0191-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Theurillat, geboren 1961 in Basel, studierte Wirtschaftswissenschaften, Kunstgeschichte und Geschichte und arbeitete jahrelang erfolgreich im Bankgeschäft. Die Romane mit Kommissar Eschenbach sind eine der beliebtesten Krimiserien der Schweiz. 2012 wurde Rütlischwur mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Michael Theurillat lebt mit seiner Familie in der Nähe von Zürich.
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2
Es war immer dasselbe Gefühl von Armseligkeit, das Eschenbach beschlich, wenn er an einem Ort stand, an dem Gewalt ein Leben ausgelöscht hatte. Im Crazy Girl war es sichtbar: das Ärmliche, das diesen Plätzen anhaftete. Man würde es später auf den Polizeifotos erkennen können: der abgetretene Filzboden im Flur und der Gilb an den Wänden. Die Glühbirnen, die nackt von der Decke hingen. Das fahle Licht und der Muff.
Eschenbach hatte sich vom diensthabenden Offizier die Personalien des Amokschützen und der Toten geben lassen. Jetzt, an der Bar im Erdgeschoss des Gebäudes, sah er auf das Blatt Papier: Martin Zgraggen, Jahrgang 1963. Darunter stand eine Adresse in Zürich-Höngg. »Von wegen Ausländer«, murmelte er. Sein Haar klebte ihm an der schweißnassen Stirn; er fröstelte. »Kennen Sie die Frau, Nora?«, fragte er das dunkelhäutige Mädchen hinter der Theke. Er deutete mit dem Finger nach oben. Nora K. und ein paar Fragezeichen. Mehr stand nicht auf dem Zettel.
Der Kaffeeautomat fauchte und spritzte heißes Wasser in ein Whiskyglas.
Die junge Frau schüttelte den Kopf.
»Schon lange hier?«, fragte er weiter.
Es kam ein Schulterzucken. Dann nahm sie einen Bierdeckel, legte ihn auf den Holztresen vor Eschenbach und stellte das Glas mit dem Wasser drauf.
»Kein Deutsch?«
Wieder Kopfschütteln.
»Brasil?«
Sie nickte und lächelte.
Eschenbach kramte in der Manteltasche nach den Medikamenten. Fiebersenkend und schmerzstillend stand auf der einen Packung; auf der anderen hieß es: Lindert Husten und fördert den Auswurf. Er tat je eine Tablette ins Glas und rührte. Nachdem er in den Packungsbeilagen etwas über die Nebenwirkungen gelesen hatte, überkam ihn ein leichtes Gefühl von Übel- und Müdigkeit. Während er langsam und in kleinen Schlucken die grellgelbe Flüssigkeit trank, sah er dem Mädchen zu. Sie räumte den Geschirrspüler aus und summte dabei. Mit einem weißen Lappen trocknete sie das Geschirr nach, bevor sie die Gläser ins Regal stellte. Ab und zu warf sie dem Kommissar einen verstohlenen Blick zu. Wenn Eschenbach lächelte, tat sie es auch.
»Pferdepisse«, brummte er, nachdem er den letzten Schluck getrunken und das Glas zurück auf die Holztheke gestellt hatte. Mit einem großen Stofftaschentuch trocknete er sich Mund und Stirn, schnäuzte sich einmal kräftig und glitt vom Barhocker. »Adios«, sagte er.
»Até logo.« Das Mädchen hob die Hand zu einem halbherzigen Winken und sah ihm nach, wie er langsam zum Ausgang ging.
Eschenbach schleppte sich bis zur Badenerstrasse, dort hatte er Glück. Ein Taxi setzte gerade einen Fahrgast ab. Der Kommissar stieg ein.
»Ich bin besetzt«, knurrte der ältere Herr am Steuer.
»Kripo Zürich«, sagte Eschenbach und hielt dem Fahrer seinen Dienstausweis unter die Nase. »Fahren Sie mich bitte zum Paradeplatz!«
»Dann halt«, kam es halblaut. »Ich kann auch nichts dafür.
Bei dem Wetter fährt gerade mal die Hälfte der Belegschaft. Türken und Griechen – die kennen Schnee nur vom Hörensagen.«
»Ja, ich weiß, Sie sind ein Mutiger.«
Der Taxifahrer schwieg.
Eschenbach war, als hätte ihn die Welt wieder. Die letzten Wochen war es ruhig gewesen und nun – erkältet und mit einem Kopf wie ein Bienenstock – hatte er doch noch seinen Weihnachtsmord. Wenigstens würde dieser ihn ablenken und ihm das Gefühl geben, dass er für irgendwas gut war.
Er hörte die Combox auf seinem Handy ab. Die einzige Nachricht war von Christoph Burri. Der Arzt erkundigte sich nach dem Befinden seines Patienten. »Und komm heute Abend doch vorbei – es sind alles interessante Leute … das bringt dich auf andere Gedanken.«
Der Kommissar steckte das Mobiltelefon wieder in die Manteltasche und sah zum Fenster hinaus. Der Schnee verlieh dem Paradeplatz eine Aura von Kälte. Mit hochgezogenen Schultern und Wintermänteln standen die Leute auf der Traminsel und warteten im schummrigen Licht der Abendbeleuchtung. Ungeduldig; mit Kappen und Mützen. Hier und da ein Hauch von Pelz. Das Taxi hatte noch nicht gehalten, da sah der Kommissar den Menschenauflauf vor der Boutique Grieder. Zwei Wagen der städtischen Polizei standen dort und ein Sanitätswagen versperrte einer Tram die Durchfahrt. Eschenbach beglich die Rechnung, stieg aus und überquerte gemächlich den Platz.
Eine kleine, adrette Dame stand in der äußersten Reihe auf Zehenspitzen. Es schien, als überlegte sie einen Moment, ob sie die Einkaufstaschen von Louis Vuitton auf den matschigen Boden stellen sollte. »Was ist hier denn los?«, fragte sie.
»Grieder gibt alles zum halben Preis«, sagte der Kommissar und hustete.
»Das ist ja der Hammer.« Die Frau bedankte sich.
»Gern geschehen.« Eschenbach bahnte sich einen Weg durch die Leute. »Geht’s?«, fragte er, als er endlich einen Polizisten vor sich hatte. »Kann ich helfen?« Der Kommissar zeigte seinen Dienstausweis.
»Nö, alles vorbei«, sagte der Beamte. Er deutete zum Krankenwagen. »Jemand vom Grieder hat angerufen. Hatten einen Stadtstreicher, der neben dem Eingang saß. Einen Weihnachtsbettler eben.«
»Und?«
»Tot«, sagte der Beamte. »Mause. Eingenickt vor seinem Hut mit acht Franken fünfzig drin. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Hm.«
Der Stadtpolizist hob die Schultern. »Ist nicht der erste in diesem Winter.«
»Ach, wirklich?« Eschenbach nahm das Taschentuch und schnäuzte sich.
»Ja, irgendwie traurig«, sagte der Beamte. »Den letzten haben wir auf einer Bank beim Landesmuseum gefunden. Erfroren. Das kalte Wetter gibt ihnen vermutlich den Rest.«
»Herrgott, wir haben doch Schlafstellen.« Eschenbach wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
»Wir können sie zum Brunnen führen …« Der Polizist machte eine fahrige Bewegung mit der Hand. »Aber trinken müssen sie schon selbst.«
»Vielleicht, ich weiß es nicht.« Der Beamte schwieg.
Der Kommissar musste sich noch einmal schnäuzen, dann verstaute er das Taschentuch in der Manteltasche.
Unter dem Sandsteinbogen, dort, wo der Tote gelegen hatte, sah er den Filzhut mit dem Kleingeld. Daneben, nass und verdreckt, eine schwarze Trainerjacke von Adidas. Eschenbach kam unweigerlich Kathrin in den Sinn; sie besaß ein ähnliches Modell. Nachdenklich schaute er in die Gesichter der Gaffer.
»Es gibt nichts zu sehen«, rief ein Beamter. Gemeinsam mit einer Kollegin verwies er die Leute hinter das rot-weiße Band der Absperrung.
Die knapp vierzig Stufen hinauf zur Wohnungstür waren für Eschenbach eine Eigernordwand gewesen. Schweißgebadet lag er auf der Couch im Wohnzimmer. Zwei Grog hatte er intus – darin aufgelöst die Tabletten aus Burris Medikamententüte. Zwei Stunden hatte er dagelegen und geschlafen. Der Anrufbeantworter blinkte, es war kurz vor acht. Auf dem Weg ins Bad lauschte Eschenbach Burris Stimme, die vom Band kam: eine erneute Einladung zu seiner Cocktailparty; zur Seasons Opening, wie er es nannte. Von cool drinks und hot chicks war die Rede. Eschenbach duschte.
Ob es die Wunderwirkung chemischer Substanzen war oder nur der Drang, vor sich selbst davonzulaufen; der Kommissar wusste es nicht. Er dachte auch nicht darüber nach, als er kurz vor neun mit einer Flasche Bordeaux unter dem Arm die Wohnung verließ.
»Freut mich, dass du noch kommst.« Christoph Burri trug Jeans und ein weißes Hemd. Die offenen Knöpfe am Hals zeigten solariumgebräunte Haut und den Ansatz eines sportlichen Oberkörpers.
»Ich trage Wasser in die Limmat«, sagte Eschenbach, als er dem Arzt die mitgebrachte Flasche in die Hand drückte.
»Ein Cru Bourgeois aus dem Medoc.« Burri hielt die Flasche auf Augenhöhe.
»Die Grand Crus hast du ja selbst im Keller …« Eschenbach grinste, legte seinen Mantel ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Das ist auch der Grund, weshalb ich gekommen bin.«
»Dacht ich’s mir.« Burri lachte.
»Und die hot chicks natürlich.«
»Dann ab in die gute Stube!«
Was Burri salopp als gute Stube bezeichnete, war eine geschmackvoll renovierte Villa im Englischviertel-Quartier. Hohe Decken mit Stuck, helle große Räume mit altem Fischgrat-Parkett. Es war das, was sich Intellektuelle leisteten, wenn sie Geld erbten oder – was seltener der Fall war – es auch verdienten. Bei Christoph Burri wusste Eschenbach nicht genau, zu welcher Gattung er gehörte. Die Zeit, in denen praktizierende Ärzte zu den Großverdienern zählten, war definitiv vorbei. Die galoppierenden Kosten im Gesundheitswesen sorgten dafür, dass die einstigen Götter in Weiß auf menschliche Durchschnittsgrößen schrumpften, jammerten und klagten, wie die Lehrer oder die Handwerker und Polizisten.
Eschenbach ließ sich von einer Angestellten des Catering-Service ein Glas Rotwein geben, schnappte sich von einem Tablett einen Schinkengipfel und musterte die Gäste. Die hot chicks waren mehrheitlich Damen in Eschenbachs Alter. Einige von ihnen schienen die Kleider ihrer Töchter zu tragen: zerschlissene Designerjeans, figurbetonte Tops und um den Hals ein massives Silberkreuz mit Lederriemen.
»Komm, ich stell dir ein paar Leute vor«, sagte Burri und zog den Kommissar am Ärmel. Es folgte die übliche Tortur: Namen, die er sich nicht merken würde, das interessierte Lächeln und die gespielte Freude. Am Ende blieb Eschenbach der Wunsch, sich gehörig zu betrinken.
Die junge Frau, die ihm dabei half, hieß Denise. Sie war Mitte dreißig und als »hübsches Anhängsel« von Kurt Gloor, Vorsteher des Sozialdepartements der Stadt, so...