Thien | Einfache Rezepte | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Thien Einfache Rezepte


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-20510-2
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-641-20510-2
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die preisgekrönte Erzählsammlung der Autorin des gefeierten Romans „Jene Sehnsucht nach Gewissheit“: Sieben grandiose Familiengeschichten über Liebe und Verrat, über die Sehnsucht nach Geborgenheit und das Verlassenwerden, über Glück und Trauer. Sieben unvergessliche Geschichten, erzählt mit einer Wahrhaftigkeit und Eindringlichkeit, die ihresgleichen suchen.

Zwei Schwestern, junge Mädchen, halten vor ihrem früheren Haus Wache. Es ist der Geburtstag ihrer Mutter, und sie sind allein mit dem Bus ans andere Ende der Stadt gefahren, haben der Pflegefamilie nichts gesagt, weil sie hoffen, dass ihre Mutter, die eines Tages sang- und klanglos verschwunden ist, zu ihrem alten Haus kommt und nach ihnen sucht. Eine Frau entdeckt, dass ihr Mann vorhatte, sie zu verlassen und zu seiner Jugendliebe zurückzukehren. Er wurde abgewiesen. Als diese Fremde bei einem Autounfall ums Leben kommt, steht die Ehefrau vor der Entscheidung, wie sie mit ihrem gebrochenen Mann, seiner Trauer und ihrer eigenen Verzweiflung und Wut umgehen soll.

Eine Tochter erinnert sich an die bedingungslose Liebe, die sie als Kind für ihren Vater empfand, wie sie ihm fasziniert bei den Ritualen des Kochens – Reis waschen, Fisch zubereiten – zuschaute und zur Hand ging. Und sie erinnert sich an den Moment, in dem plötzlich alles in Frage gestellt war.

Madeleine Thien spürt in ihren Geschichten den oft krummen Wegen der Liebe nach. Mit wenigen Strichen fängt sie entscheidende Szenen ein, ob in der Kindheit oder im Leben von Erwachsenen, und zeigt erschreckend klar, wie Nähe, Vertrauen und Sehnsucht den Menschen erst empfänglich machen für den Schmerz.

Madeleine Thien wurde 1974 in Vancouver, British Columbia, geboren. Ihre Eltern stammen aus Malaysia und China und emigrierten in den 1960ern nach Kanada. Als Kind begann Thien mit Ballett, Stepptanz und Akrobatik, später studierte sie Tanz, wechselte dann 1994 über zu Literatur. Ihr erstes Buch »Einfache Rezepte«, eine Sammlung von Kurzgeschichten, wurde mit vier kanadischen Literaturpreisen ausgezeichnet. Für ihren Roman »Flüchtige Seelen« erhielt Thien 2015 den LiBeraturpreis von Litprom. »Sag nicht, wir hätten gar nichts« kam 2016 auf die Shortlist des Man Booker Prize und wurde ausgezeichnet mit dem Governor General's Literary Award und dem Scotiabank Giller Prize, den höchsten Literaturpreisen Kanadas. Madeleine Thien lebt in Montreal.

Thien Einfache Rezepte jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


I


EINMAL, MITTEN IN DER NACHT, setzte sich unsere Mutter Irene auf unser Bett und zählte alle Gründe auf, warum sie unglücklich war. Sie sah zum Fenster hinaus und strich uns übers Haar, und manchmal verfiel sie in Schweigen, als ob sogar sie selbst das ganze Ausmaß nicht kennte, nicht wüsste, wo sie aufhören, was sie für sich behalten sollte. Und in alles, was sie unglücklich machte, mischten sich zugleich Dinge, die sie glücklich machten, etwa dieses Haus. Es war randvoll. Bisweilen, sagte sie, sitze sie im Badezimmer, weil das der kleinste Raum sei, der sich abschließen lasse. Aber selbst dort konnte sie uns hören, mich und meine Schwestern Helen und Joanne und unseren Vater, die wir alle die Dielenbretter zum Knarren brachten und beim Fernsehen redeten und die Stille durchbrachen. Das riss sie jedes Mal wieder heraus. Dann kam sie aus dem Bad und suchte uns. Sie meinte, sie würde uns am liebsten unter den Arm klemmen wie eine zusammengerollte Zeitung und wegrennen.

Wir waren damals noch klein – Helen war neun, Joanne sieben und ich sechs –, doch wir sahen unsere Mutter als junges Mädchen. Sie weinte sehr oft und war launisch. Sie witzelte, dass sie an ihrem dreißigsten Geburtstag durchbrennen würde. »Ist nicht mehr lange hin«, sagte sie im Scherz zu uns. »Packt lieber schon mal die Koffer.«

Wenn unsere Mutter unglücklich war, machte sie Sachen kaputt. Immer wieder knallte sie dann die Küchentür zu, bis die Scheibe darin zersprang und auf den Boden krachte. Da wir meist barfuß waren, gingen wir auf Zehenspitzen um die Scherben herum. Unser Vater ignorierte das. Er sagte: »Sagt eurer verrückten Mutter, da ist ein Anruf für sie.« Er sagte verrückt mit einem komischen Ausdruck in den Augen, als ob er eigentlich nicht daran glaubte. Doch wir sahen es selbst, wie ihr die Teller aus der Hand flogen, ihr leeres Gesicht. Unser Vater wandte sich ab und verließ das Haus. Langsam ging er die Gasse entlang.

Nur einmal verließ uns Irene. Unermüdlich warteten wir auf sie. Noch mitten in der Nacht horchten wir in unserem Bett, das breiter war als ein Schiff, auf ihr Auto. Wir kämpften gegen den Schlaf an, aber sie kam weder in dieser Nacht noch in der nächsten. Während sie fort war, saß unser Vater am Küchentisch wie ein alter Mann. Schon waren Büschel seiner Haare grau, und die Haut hing ihm schlaff um Mund und Augen. »Wie ein Hund«, sagte er und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. »Sehe ich nicht aus wie ein Hund?«

Meine Schwestern und ich fuhren mit unseren Rädern die Gasse hinter dem Haus hin und her. Als wir außer Atem waren, spielten wir in der Garage und kletterten auf das Dach des braunen Malibu unseres Vaters. Er steckte den Kopf herein und fragte: »Was ist denn hier los?«

»Teegesellschaft«, teilte Helen ihm mit, obwohl wir in Wahrheit gar nichts Besonderes taten.

Er nickte. »Euch gefällt es in der Garage besser als im Haus. Das liegt an eurer Mutter. Mit ihrem Kopf stimmt was nicht.«

Eines Tages nach der Schule war sie wieder da, auf der Couch, ihre Finger wund vom Händeringen. »Ich habe euch vermisst«, sagte sie und zog uns an sich. Meine Schwestern und ich setzten uns auf sie. Wir hielten sie an Armen und Beinen fest, während sie lachte und mühsam versuchte, sich aufzurichten.

Manchmal ging es Irene gut, und sie legte die Nussknacker-Suite auf und wirbelte mit uns im Zimmer herum. In Zeiten wie diesen nahm sie auch meinen Vater in den Arm. Sie küsste sein Gesicht, seine Augenbrauen und seinen Mund. Sie tanzten zusammen einen Walzer. Dabei trat sie ihm ständig auf die Füße. Er zuckte die Achseln. »Das ist nicht das Ende der Welt«, meinte er.

Unsere Mutter schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie zu ihm, »das ist es nie.«

Als Tom zum ersten Mal vorbeikam, gab er uns die Hand. »Ihr seid also die Schrecklichen Drei«, sagte er und zwinkerte uns zu. Irene erzählte uns, er arbeite im selben Kaufhaus wie sie. Er war in der Freizeitabteilung. Als er zum zweiten Mal kam, brachte er drei Badmintonschläger und eine Schachtel voller Plastikfederbälle mit. Er und Irene setzten sich mit rosafarbenen kalten Getränken auf die Stufen. Wir schwangen die Schläger durch die Luft und schmetterten die Federbälle von einem Ende des Rasens zum anderen. Joanne, launisch wie immer, zielte mit einem durch den Reifen, der als unsere Schaukel fungierte. Ein anderer sauste über den Zaun und landete im Garten des Nachbarn.

»Kannst du nicht aufpassen!«, fragte Helen ungeduldig.

Tom stellte sich auf die Veranda und schwenkte die Arme. »Ich kann euch morgen noch welche mitbringen!«

Joanne kehrte ihm den Rücken zu und knallte einen Ball in die Hecke.

Danach steckte Helen den letzten verbliebenen Federball ein, und wir nahmen ihn mit in den Stauraum unter der Veranda, setzten ihn in einen Ziegelstein und bedeckten ihn mit Matsch, um ihn dann in der Nachmittagssonne rösten zu lassen. Durch die Dielenbretter über uns hörten wir Irenes Stimme, schüchtern lachend, und das lange Schweigen, das sich im Lauf des Nachmittags immer wieder breitmachte, unterbrochen vom Quietschen der Fliegengittertür, wenn sie zuschlug. Wir beobachteten, wie Tom wegfuhr und dabei die Hand aus dem Wagenfenster reckte, um uns zuzuwinken.

Unser Vater kam um sechs Uhr nach Hause. Helen berichtete ihm, dass die Fliegengittertür wieder mal geölt werden müsse, und er nahm uns, Öl an den Händen, mit hinaus. Er rieb die Metallspeiche mit dem Öl ein, so dass die Tür, als er sie aufriss, sich zwar ebenso langsam schloss wie eh und je, aber ohne ein Geräusch des Scharniers, nur mit dem leisen Klicken des einschnappenden Riegels.

Meine Schwestern und ich saßen mit ihm draußen; unsere nackten Beine baumelten zwischen den Verandastufen. Unser Vater zog ein Foto aus der Tasche. Er sei im Büro darauf gestoßen, erklärte er, auf ein Bild von der Main Street vor hundert Jahren. Auf dem Foto waren keine Autos zu sehen, nur breite Straßen, jedoch kein Beton, bloß gestampfte Erde, Frauen in langen Kleidern, deren Säume Staub aufwirbelten. Ich sagte zu meinem Vater, ich könne mir keine Straßen ohne Autos, Busse und so weiter vorstellen, wo stattdessen an den Ecken Pferde angeleint seien. »Das ist der Fortschritt, weißt du«, sagte er, »und der kommt, ob man ihn begrüßt oder nicht.«

Unser Vater legte das Foto hin. Er meinte, er könne sich auf die Hintertreppe stellen und auf den Garten starren, bis dieser verschwinde. Dann sehe er ganz deutlich das Haus vor sich, in dem er aufgewachsen war. Es stand in einem anderen Land, und er erinnerte sich an Felder, die in den Hang geschichtet waren. Dort konnte man alles Mögliche anbauen – Tee, Reis, Kaffeebohnen. Mir sollte das immer im Gedächtnis bleiben, weil er über diese Dinge noch nie zuvor geredet hatte. Als er jung war, wollte er Priester werden. Aber er kam nach Kanada und verliebte sich in unsere Mutter.

In jenem Sommer sonnten wir uns oft hinten im Garten. Helen packte dann immer den Schaukelreifen und schleuderte ihn von sich. Joanne und ich lagen rücklings auf dem Gras und kämpften gegen den Drang an zu blinzeln, wenn wir sahen, wie er auf uns zuschwang. Der Reifen sauste über uns hinweg, ein flüchtiger Geruch nach Gummi, dann blauer Himmel.

Auch an dem Tag, an dem Irene barfuß aus dem Haus gerannt kam, waren wir da. Sie trug ein weißes Kleid mit Blumenmuster, und ihr Haar, nass von der Dusche, hatte den Rücken durchnässt. Meine Schwestern und ich erhoben uns unsicher, als wir sie kommen sahen. Sie ergriff uns bei den Handgelenken und zerrte uns ins Haus und hinauf in ihr Schlafzimmer. Durchs Fenster sahen wir unseren Vater in die Gasse einbiegen und dann geradewegs hinten auf den Rasen fahren. Er stieg aus und vergaß, die Autotür zuzuknallen. Wir hörten, wie er die Treppe hochgelaufen kam. »Irene!«, schrie er. »Irene!«

Sie schaute uns an. »Tom wird gleich hier sein.«

»Irene!« Unser Vater hämmerte mit der Faust an die Tür. »Mach die verdammte Tür auf!«

Sie sah uns kopfschüttelnd an. »Er sollte es erst später erfahren«, sagte sie. Wir standen am Bett neben ihrem Gepäck, drei hellgrünen Schalenkoffern, die nebeneinander aufgereiht waren. Ich ging zu Irene und zog sie an den Armen, weil ich ihre Aufmerksamkeit wecken wollte. Sie schaute an mir vorbei, trat dann zur Tür, schloss sie auf, und unser Vater platzte herein und schwang die Arme. Er trug noch seine Arbeitskleidung, eine Anzughose und ein weißes Oberhemd. Wütend ging er auf Irene los. »Ich weiß Bescheid, ich wusste die ganze Zeit Bescheid! Hast du gedacht, ich wüsste es nicht?« Mein Vater boxte in die Schranktür, und das Holz splitterte. Dann drehte er sich um, packte die Gardinen und riss sie von der Stange, so dass sich der Stoff auf dem Fußboden bauschte. Wir hörten Reifen auf Kies, wandten uns um und sahen durchs Fenster, wie Toms Wagen am Bordstein hielt. Unser Vater sank weinend in sich zusammen. »Weißt du überhaupt, was ich aushalten musste? Was du dauernd angestellt hast? Dein verrücktes Gerede? Und das ist jetzt der Lohn?«

Irene verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf ihre Füße. Ich wäre gern zu meinem Vater gegangen, doch ich erkannte ihn kaum wieder. Sein Gesicht war rot und geschwollen, von Tränen gestreift. Wir hörten die Haustür aufgehen und Tom die Treppe heraufkommen. Wir alle lauschten und warteten, und dann war er da. Er hielt sich ganz aufrecht, schaute Irene an und trat ins Zimmer.

...


Carstens, Almuth
Almuth Carstens, 1948 in Kiel geboren, hat u. a. Soziologie studiert und lebte längere Zeit in Amerika. Sie ist Übersetzerin von u. a. Kathy Acker, Jane Rogers, Alice Sebold und Jeff Talarigo. Sie lebt heute in Berlin.

Thien, Madeleine
Madeleine Thien wurde 1974 in Vancouver, British Columbia, geboren. Ihre Eltern stammen aus Malaysia und China und emigrierten in den 1960ern nach Kanada. Als Kind begann Thien mit Ballett, Stepptanz und Akrobatik, später studierte sie Tanz, wechselte dann 1994 über zu Literatur. Ihr erstes Buch »Einfache Rezepte«, eine Sammlung von Kurzgeschichten, wurde mit vier kanadischen Literaturpreisen ausgezeichnet. Für ihren Roman »Flüchtige Seelen« erhielt Thien 2015 den LiBeraturpreis von Litprom. »Sag nicht, wir hätten gar nichts« kam 2016 auf die Shortlist des Man Booker Prize und wurde ausgezeichnet mit dem Governor General's Literary Award und dem Scotiabank Giller Prize, den höchsten Literaturpreisen Kanadas. Madeleine Thien lebt in Montreal.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.