Tiuraniemi | Frischluftvergiftung bei minus 20 Grad | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Tiuraniemi Frischluftvergiftung bei minus 20 Grad

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-423-43287-0
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-423-43287-0
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ein geteiltes LasterIm Auftrag seiner Mutter soll der ewige Student Miska sich um seine ältere Verwandte Birgitta kümmern, die beinamputiert im Pflegeheim liegt. Birgitta macht sich nicht viel aus Blumen und überredet Miska, ihr stattdessen Haschisch zu besorgen. Und auch die anderen Heimbewohner sehnen sich nach verbotenen Substanzen – wie z.B. Fleischwurst! Zwischen dem Einzelgänger Miska und der bärbeißigen Birgitta entsteht eine ungewöhnliche Freundschaft.

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1. Birgitta
Das »Pflegeheim Sonnenschein« leuchtete im sonnenbeschienenen Schnee. Man hätte fast auf den Gedanken kommen können, der Name würde genau darauf anspielen, aber mir war natürlich sofort klar, dass er allen weismachen sollte, hier wäre die Heiterkeit persönlich zu Hause. Stünde zum Mittagessen »Gärtnerschmaus« auf dem Speiseplan, läge auf dem Teller garantiert ein Haufen Tiefkühlgemüse, und mit der gleichen Logik schloss ich, dass trotz aller Bemühungen um Sonnenschein der Bewölkungsgrad hier nicht gerade unerheblich war. Das Pflegeheim war ein gelber, einstöckiger Ziegelbau, ziemlich deprimierend, und höchstwahrscheinlich hatte sich gleich nach Fertigstellung der Schimmel überall eingenistet. Ein schimmliges Gebäude zur Aufbewahrung von Leuten in schlechtem Zustand. Das alles ging mir durch den Kopf, während ich dastand und argwöhnisch das Bild betrachtete, das sich mir bot. Das Wintersonnenlicht potenzierte sich in den Schneewehen und ließ die Augen tränen, und mein gesamtes Selbstvertrauen hatte sich anscheinend in den Bieren vom Vorabend aufgelöst. Ich schob die Mütze an meiner schwitzigen Stirn hoch und runter und überlegte fieberhaft, wie ich mich halbwegs gesittet aus dem Staub machen konnte. Mir fiel nichts ein. Die Jalousien und rot-gelb-grün karierten Vorhänge hinter den blitzblanken Fenstern ließen ahnen: Man musste sich auf eine original Inneneinrichtung aus den achtziger bis neunziger Jahren gefasst machen, mit Plastikteppichen, dreibeinigen Alvar-Aalto-Hockern und dekorativer Kunst. Ich schüttelte mich beim Gedanken an die Mischung aus klinischem Krankenpflegegeruch und muffiger Hinfälligkeit, der da drinnen unvermeidlich umherwaberte. Klinische Muffigkeit. Ich wusste nicht, was schlimmer war, reingehen oder draußen in der stechenden Helligkeit stehen bleiben. Als ich näher kam, fiel mir auf, dass hinter den großen Fenstern neben der Eingangstür fünfzehn trübe, aber aufmerksame Augenpaare verfolgten, wie ich mir Gedanken über das Gebäude machte – die Bewohner des Pflegeheims. Da saßen sie im Speisesaal, mit winzigen Kaffeetassen in den zitternden Händchen, und schlugen die Zeit tot. Saßen da und hofften, dass etwas passieren würde. Das Geglotze setzte mir immerhin so zu, dass ich keine Lust mehr hatte, mit meinem Blumenstrauß in der Hand weiter dumm rumzustehen. Stattdessen ging ich mit gespielter Entschlossenheit auf die Eingangstür zu. Je schneller ich drin war, desto schneller wäre ich auch wieder draußen, versuchte ich mich aufzumuntern. So kriegte man es bestimmt im Logikkurs an der Uni beigebracht, nur dass ich es mal wieder nicht geschafft hatte, mich anzumelden. Aber Logik spielt in Pflegeheimen und deren direkter Umgebung keine Rolle. Dort steht die Zeit einfach still. Je schneller ich in eine andere Richtung gehen würde, desto wahrscheinlicher war es, dass ich nie ans Ziel käme, dachte ich. Aber ich handelte nicht danach. Sauber, aber leblos. Ich stellte mir den Staub vor, der unter Fußleisten und Möbeln herumlungerte. Das Foyer und die von ihm abgehenden Korridore waren wie eine Spinne mit langen Beinen. Durch die Glastür zum Speisesaal konnte ich die Horde hutzeliger Gestalten sehen, die immer noch am Tisch saßen und Stielaugen machten; als sie sich zu mir umdrehten, meinte man fast, ihre Wirbelsäulen knarzen zu hören. Am hinteren Ende des Speisesaals stand ein verlassener Verkaufstresen. Auch die Rezeption im Foyer sah verlassen aus, sie hatte überhaupt nichts Willkommenheißendes an sich, dort standen bloß eine Keramikvase, in der graue Trockenblumen vor sich hin dörrten, und ein paar angegrabbelte Broschüren. Eine jüngere Frau, ihrer Kleidung nach keine Heimbewohnerin, kam ins Foyer gelaufen. Auf ihrem weinroten T-Shirt feixte eine neongelbe Sonne, und darunter stand in Comicschrift »Pflegeheim Sonnenschein«. Das Namensschild machte einen offiziellen Eindruck. Also stakste ich heran und fragte noch im Gehen: »Hallo, wo finde ich denn Birgitta Kangas?« Die Frau blieb stehen und musterte mich misstrauisch. Das merkte man am Neigungswinkel ihres Kopfes und an ihrer leicht abgewandten Körperhaltung, aber es war auch in der Atmosphäre zwischen uns zu spüren. Peinlich berührt blieb ich ein paar Meter von ihr entfernt stehen. Eigentlich weiß man ja ganz gut, wer und wie man so ist als Mensch, aber manchmal, wenn man jemanden zum ersten Mal trifft, dann sieht man sich selbst auf einmal mit den Augen dieser anderen Person. Und dann ist es oft genug so, dass einem das, was man sieht, nicht gefällt. Ich sah, dass ich der Frau suspekt vorkam. Wahrscheinlich verdächtigte sie mich, ein junges, dürres Schlitzohr zu sein, das einen alten Verwandten besuchen kam, um sich irgendwie zu bereichern. Und ja, es ist bestimmt leichter, einem umnachteten Greis Medikamente zu mopsen, als eine Apotheke auszurauben. Folgendes wurde mir bewusst: Mein Bart war unordentlich, undefinierbare Haarsträhnen hingen unter der Mütze heraus, meine Jeans hatte ein Loch am Knie, unter der Winterjacke schlabberte der Saum einer verwaschenen Strickjacke herum, und meine Turnschuhe waren auch dreckig. Außerdem spürte ich, wie meine Poren das Gift von gestern ausdünsteten, und bekam Angst, ich könnte verdächtig riechen. Ich versuchte, etwas mehr Haltung anzunehmen, steckte die Hand in die Jackentasche und stieß auf eine Selbstgedrehte, die ich dort vergessen hatte. Ich rollte sie zwischen den Fingern hin und her wie einen Rosenkranz, um mich zu beruhigen. Ist schon komisch, da denkt man, man gehört mit seinem Look einer bestimmten Gruppe an, aber sobald man aus seinem persönlichen Kontext gerissen wird, begreift man plötzlich, dass dieser Look außerhalb der Gruppe oft einen völlig falschen Eindruck vermittelt. Outfitrassismus gibt es überall, und er fühlt sich nicht gut an. Wenn ich mich dazu durchringen würde, mich zu rasieren und eine ordentliche Hose anzuziehen, wenn ich mir die Haare kämmen und ein offenes Lächeln aufsetzen würde, dann würden viele Menschen deutlich anders auf mich reagieren, das war mir schon klar. Aber ich fand, das war nicht mein Problem, sondern das der anderen. »Hallo. Wer sind Sie denn?«, fragte die Frau. »Meine Mutter ist die Cousine von Birgitta«, sagte ich und setzte dabei meinen treuherzigsten Blick auf. »Ich soll sie besuchen, weil meine Mutter keine Zeit hat.« Ich wollte ihr vermitteln, dass ich nur der junge Bohemien bin, der eine Nachricht überbringt, mit ganz und gar reinem Herzen. »Ach so, na, das ist doch nett«, sagte die Frau und deutete ein Lächeln an, auch wenn ich den Eindruck hatte, dass es ihr ziemlich egal war. Sie zeigte in eins der Spinnenbeine. »Birgittas Zimmer ist am Ende des Ganges, die letzte Tür rechts, der Name steht dran. Da vorne an der Wand ist Desinfektionsmittel.« Zum Dank zog ich die Mundwinkel kurz hoch und stelzte zum Desinfektionsmittelspender. Ich pumpte so theatralisch viel heraus, dass es mir von den Handgelenken zu den Ellbogen herunterlief, und bog in den Korridor ein. Die Leuchtstoffröhren an der Decke strahlten dermaßen, dass kein einziges Eckchen unbeleuchtet blieb. Wahrscheinlich eine Frage der Sicherheit, aber von dem hellen Licht wurde mir schlecht. Vom Korridor gingen fünf Türen ab. Vier davon waren geschlossen, aber durch eine sah ich in ein Zimmer, in dem ein winziges Männlein im Rollstuhl saß und erwartungsvoll herauslinste. Ich nickte ihm zu. Das Männlein drohte mir mit der Faust und knurrte wie ein Tier. Oder hatte ich mich versehen und verhört? An der letzten Tür rechts stand auf einem Schild an der Wand der Name, den ich suchte. Ich hob die Faust, um anzuklopfen, und für eine Sekunde fiel mir der Gnom im Rollstuhl wieder ein, doch ich tat das Bild als Halluzination ab. Schließlich sieht der Mensch manchmal, was er sehen will. Andererseits weiß ich nicht, warum ich ausgerechnet ein Männlein mit erhobener Faust hätte sehen wollen. Doch das Knurren war ein echtes Knurren gewesen, es kam tief aus der Kehle, ein richtiges Kehlknurren. Schließlich schüttelte ich den Kopf und beschloss, dass es keine Rolle spielte, was das für ein Gnom gewesen war, und klopfte an. Schnell stopfte ich mir die Haare etwas ordentlicher unter die Mütze, zog die Hose hoch und wischte mir ein paar nicht vorhandene Staubkörnchen von der Jacke, als wäre so noch was zu retten. Aber wenn ich nun schon die mir bis dahin unbekannte Birgitta zum ersten Mal besuchte, war es doch wünschenswert, wenigstens in letzter Sekunde sein Bestes zu tun und in möglichst ordentlichem Zustand aufzulaufen. Auf mein Klopfen kam keine Antwort. Ich fragte mich, ob das der Moment war, in dem ich noch kehrtmachen und später sagen konnte, ich hätte mein Möglichstes getan, aber meine geneigte Gesellschaft sei ja nicht erwünscht gewesen. Ich würde die Blumen einfach an die Türklinke hängen und guten Gewissens nach Hause gehen. Aber nein, das war nicht der Moment. Natürlich nicht. Ich klopfte noch einmal, diesmal lauter. Jetzt war ganz eindeutig ein krächzender Laut zu hören. Ich räusperte mich, öffnete die Tür einen Spalt und lugte hinein. Das Zimmer lag im Halbdunkel, die Jalousien waren fast ganz geschlossen. Das meiste Licht kam von einem Fernseher, der von der Wand starrte und in dem ohne Ton irgendeine Daily Soap lief. Am Fenster ein Tisch und zwei Stühle, an der Wand eine Kommode und ein Schrank, eine Tür (höchstwahrscheinlich zum Badezimmer), ein hoher Nachttisch und daneben ein Krankenhausbett, in dem eine merkwürdig abgebrochene Gestalt lag. Zuerst wusste ich nicht, was mich irritierte, aber dann stellte ich fest, dass ihre Beine an den Knien einfach aufhörten. Die Beine, die sich unter der Decke abzeichneten, waren nicht komplett. Keine Zehen, keine Füße, keine...


Tiuraniemi, Siina
Siina Tiuraniemi (1979) wuchs im Norden Finnlands auf. Sie studierte Literatur in Oulu und später Kreatives Schreiben in Helsinki. Mit neun Jahren hat sie beschlossen, Schriftstellerin zu werden. Seither hat sie Bücher gelesen, lektoriert, sich ausgeliehen, archiviert, und jetzt hat sie eines geschrieben. Heute lebt sie in Helsinki und arbeitet in einer Bibliothek.

Siina Tiuraniemi (1979) wuchs im Norden Finnlands auf. Sie studierte Literatur in Oulu und später Kreatives Schreiben in Helsinki. Mit neun Jahren hat sie beschlossen, Schriftstellerin zu werden. Seither hat sie Bücher gelesen, lektoriert, sich ausgeliehen, archiviert, und jetzt hat sie eines geschrieben. Heute lebt sie in Helsinki und arbeitet in einer Bibliothek.



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