E-Book, Deutsch, 560 Seiten
Tobey Das Gottesspiel
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-24328-9
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 560 Seiten
ISBN: 978-3-641-24328-9
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Danny Tobey wurde in Texas geboren und besuchte das Harvard College, die Yale Law School und die University of Texas Southwestern Medical School. Er ist Experte auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz und wurde 2019 für seine Forschungen zu den gesetzlichen Grundlagen der KI mit dem Burton Award der Library of Congress ausgezeichnet.
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2
Die Vindicators
Nach einem langen Kampf gegen den Krebs, der den Rest der kleinen Familie – also Charlie und seinen Dad – fast zerstörte, starb Charlies Mom, als er fast siebzehn war. Der Anblick seines Vaters allein im Elternschlafzimmer, wie er das Gesicht in Moms altes Kopfkissen presste, war unerträglich. Deshalb traute Charlie seinen Augen kaum, als er eines Tages, für die Schule angezogen, nach unten kam und sah, wie sein Dad nach langer Zeit wieder das Frühstück machte. Auf dem Herd brutzelten Speck und Eier. Ein Stapel vor Butter triefender Pfannkuchen stand schon bereit.
Früher hatte Charlies Dad oft gekocht. Er war Buchhalter, aber seine Leidenschaft war das Kochen. Er hatte große Abendessen oder köstliche Frühstücke zubereitet, während Mom mit Charlie gespielt oder ihm, auf einen weichen Sessel gekuschelt, Geschichten vorgelesen hatte. Das hatte aufgehört, als sie krank geworden war.
Aber jetzt auf einmal, fast ein Jahr nach ihrem Tod, stand Dad am Herd, und der Duft von Pfannkuchen und Bacon wehte durch das Haus.
»Hast du Hunger?«, fragte Dad. Es klang freundlich, aber auch etwas zurückhaltend. Beinahe so, als probierte er zum ersten Mal ein neues Hemd an und wüsste noch nicht recht, ob die Leute über ihn lachen würden.
Charlie war hin- und hergerissen. Tief in ihm regte sich etwas – es war ein Lichtblick. Sein Vater hatte sich in den letzten beiden Jahren förmlich zerrissen und versucht, ihn vor allem abzuschirmen. Die Laborergebnisse, die Operationen, die Chemotherapie, die trügerischen Hoffnungen. Eine Zeit lang hatte es funktioniert, aber dann war sein Dad zusammengebrochen und seine Mom schon zu schwach. Von da an war niemand mehr da außer Charlie, um ihr die Haare aus dem Gesicht zu halten, während sie kotzte, oder ihr kühle Waschlappen für die Stirn zu bringen. Als er darüber nachdachte, erwachte wieder die alte Wut und fegte die Hoffnung weg. Eine Stimme in seinem Kopf sagte:
»Nein.« Charlie ging zur Tür und nahm seinen Rucksack vom Haken. »Ich habe keinen Hunger.« Er fühlte sich schrecklich, als er es sagte, aber zugleich auch ein wenig stärker in einer Welt, in der er keine Macht mehr besaß, oder jedenfalls nicht genug, um seine Mom zu retten oder sonst irgendetwas zu tun.
Als er sah, wie das Lächeln im Gesicht seines Vaters gefror – es war noch da, aber nicht mehr echt, sondern um Charlies willen gespielt –, brach ihm abermals das Herz. Es war zu spät, um noch etwas zu ändern, und er ging.
Charlie parkte auf dem Schülerparkplatz und ging durch die Cliquen von Sportskanonen und reichen Kindern, die überall herumhingen, an der Turnhalle vorbei, wo sich die Schüler vor der ersten Stunde drängten wie das Vieh im Pferch, und wandte sich zum Computerlabor im Keller. Dort waren seine wahren Freunde. Die kleine Gruppe kluger Außenseiter, die sich »die Vindicators« nannten.
Der Computerraum war die Schatzkammer der jungen Gamer und Technikfreaks. Sechzehn vernetzte Computer, an denen sie in der Mittagspause spielen konnten, ein 3D-Drucker, eine Robotikecke und eine Elektronikwerkbank. Charlie hatte die Gruppe im ersten Schuljahr gegründet, als er bemerkte, dass in der Mittagspause immer dieselben drei Schüler auftauchten, um das uralte zu spielen: Vanhi, Kenny und Alex. Er lud sie zu sich nach Hause ein, um zu sehen und etwas zu spielen. Nach einer ausgedehnten Nachtsitzung bei Kenny, die sie mit vielflächigen Würfeln und einem Tabletop-Spiel verbracht hatten, dachten sie sich ihren ersten Streich aus. Sie holten das Skelett aus dem Anatomieschrank, stellten es in der Cafeteria auf und hängten ein Schild daran: ICH HABE HIER GEGESSEN. Während sie mit übernächtigten Augen um sieben Uhr morgens lachten, sagte jemand: »Wir brauchen einen Namen.« Da sie nicht geschlafen hatten, sprangen alle sofort darauf an, auch wenn es lächerlich war. Das war ihnen egal.
»Wie wollen wir uns nennen?«, fragte Kenny.
»Es muss eine klare Kante haben, denn wir sind eine feste Gruppe«, meinte Charlie.
»Kämpferisch«, warf Vanhi ein. »Wir passen aufeinander auf.« Ihr Name bedeutete auf Hindi so viel wie »Feuer«, was sehr gut passte, weil sie bezaubernd und gütig war und einen messerscharfen Verstand besaß. Sie ließ sich von nichts und niemandem einschüchtern. Ja, sie war selbst kämpferisch.
»Wir gegen die ganze Welt«, ergänzte Kenny. »Einer für alle, alle für einen.«
Kenny stand ständig unter Strom. Er hatte sich bei den Landeswettbewerben als Cellist hervorgetan und war stellvertretender Chefredakteur der Schulzeitung. Seine Eltern waren Ärzte. Sie sagten ihm, die schwarze Hautfarbe sei ein Geschenk, das darin bestand, dass er für das gleiche Maß an Achtung doppelt so hart arbeiten musste. Die Vindicators waren das kleine Geheimnis, das er vor den Eltern und der Gemeinde verbarg, und ein Ventil, durch das er den Druck ablassen konnte.
»Die Zerstörer«, schlug Alex vor.
»Zu düster«, widersprach Charlie.
»Die Terminatoren!«, sagte Kenny.
»Meine Güte, wir sind doch keine Mörder.« Vanhi lachte.
Charlie schnippte mit den Fingern. »Die Vindicators.«
Das passte. Sie besiegelten den Pakt mit einem Schwur.
Nur Peter fügte sich nicht recht in ihre Kreise ein. Er war im zweiten Schuljahr mit seinem blonden Haar und den blitzenden blauen Augen gekommen, nachdem man ihn bei der St. Luke’s, einer exklusiven Privatschule in Austin, rausgeworfen hatte. Das FBI hatte ihn erwischt, nachdem er sich in das Netz von Telefongesellschaften gehackt und seinen Freunden kostenlose Handykonten verschafft hatte. Dank seines guten Aussehens und des Geldes hätte Peter eine Eliteuniversität besuchen und sich mit Kakihose und lachsfarbenem Hemd unter die Mitglieder der höchsten Kaste mischen können. Er war ein guter Läufer und kam mit den Sportskanonen zurecht. Dank seiner dunklen Seite verstand er sich auch mit den Emos und den Goths. Trotzdem trieb er sich lieber im Computerlabor herum. Die anderen Vindicators hätten es nicht offen zugegeben, aber insgeheim waren sie darüber sehr erfreut.
»Wo ist Alex?«, fragte Charlie, während er seinen Rucksack auf den Tisch stellte. Er wusste schon, wie die Antwort lauten würde.
»Er ist nicht da«, antwortete Vanhi.
»Schon wieder«, ergänzte Kenny.
»Vielleicht hat er neue Freunde gefunden«, meinte Peter gar nicht so unfreundlich. Nur Peter konnte sich Freundschaften außerhalb des sicheren Horts der Vindicators vorstellen.
»Ich habe ihn neulich allein bei den Fertigbauten sitzen sehen«, erklärte Charlie.
»Hm«, machte Vanhi. »Das gefällt mir nicht.«
Alex Dinh war auf jeden Fall ein komischer Kauz mit einer Haarsträhne vor den Augen und einem albernen Grinsen, das einerseits boshaft wirkte, andererseits aber immer so aussah, als wanderte er im Tagtraum durch eine andere Welt. Auf der Mittelschule war er stets abseits geblieben und hatte behauptet, er käme vom Mars. Im ersten Studienjahr war er ein schlaksiger Bursche mit leiser Stimme, der sich begeistert alle möglichen Streiche ausdachte. Damals waren sie alle liebenswerte Trottel gewesen – die Sargnägel, die die Lehrer mochten, weil sie im Grunde klug und gutherzig waren. Aber im Laufe der Zeit hatte Alex so langsam, dass sie es anfangs kaum bemerkten, einen anderen Weg beschritten. Einmal, als sie einen Laden verlassen wollten, rannte ihnen ein Wachmann hinterher. Sie waren verblüfft, als er sie anwies, die Taschen zu leeren – Diebstahl gehörte nicht gerade zum Repertoire der Vindicators –, aber tatsächlich, Alex hatte sich aus unerfindlichen Gründen ein Kartenspiel in die Tasche gesteckt. Wegen zwei Dollar und acht Cent musste er die Nacht in der Gefängniszelle verbringen. Seitdem war er erheblich quirliger, als hätte es ihm im Gefängnis gefallen.
»Gebt ihm etwas Raum«, schlug Kenny vor. »Vielleicht muss er mal allein sein.«
»Willst du ihn etwa nicht mehr in der Gruppe haben?«, fauchte Vanhi.
»Das habe ich nicht gesagt.« Dann aber klagte Kenny: »Seinetwegen wären wir beinahe alle verhaftet worden.«
»Genau deshalb braucht er uns jetzt«, gab Vanhi zurück. »Charlie, was meinst du?«
Charlie betrachtete die beiden, brachte aber kein Wort heraus, sondern zuckte nur mit den Achseln.
Gleich darauf ging die Tür des Computerlabors auf, und Alex kam herein. Er schien müde und hatte Ringe unter den Augen, die Haare waren noch stärker zerzaust als sonst. Das Gespräch brach ab, alle sahen ihn an.
»Was ist?« Seine Hand lag auf dem Rucksack, als wäre er nicht sicher, ob er überhaupt bleiben wollte.
»Nichts«, entgegnete Peter freundlich und rettete wie so oft die Situation. »Wir sitzen nur hier herum und spielen uns an den Schwänzen.«
»Ja«, meinte Vanhi sarkastisch. »Jedenfalls die Leute mit Schwänzen. Das ist die Tragik meines Lebens.«
Alex musterte sie skeptisch, stellte den Rucksack ab und ging zur hintersten Reihe der Terminals. Als die Glocke das erste Mal schellte, wurde Charlie bewusst, dass er die Matheaufgaben noch nicht erledigt hatte. Er fluchte leise.
Auf dem Weg nach draußen hielt Vanhi ihn am Arm fest. »Was ist nur los mit dir? Früher bist du sofort in die Luft gegangen, wenn jemand davon gesprochen hat, einen von uns rauszuwerfen.«
»Ich habe doch...