Tingler Doktor Phil
1. Auflage, neue Ausgabe 2012
ISBN: 978-3-0369-9107-8
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 352 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-0369-9107-8
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Philipp Tingler studierte Wirtschaftswissenschaften und Philosophie an der Hochschule St. Gallen, der London School of Economics sowie der Universität Zürich und ist mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm bei Kein & Aber der Roman 'Rate, wer zum Essen bleibt' (2019). Er ist Kritiker im SRF-Literaturclub und im Literarischen Quartett des ZDF sowie Juror beim ORF-Bachmannpreis und der SRF-Bestenliste. Neben Belletristik und Sachbüchern ist er ausserdem bekannt durch das SRF-Format Steiner&Tingler und seine Essays u.a. in der Neuen Zürcher Zeitung und im Autokulturmagazin ramp.
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1. KAPITEL
Jeder kennt jeden
»Das darf doch nicht wahr sein!«, sagte Oskar gepresst. Und bei diesen Worten schien unsere kaum vierzigjährige Hauptfigur mit einem Mal ganz alt geworden zu sein; sogar Oskars Stimme hatte sich verwandelt, und zwar zu ihrem Nachteil, nämlich in eine Art hysterisches Krächzen. Obendrein sah er geradezu gebeugt aus.
»Es tut mir wirklich leid. Ich habs im Kühlschrank vergessen … in unserer Praxis am Flughafen«, erklärte Doktor Feingarten. Worauf eine Pause eintrat. Doktor Feingarten lächelte ein Arztlächeln. »Das ist überhaupt kein Problem«, stellte er fest und nahm einen Schluck Roederer Cristal, »ich kenne quasi den Botox-Oberverteiler von ganz Deutschland, es ist überhaupt kein Problem, morgen schnell die Dosis zu organisieren, und dann machen wir die Sitzung einfach bei Kitty zu Hause. Ich nehme an, alles andere käme Ihnen ungelegen?«
Die froissierte Miene Oskars machte eine Antwort überflüssig. Und Botox-Injektionen im Grunde ebenfalls. Allerdings konnte Oskar auch deswegen nicht mehr antworten, weil sich in diesem Moment jemand einmischte und nach seinem Befinden erkundigte. Es war eine Dame schwer bestimmbaren Alters mit teuer frisiertem, falschblondem Haar, einer Stumpfnase und einem selbstbräunerimprägnierten Silikondekolleté, das an zwei schlecht gewordene (und obendrein schlecht verpackte) Apfelsinen erinnerte. Oskar hatte nicht die geringste Ahnung, um wen es sich handelte, nicht zuletzt, weil es um ihn herum aussah, als wäre eine mit solchen Damen gefüllte Bombe explodiert: Die Gesellschaft, die ihn umgab, bestand augenblicklich zu einem überwiegenden Teil aus mageren, aschblonden, kunstbraunen, stupsnäsigen und kurzsichtigen Frauen in Chanel-Kostümen. Denn Oskar stand auf einem Stehempfang zur Feier des fünfzigsten Geburtstages des Bicolor-Schuhs bei Chanel am Kurfürstendamm in Berlin – ein Anlass, der, obschon er offenbar für gewisse Kreise eine gewisse Tragweite hatte, unserem Protagonisten bis vor kurzem noch unbekannt gewesen war. Er begleitete seine Tante Kitty, die wiederum ihre alte Freundin, Botschaftsrätin Bittenhumpler, begleitete.
Die blonde Dame sprach sehr leise. Wahrscheinlich drückte das Gewicht der Silikon-Kissen auf ihre Lungen. Oskar führte mit ihr fünf Minuten lang ein Gespräch von hoher Allgemeinheit über die faltenreduzierenden Vorzüge einer Tiefkühltherapie in der Slowakei (im Vergleich zu Kohlendioxid-Injektionen), und während er dieses Gespräch um des Gespräches willen unterhielt, betrachtete er mit seitwärts geneigtem Kopf die maskenhafte Starrheit des Gesichts der blonden Dame, das von Kälte und Fühllosigkeit wie von einer Kruste überzogen und von Weichheit, Träumerei und ähnlichen überholten Empfindungen nichts zu wissen schien.
»Jesus«, dachte Oskar, »ich bete, dass dieser Botox-Termin morgen zustande kommt.«
»Ich muss unbedingt mal ein Buch von Ihnen lesen, Herr Canow«, beabsichtigte die Dame, »alle hier sprechen über Ihren Essay in der letzten Ausgabe von Mode.«
»Ich bezweifle, dass sie irgendwas Längeres als eine Einladung lesen kann«, dachte Oskar, während er gleichzeitig sagte: »Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank. Ich bin normalerweise nur von weitem beliebt.«
»Sie sind zu bescheiden«, sprach die Dame.
»Das«, erwiderte Oskar, »ist ein Vorwurf, den ich selten höre.«
»Ich dagegen habe viel Gutes über Sie gehört«, fuhr die Dame etwas unlogisch fort und vollführte dazu eine leicht ungebärdige Bewegung, die Oskar vermutlich Wohlwollen bedeuten sollte. Dabei verbreitete sie alle Wohlgerüche Arabiens um sich.
»Wie«, erwiderte Oskar etwas zu schnell, »– von den Leuten hier?«
»Verzeihung«, sagte er anschließend in die darauf entstandene kleine Pause hinein, »das sind die Entzugserscheinungen. Ich bin dem Alkohol verfallen, und es dauert hier so lange, bis die Gläser nachgefüllt werden. Da habe ich mich mit irgendeiner Tablette beruhigt, die ich auf dem Boden gefunden habe, in der Nähe der Handtaschen dort hinten.«
Und Oskar hob wie zum Beweis sein fast leeres Glas in die Höhe. Das Glas wurde sofort von einem der livrierten Kellner wieder aufgefüllt.
»Entschuldigen Sie!«, verlangte die Dame und verschwand.
Nunmehr erschien Oskars Tante Kitty. Kitty war Nervenärztin und hatte für Umständlichkeiten gar kein Organ. In der Hand trug sie auf einem winzigen Teller ein noch winzigeres Amuse-Gueule in der Form einer kleinen Palme. Mit Kokosnüssen.
»Kitty«, sagte Oskar leise, »du wirst nicht glauben, was ich eben gehört habe.«
»Es wird wohl kaum unglaublicher sein als die Geschichte mit dem Nierenstein, die mir dieser Werbefritze da hinten gerade erzählt hat!«, erwiderte seine Tante. Worauf sie das Amuse-Gueule inspizierend in die Höhe hob und sagte: »Das hier soll Schwarzbrot sein. Ist das nicht zum Totlachen?«
»Feingarten hat das Botox vergessen«, flüsterte Oskar, »am Flughafen!«
»Ach du liebe Zeit«, zischelte Kitty, indem sie die kleine Palme verschlang, »ich denke, er nimmt das Zeug immer mit ins Handgepäck?«
»Wo ist eigentlich Lauren?«, erkundigte sich an dieser Stelle höflich die ebenfalls in der Nähe stehende Botschaftsrätin Bittenhumpler, denn in ihren Kreisen machte man Konversation auf Partys und flüsterte nicht. Die Botschaftsrätin war nicht nur eine treue Freundin von Kitty, sondern auch eine nicht weniger treue Kundin bei Chanel. Im Moment trug sie ein rahmfarbenes Kostüm mit abgesetzten Kragensäumen, das ihren sportlich ertüchtigten, ebengewachsenen Leib vorteilhaft umschloss.
»In Zürich geblieben«, antwortete Oskar. »Genauer gesagt: Sie ist nach Lech gegangen, zum Skifahren.«
Dabei dachte er daran, wie er mit Lauren über diese Einladung verhandelt hatte. Das war nichts Ungewöhnliches, denn Oskar und seine Ehefrau pflegten eine pragmatische Einstellung zu gesellschaftlichen Verpflichtungen und taten also das, was die meisten Paare in ihrer Sphäre taten: Sie handelten sie aus. Zum Beispiel sagte Oskar: »Ich habe hier eine Einladung zu einer Schiffstaufe, und die Tochter des Eigners war damals meine Tischdame bei dieser Gartenparty in Küsnacht, you know, bei diesen Leuten, die wir auf diesem Hochzeitsempfang im Palace in Gstaad kennengelernt haben, du weißt schon, Kleines, diese Hochzeit von Dings, so, anyhow, would you please come?«, worauf seine Gattin erwiderte: »No way!« Manchmal fügte Lauren auch noch etwas hinzu wie: »Lieber stelle ich mich in den Garten und starre mit offenen Augen in die Sonne!«
Es verhielt sich nämlich, wie der Leser an dieser Antwort wohl schon ablesen kann, so, dass Oskars Ehefrau eine eher desinteressierte, um nicht zu sagen: streng distanzierte Haltung einnahm zu all den Modenschauen, Geschäftseröffnungen, Botschaftsempfängen, Filmpremieren, Wohltätigkeitsauktionen und ähnlichen Veranstaltungen, die auf der Agenda ihres Ehemannes standen und deren Publikum Lauren mit der ihr eigenen Prägnanz üblicherweise charakterisierte als »die perfekte Kombination aus nervtötend und langweilig«. Tatsächlich war Laurens Abneigung gegen derartige gesellschaftliche Termine von verbietender Ausgesprochenheit, und Oskar kannte genau das verächtlich angewiderte und abwehrende Sichverziehen ihres Gesichts, wenn eine Verhandlung über dergleichen Pflichten auch nur im Anzuge war, begleitet von einem leisen, aber deutlich hörbaren Ausstoßen der Luft durch Mund und Nase bei gleichzeitigem Zurückwerfen des Kopfes, knapp, kühl und geringschätzig.
Die Kundschaft bei Chanel hatte Lauren in ebendieser Art schlankweg als »blondiertes Kobold-Universum« bezeichnet, und als Oskar trotzdem versucht war, seiner Gattin einen Fünfzehn-Minuten-Auftritt schmackhaft zu machen, hatte diese erwidert: »Sweetness, die Minuten werden mir dort wie Stunden vorkommen! Hours of boredom. Interrupted by moments of unbelievable horror. Nein, danke.«
Dergestalt war also Laurens Erwiderung ausgefallen, wobei sie, wie es besonders bei Erregung ihrer Art entsprach, gelegentlich in ihre Muttersprache zurückfiel. Lauren war Engländerin, doch darüber werden wir später mehr erfahren. Jetzt wenden wir uns erst einmal wieder Oskar zu, der sich seinerseits Doktor Feingarten zuwandte, um eine weitere Frage bezüglich des Botox-Vorfalls an ihn zu richten – aber Feingarten wurde just in diesem Moment von einer Dame mit französisch manikürten Fingernägeln in Beschlag genommen. Die Dame, die sich mit den Worten »Herr Doktor, verzeihen Sie die Störung!« in die Runde warf, hatte ihren Pelzmantel anbehalten.
»Als Schönheitschirurg ist man hier unglaublich gefragt«, stellte Oskar fest.
»Ja«, erwiderte...